»In Niederösterreich ist die Welt noch in Ordnung«

Sonnentor-Gründer Johannes Gutmann erinnert sich an die oft zögerlichen Fortschritte in der Nachhaltigkeitsentwicklung im Waldviertel und in Niederösterreich – und sieht darin auch Vorteile. Ein Gespräch über die Biobewegung mit einem Insider.

Johannes Gutmann im Jahr 1986. Bild: Sonnentor.

BIORAMA: Was war Ihr »Vorher«? Wie haben Sie Niederösterreich als Umfeld erlebt, als junger Bürger?

Johannes Gutmann: Ich bin auf einem kleinen Bauernhof im Waldviertel aufgewachsen. Die Gegend war kleinsträumig strukturiert und wir waren weit weg von großen Städten, es gab keine asphaltierten Straßen im Dorf und auch nicht in der größten Stadt der Umgebung – Zwettl, in der war ich zum ersten Mal im Alter von vier Jahren. Unsere Landschaft war von birnbaumgesäumten Landstraßen geprägt, das war eigentlich ganz schön. 1965, als mein Bruder vier war und ich geboren wurde, hat mein Vater den ersten Traktor angeschafft, vorher wurde alles mit dem Pferd erledigt auf dem Bauernhof. So hat das Landleben ausgesehen, wir kannten aber nichts anderes und insofern war das ein sehr gutes Leben. Wenn mehr Dinge so geblieben wären, wären wir heute noch weiter vorne. Ich sag immer: Im Waldviertel sind wir nicht so weit vorn, deswegen haben wir nicht so weit zurück.

Hatten Natur und Nachhaltigkeit einen großen Stellenwert? War es woanders anders als in Niederösterreich?

Bei uns hat sich vieles abgespielt, das die WienerInnen ausgebrütet haben.

Johannes Gutmann

Niederösterreich hatte und hat durch die Kleinräumigkeit gute Grundbedingungen für nachhaltiges Wirtschaften. Natürlich auch mit Wien im Herzen. Wir haben vieles hier: Wasser, 60 Prozent des Gebietes sind noch bewaldet, davon leider bereits einiges in Monokultur, aber auch einiges an ursprünglichem Wald.

Wir haben zwar einmal versucht, viel Auwald für eine Elektrifizierung umzuhacken (in der Hainburger Au 1984, Anm.), die wir so nicht gebraucht haben. In Niederösterreich steht auch das einzige Atomkraftwerk, das glücklicherweise nie in Betrieb genommen wurde. Bei uns hat sich vieles abgespielt, das die WienerInnen ausgebrütet haben, die gemeint haben: Das brauchen wir jetzt, aber in der Stadt wollen wir es nicht. Weil da leben dann doch viele Leute, und wenn da was ist … Aber egal: Die Landeshauptstadt Niederösterreichs ist ja erst in den 80er-Jahren von der Wiener Herrengasse nach St. Pölten gewandert.

Auch in der Versorgung stehen wir gut da. Wir haben in NÖ viel Landwirtschaft, nicht nur im Tullnerfeld, sondern auch im Marchfeld mit seinem intensivsten Gemüseanbau bis hin zu naturnahen voralpinen Weiden. In Niederösterreich, denk ich, ist die Welt noch in Ordnung. Na ja, beim Wein muss man noch reden, da wird ein bisschen zu viel gespritzt. Aber da gibt es Fortschritte, die besten WinzerInnen sind inzwischen BiowinzerInnen geworden und tragen sehr stark hinaus, dass Bio die Zukunft ist, und prägen das Bundesland entsprechend.

Bedeutet ein Zurück in die 60er-Jahre wirklich den Weg zu mehr Nachhaltigkeit?

Das ist zu romantisch. Was grundsätzlich daran stimmt, ist, dass es sich früher ausgegangen ist mit der Bodenfruchtbarkeit. Der Betrieb meiner Eltern war kein Biobetrieb, aber mein Vater hat immer nur ein Fünftel der empfohlenen Dosis von der giftigen Chemie (meint chemisch-synthetische Pflanzenschutzmittel und Kunstdünger, Anm.) genommen, einfach weil er das Gefühl hatte, das muss reichen.

Niederösterreich bietet ein gutes Umfeld, um so aufzuwachsen, dass man lernt, was man braucht und was nicht. Selbstversorgung mit Lebensmitteln war bei uns selbstverständlich, ich habe im elterlichen Garten viel Beikraut geerntet und so zur Versorgung mit Gemüse beigetragen.

Aber der Einsatz von Pferden statt Maschinen würde sich einfach nicht mehr ausgehen. Weil Arbeitskräfte teuer sind – und die EU und die österreichische Politik haben auch dafür gesorgt, dass durch die Flächenprämien nicht die eingesetzte Arbeitskraft und auch nicht mehr unbedingt der Output belohnt wird, sondern in erster Linie die Fläche. Da fallen halt jene, die viel Fläche besitzen, eher auf die Butterseite. Wir wissen, dass die LandwirtInnen teilweise mit ihren Produkten draufzahlen und sie nur machen, weil sie eh die Flächenprämie kriegen.

Das heißt, die Politik zur Förderung von Landwirtschaft hat dazu geführt, dass sich landwirtschaftliche Arbeit nicht mehr lohnt?

Heute werden etwa 10 Prozent des Einkommens für Lebensmittel ausgegeben, in den 70er-Jahren waren es noch rund 30 Prozent. Solange man es sich leisten kann, mit öffentlichem Geld so umzugehen, braucht man sich nicht wundern, wenn Lebensmittel dann weggeworfen werden. Wenn ein Schweinebauer schlechter aussteigt, wenn er ein Schwein mästet, als wenn er gar nichts macht, fördert man das Falsche.

Johannes Gutmann hat 1988 Sonnentor als Ein-Mann-Kräuterhandel gegründet. Im Geschäftsjahr 2020/21 hat Sonnentor 60 Millionen Euro umgesetzt und 360 MitarbeiterInnen beschäftigt.

Das steht den vertretenen Interessen der niederösterreichischen Landwirtschaft entgegen?

Das steht der Nachhaltigkeit entgegen. Die niederösterreichische Landwirtschaft wird ja maßgeblich von der Agrarpolitik geformt – durch eine starke Vertretung der Landwirtschaft in der Landespolitik. Wir leben hier im »Schwarzen Meer« und da wird Hergebrachtes, der agrarpolitische Mainstream, umgesetzt. Punkt. Nicht nur in Niederösterreich, sondern generell in der Agrarpolitik. Bio ist, ja … manchmal nett, wenn man sich das Fähnchen eines verhältnismäßig hohen Bioanteils an den Hut stecken kann. Wirklicher politischer Glauben wird dem nicht geschenkt. Die Biobauern und -bäuerinnen sind die UnruhestifterInnen mit lästigen Ideen und damit werden sie – auch wir als Sonnentor – in ein unbequemes Eck gestellt. Wir sind immer die BesserwisserInnen.

Aber immer, wenn eine Krise kommt – egal ob das nun die explodierenden Energie- oder Kunstdüngerpreise sind –, zeigt sie, wie angreifbar das heutige Agrarsystem ist und wie resilient die Biolandwirtschaft ist, die auf gute Böden setzt und diese aufgebaut hat. Wir sind jetzt unabhängig. Bei den anderen fallen wieder ein paar zam wie die leeren Kartoffelsäcke.

Waren Sie als Erwachsener immer schon umwelt- und klimabewegt oder erinnern Sie sich an eine Initialzündung?

Es gab natürlich zwei Initialzündungen. Meiner Mutter war wichtig, dass ich zu Mittag und am Abend z’haus bin, aber sie hat mich nicht aufs Feld geschickt, ich konnte mich ansonsten meiner Freiheit widmen, war viel im Wald und mit dem Rad in der Natur unterwegs, habe gezeichnet. Ich hab auch als Kind schon ein bissl anders gedacht, war eigenständig unterwegs und als dann der Präsenzdienst nahte, habe ich einen Antrag abgegeben, dass ich Zivildienst leisten möchte und keinen Dienst an der Waffe. Ein Bekannter aus Allentsteig hatte mir erzählt: Die Zeit beim Bundesheer verbringt man nicht sinnvoll. Ich wollte die Zeit aber sinnvoll verbringen. Daraufhin war ich einer der Letzten, die noch bei der Stellungskommission – das war eine peinliche Art von Befragung durch eine Kommission des Bundesheeres – vorsprechen mussten. Die hat mich wirklich tiefgründig befragt – und meine Beweggründe nicht anerkannt, mich daraufhin im Gegensatz zu meinen Freunden nicht nach Allentsteig, sondern in die Kaserne nach Groß-Enzersdorf geschickt.

Weil ich einen Servierkurs absolviert hatte, durfte ich als Kellner in der Offizierskantine die Offiziere und Gäste bedienen. Das war im Winter 1984, als die Besetzung der Hainburger Au begonnen hatte, da waren viele Polizeioffiziere und leitendes Personal des in Hainburg eingesetzten Bundesheeres zur Verpflegung untergebracht. Und weil ich die bedienen durfte, hab ich auch mitbekommen, was dort gesprochen wurde – von »Owaschneiden von de Bam!« und »Des Gsindl, de verjog ma olle!«. Da war ich 19 und dachte mir: Das ist eigentlich schon schlimm. Unter ihnen gab’s natürlich noch viele, die den letzten Weltkrieg miterlebt haben. Aber wie da über die Umweltbewegung gesprochen wurde, über diese armen Hunde, die sich für die Umwelt einsetzten, war letztklassig.

Mein zweites zentrales Erlebnis war ein Jahr später meine erste Begegnung mit einem Biobauern, als es die ersten im Waldviertel gab. Aus Neugier hab ich den auf einem Bauernmarkt angesprochen. Die haben schon noch anders ausgeschaut, manche sind wirklich mit dreckigen Füßen dahergekommen. Und die haben halt erzählt, wie sie merken, ob ein Boden gesund ist. Wie sie das bodenchromatisch aufarbeiten, wie sie sehen, ob in einer Bodenprobe überhaupt noch was lebt: Dazu hat man ganz einfach eine mit Wasser verdünnte Bodenprobe auf einem Blatt Löschpapier verteilt. Unserer war verdichtet und nicht mehr sehr lebendig. Die haben mir aber genauso einfach erklärt, was man tun muss, um einen Boden wieder in den Kreislauf zu bringen – über Fruchtfolge und Humusaufbau. Und: Man kann den Boden nur dann langfristig verwenden, wenn man ihn auch füttert. Er gibt uns was und wir müssen ihm irgendwas zurückgeben.

Hat sich das persönliche Erleben widergespiegelt in einer breiteren gesellschaftlichen Veränderung?

Ja! Mitte der 80er-Jahre gab’s rund 150 Biobauern in Niederösterreich. Das hat mich überrascht, denn als das bestimmende Agrarland Österreichs zeigt Niederösterreich schon auch, wohin es geht. Und da sind die ersten Betriebe auf Bio umgestiegen, die Landwirtschaftskammer hat das auch unterstützt, und 1989 gab’s dann im Lebensmittelkodex in Österreich die erste Verankerung von Bio – weltweit eigentlich. Als ich mich selbstständig gemacht habe, war ich von Bio begeistert und es war klar, dass ich nur mit Biobäuerinnen und Biobauern zusammenarbeite.

Hat dieser Anschein von Bewegung zum Teil getäuscht? Welche Momente haben Sie in dieser Hinsicht als Rückschläge erlebt?

Jeder hat gesagt, dort wirst du dir den Kopf anstoßen. Aber diese Hindernisse zeigen ja auch, ob ich reif bin für die nächste Gabelung. Wege müssen mit Rückschlägen gepflastert sein. Wert hat das, wo man kreativ sein muss.

Sind wir als Gesellschaft so kreativ?

Nein. Die Gesellschaft ist verwöhnt und fett. Ich sollte schauen, dass das, was mich fett gemacht hat, zumindest bestehen bleibt. Dazu gibt’s halt auch mal karge Tage, analog zur Fastenzeit. Wir müssen nach den fetten Jahren wieder auf einen gesunden Weg kommen. Das heißt nicht Verzicht, sondern Konzentration aufs Wesentliche. Dazu muss man halt Veränderungen zulassen.

Wo steht man derzeit zu sehr auf der Bremse?

Wir in Niederösterreich versuchen oft, uns politisch besser darzustellen, als wir sind. Es gibt die großen Donaukraftwerke, viel erneuerbare Energie. Aber wir haben so viele Dächer, die nach Photovoltaikanlagen schreien. Jetzt wird darüber nachgedacht, sie auf Feldern zu installieren. Aber mit der ungenutzten Dachfläche würden wir mehr als auskommen.

Wie stehen wir denn da?

Wenn wir unsere Klimaziele nicht erreichen werden, wird der Huat brennat werden. Das wird schnell teuer und tut dann doppelt weh.

Johannes Gutmann

Nicht nur bei Erdgas und Erdöl sind wir zu abhängig, das können wir ändern. Im Biobereich hat man 15–20 Prozent weniger Ertrag – nicht bei allen Kulturen, aber bei den meisten. Jetzt wird schon geschrien, wir können uns nicht mehr ernähren. Das wird von Spritzmittelkonzernen und von der Agrarpolitik behauptet. Das ist kompletter Blödsinn! Da frag ich mich schon, wie lang es noch dauert, bis es auch diese Leute verstehen.

Die Veränderung muss offensichtlich – und wird auch – aus der Gesellschaft kommen. In Niederösterreich sind wir da eh schlagkräftig. Manchmal steht das BeamtInnentum hier auch der schöpferischen Freiheit entgegen und versucht, zu begrenzen. Da muss man dann auf einen anderen Weg ausweichen, oder drüberhüpfen.

Hat sich die Umweltbewegung in NÖ und darüber hinaus in den 80ern und 90ern für das engagiert, was heute unter Nachhaltigkeit verstanden wird?

Sicher! Das waren die ersten WissenschaftlerInnen und KünstlerInnen, die sich dafür eingesetzt haben. Die hatten dabei persönlich nichts zu gewinnen oder zu verlieren. Es gibt immer solche Freigeister, die sich das erlauben können. Das waren InitiatorInnen, denen wir heute dankbar sein müssen und ihr Erbe lebt weiter. Auch wenn immer wieder wer kommt, der meint, das muss weg. Aber die anderen werden mehr, nicht zuletzt, weil sie von den großen Krisen getrieben werden. Wenn wir unsere Klimaziele nicht erreichen werden, wird der Huat brennat werden. Das wird schnell teuer und tut dann doppelt weh.

Sonnentor betont das Arbeiten mit Freude. Wird alles, was wir zur Klimawende beitragen, Freude bereiten?

Nein, ganz bestimmt nicht. Aber wenn wir’s geschafft haben, werden wir sehen, dass es uns Freude bereitet. Jede Veränderung, jedes Tun, das wir nicht gewohnt sind, tut im ersten Moment ein bisschen weh. Aber wenn man sich auf was Neues einlässt – das checken leider nicht so viele – und der Turnaround geschafft ist, sind wir wieder auf dem Weg der Freude. Jetzt wird schon drüber nachgedacht, ob nicht Hinten das neue Vorne ist. Ich hab’s ja mit meiner altbackenen Herangehensweise versucht, Kredit nicht ohne 50 Prozent Eigenkapital aufzunehmen, und mich auch unternehmerisch nie abhängig gemacht.

Traut sich noch wer, Sie zu fragen, wozu es ein Biozertifikat braucht? Hat sich Ihre Antwort über die Jahre verändert?

Aber natürlich. Es gibt noch viele Ewiggestrige, die glauben, dass die Biobäuerinnen und -bauern in der Nacht spritzen. Das ist eingeprägt und die dazu passenden Phrasen werden auch politisch weiter gedroschen. Deswegen freu ich mich über die Fragen und antworte: Bio ist real und hat heute Gesetzesstatus, dem man sich beugen muss.

Bis wir Teil der EU waren, gab es diese strenge Biozertifizierung bei uns nicht, sondern nur Stichproben. Als ich vor dem EU-Beitritt die erste Biokontrolle zur Vorbereitung auf den Beitritt hatte, habe ich gestaunt, was da alles kontrolliert wird. Da haben auch einige den Weg verlassen, die’s nicht so genau nehmen. Und das ist auch gut so.

Die Allianz zum Engagement für enkeltaugliches Österreich wird breiter. Gehört das inzwischen zum guten Ton?

Der gute Ton kann sich morgen schon ändern. Aber wer es so meint und morgen auch noch so wirtschaften will, bleibt dabei.

Gutmann will Kreislaufdenken und Wertschätzung gegenüber Mensch und Natur an seine Kinder weitergeben. Im Bild mit Tochter Leea, 2018. Bild: Sonnnentor.

Wie erkennen wir, wer es ernst meint – und ob wir selbst zu wenig tun?

Im Prinzip weiß man das sehr schnell. Indem ich so wenig wie möglich wegschmeiße. Wenn ich im Kreislauf denke und auch handle. Wenn ich wenig Fleisch esse und nicht irgendeines. Wenn ich nicht alle paar Wochen wieder neue Jeans oder T-Shirts brauche, sondern einen Kleiderkasten habe, der so groß ist wie der, der davorsteht. Wenn ich ein Klimaticket in der Hand hab und mir dann überlege, ob ich unbedingt ein neues Auto brauche. Indem ich schaue, dass das, was ich brauche, verträglich besorgt wird. Wenn ich auch mit meinen Kindern so umgehe, wie ich selbst gerne behandelt worden wäre. Und denen nicht einfach nur ein Handy in die Hand drücke und sage: Spü di!

Habe ich was Wichtiges vergessen?

Wenn Sie glücklich sind, bin ich auch glücklich, weil ich bin sowieso
glücklich!

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