Die Wildnis ist zurück

Die Rückkehr des Wolfs in den deutschsprachigen Raum interessiert Menschen aus aller Welt. Citizen Science bringt sie auf seine Fährte.

 

Angestrengt schaut Peter Schütte, seines Zeichens Wolfsberater, in den Sand der Lüneburger Heide. Sachte umfahren seine Finger die Spur im Sand. Ein, zwei, drei, viele Trittsiegel, gestempelt in die feuchten Körner. Deutliche Hinweise auf ein sonst fast unsichtbares Wesen – scheu, vorsichtig, den Menschen meidend. „Das waren vier“, murmelt Schütte schließlich, „zwei Erwachsene und zwei Jungtiere, entspannt laufend in diese Richtung“. Vier Blicke folgen seinem ausgestreckten Arm in die Heide. Vier Blicke aus vier Kontinenten. Vier Blicke die hier sind, weil der Wolf, und mit ihm der Hauch der Wildnis, zurück in Mitteleuropa sind.

Julia aus Wien; Rasha aus Australien, Rechtsanwältin einer Naturschutzorganisation aus Melbourne; Brian aus Kanada, der „Glasfaserkabelmann“ aus Vancouver, wie er sich selbst nennt; Lalitha aus Indien, Lehrerin aus Mussoorie. Alle hier, um Schütte zu helfen, Wildnis zu erhalten – oder wieder zu erhalten, denn vor 150 bis 200 Jahren rotteten die Menschen den Wolf in Mitteleuropa aus. Nun kehrt er seit geraumer Zeit zurück – nach Österreich seit 2009 – und sein Schutz ist in der EU gesetzlich verankert. Er dringt, vor allem im ländlichen Raum, immer weiter vor.

Zuwanderung aus dem Osten

Rund um das Jahr 2000 begannen Wölfe über Polen bis in den Westen Deutschlands zurückzukehren. Im Jahr 2006 hatten sie Niedersachsen, und damit Schüttes Einsatzgebiet, erreicht. Und jetzt ziehen sie Menschen aus der ganzen Welt an, denn die gemeinnützige Naturschutzorganisation Biosphere Expeditions hat jüngst ein Wolfsprojekt in Zusammenarbeit mit dem niedersächsischen Wolfsbüro im NLWKN (Niedersächsischer Landesbetrieb für Wasserwirtschaft, Küsten- und Naturschutz) ins Leben gerufen. „Schon auf der Warteliste waren über 100 Personen“, berichtet Dr. Matthias Hammer, Gründer und Geschäftsführer von Biosphere Expeditions, „und als wir den Startschuss gaben, waren zwei Gruppen innerhalb von 24 Stunden ausgebucht.“

Das Projekt ist offen für jedermann/-frau, es gibt keine Altersbeschränkungen und es sind keine besonderen Fähigkeiten erforderlich. „Bürgerwissenschaft“ (engl. „citizen science“) nennt sich dieses eindrucksvolle Konzept, erprobt seit Jahrzehnten im angelsächsischen Raum; bei uns noch relativ neu, aber stark auf dem Vormarsch. Die Expeditionsteilnehmer werden im Rahmen des Projekts geschult, zum Beispiel im Erkennen von Spuren oder im Gebrauch eines GPS-Geräts. Einmal als „Bürgerwissenschaftler“ ausgebildet, unterstützen die Teilnehmer das Wolfsbüro und das Netzwerk der ehrenamtlichen Wolfsberater über einige Wochen im Jahr hinweg, wertvolle Felddaten über die niedersächsische Wolfspopulation zu sammeln.

„Ich freue mich sehr, dass das Projekt so einen guten Start hingelegt hat“, sagt Wolfsberater Peter Schütte. „Mit Menschen aus Deutschland, sicher vielleicht auch aus anderen Teilen Europas, habe ich gerechnet, aber nicht mit den Anmeldungen aus den USA, Kanada und sogar Indien, Singapur und Australien, die alle mithelfen wollen, Daten über Wölfe zu sammeln. Es ist überraschend und ermutigend zugleich zu sehen, wie viel Unterstützung es weltweit für die Rückkehr der Wölfe nach Deutschland zu geben scheint und wie Menschen bereit sind, ihre Zeit und ihr Geld zu investieren, um uns hier in Niedersachsen zu helfen.“

Akzeptanz ist entscheidend

In Deutschland und anderswo in der Kulturlandschaft Europas hängt das Überleben des Wolfs „hauptsächlich von der Akzeptanz in der Bevölkerung ab“, so Schütte. Und der Wolf ist nicht immer gern gesehen. In der Tat reagiert zum Beispiel der WWF in Österreich mehr als deutlich auf die von der Jägerschaft wiederholt ins Spiel gebrachten Abschüsse von Wölfen. Es sei nicht nur ein Skandal, dass Teile der Jägerschaft offen für den Abschuss von geschützten Wildtieren werben, wer das mache, sei mit dem Straf-, Jagd- und Naturschutzgesetz konfrontiert und bewegte sich hart an der Grenze der Legalität. Die Abschussfantasien bedeuteten für den WWF eine Überschreitung der Kompetenzen von Seiten der Jägerfunktionäre. „Die fortgesetzte Hetze gegen den Wolf muss sofort aufhören, sie ist kontraproduktiv und hilft nicht dabei, angemessene Lösungen zu erarbeiten. Der WWF wird der Entwicklung eines weiter um sich greifenden Rufes nach der Flinte jedenfalls nicht tatenlos zusehen“, so Christian Pichler, Artenschutz-Experte des WWF Österreich.

Deutliche Worte, vorallem vor dem Hintergrund, dass sich Anfang der 1970er-Jahre nur kühnste Naturschützer vorstellen konnten, dass Mittel- und Westeuropa wieder von großen Beutegreifern besiedelt werden könnte. Trotzdem begannen damals einige Visionäre an der Verwirklichung der Utopie zu arbeiten. An Wölfe oder Bären war damals noch nicht zu denken. Aber mit dem Kleinsten der Großen Drei, dem Luchs, wollte man beginnen. So kam es zu den ersten Auswilderungsaktionen in Österreich der Schweiz und Deutschland. Der Wolf indes brauchte keine menschliche Auswilderungs-Hilfe, ausser vielleicht den Wegfall des Eisernen Vorhangs vor gut dreißig Jahren. Wildnis braucht der Wolf auch nicht. Er ist höchst anpassungsfähig und in der Lage, in einer vom Menschen dominierten Kulturlandschaft zurechtzukommen, solange er genug Beutetiere – Rehe, Hirsche, Wildschweine – findet und in Ruhe gelassen wird. Aber spätestens wenn tote Schafe auf der Weide liegen, ist die Willkommensfreude bei den Menschen getrübt. „Die Ausbreitung des Wolfes bedeutet, dass die Bedrohung durch den tatsächlichen und subjektiv empfundenen Konflikt mit Menschen, Vieh und Wildarten immer größer wird. Dadurch entsteht die Notwendigkeit von Information der lokalen Bevölkerung auf Grundlage einer soliden Datenbasis“, sagt Schütte. „Je mehr Wölfe in der Natur von Menschen gesehen und je mehr Nutztiere gerissen werden, desto höher wird die Berichterstattung in den Medien. Dies hat zu einer messbaren Abnahme der Akzeptanz von Wölfen bei der Bevölkerung vor Ort geführt, vor allem bei Jägern und Tierhalten. Und gerade diese Menschen spielen eine entscheidende Rolle für das Überleben der Wölfe.“

Hammer nickt. „Es war schon unverschämt und peinlich zugleich wie unsere Expedition emotionsgeladen angefeindet wurde, vor allem von Jägern, die versuchten alle möglichen Schauer- und Lügengeschichten über unsere Arbeit hier zu verbreiten und uns zu diskreditieren. Stattdessen sollten wir ruhig, kooperativ und basierend auf belastbaren Fakten, unsere Energie darauf verwenden, alle an einem Strang zu ziehen. Denn das Interesse an einem möglichst konfliktfreien Nebeneinander von Mensch und Wolf verbindet ja sogar Jäger und Naturschützer“. Allerdings seien Abschussgelüste weder akzeptabel, noch nützlich, da biologisch sinnlos – „das Territorium eines erschossenen Wolfs ist keine Lösung, denn ein anderer Wolf besetzt es einfach wieder. Dagegen sind Herdenschutzmassnahmen effektiv und mitunter auch Kompensationsprogramme, wenn sie anständig finanziert sind“, so Hammer.

„Bei der Rückkehr des Wolfs sind Zyklen zu beobachten“, beschreibt Hammer weiter. Zuerst wird meist wild und emotionsgeladen diskutiert. Darauf folgt eine Beruhigungsphase und der Rückkehr zur Sachlichkeit, wenigstens bei den meisten. Sobald man dann merkt, dass der verteufelte Wolf doch nicht blutrünstig sämtliche Weidetiere auffrisst“, setzt eine Phase der Lösungsfindung und des Arrangierens mit dem Wolf ein. Dabei hängen die Lösungsansätze sehr deutlich vom politischen Umfeld und der Lobbyismus-Stärke der Jäger ab. „Die Lösungen – und davon gibt es viele – sind dabei so unterschiedlich wie die politischen Landschaften“, erklärt Hammer.

Steckbrief Wolf

Canis lupus, ca. 50 kg (Weibchen deutlich leichter), lebt in „Rudel“ genannten Familien und kann so relativ große Tiere wie Hirsche oder Wildschweine erbeuten. Nach Ausrottung bis ins 20. Jahrhundert hinein waren Mittel- und Westeuropa nahezu wolfsfrei, derzeit wieder etwa 12.000 Wölfe in 28 Ländern Europas. Um die 40 Wolfsrudel sind in Deutschland belegt sowie eine Gruppe in Österreich.

Biosphere Expeditions

Biosphere Expeditions ist eine gemeinnützige, mehrfach ausgezeichnete Naturschutzorganisation und Mitglied des IUCN (International Union for the Conservation of Nature) und Umweltprogrammes der UN. Bei ihr arbeiten freiwillige Helfer aus aller Welt arbeiten Hand in Hand mit Feldforschern und den Menschen vor Ort für den Erhalt der Artenvielfalt. Die nächste Wolfs-Expedition in Niedersachsen findet von Juni bis Juli 2017 statt, Gruppenlänge jeweils eine Woche.

 


Schon an dieser und dieser Stelle haben wir uns bei BIORAMA mit Wölfen und Citizen Science beschäftigt.

BIORAMA #51

Dieser Artikel ist im BIORAMA #51 erschienen

Biorama abonnieren

VERWANDTE ARTIKEL