Eine Frage der Haltung

Tierwohl auf dem Prüfstand.

Bild: Istock/Patrick Daxenbichler.

Das Wohl der Tiere ist in aller Munde. Nicht unbedingt buchstäblich, wie wir sehen werden, aber als Wunsch und Vorstellung allemal. »Tierwohl« ist uns Konsumentinnen und Konsumenten ein Anliegen. Die Zeichen, an denen wir das erkennen, sind vielfältig: ein Aufblühen diverser Initiativen samt zugehörigen Siegeln, Marken und Zeichen, ganzseitige Inserate in deutschen und österreichischen Tages- und Wochenzeitungen der großen Konzerne. In der »Zeit« werben Aldi und Aldi Süd mit dem Hashtag »Haltungswechsel« und prophezeien, dass sie bis 2030 das gesamte Fleischangebot auf tierwohlgerechte Haltungsformen umgestellt haben werden. Gleichzeitig nimmt Aldi Billigfleisch aus dem Sortiment, um LandwirtInnen und KonsumentInnen für das Thema zu sensibilisieren. Dazu kommen Studien von Markt- und Meinungsforschungsinstituten, die, im Detail zwar leicht voneinander abweichend, im Trend aber zu stets den gleichen Ergebnissen kommen. Beim Fleischeinkauf nimmt die Bedeutung von Tierwohl genauso zu wie die fehlende Information und die daraus resultierende Skepsis gegenüber bestehenden Programmen, Marken und Gütesiegeln. Konkret: KonsumentInnen würden zwar gerne, fühlen sich aber vom Handel und der Politik unzureichend über das Thema informiert.

Liegen mag das zum Teil am Begriff selbst. Ohne die Diskussion der vergangenen Jahre verfolgt zu haben, ist »Tierwohl« ein schwammiger Wohlfühlbegriff.  Und das Bild des Begriffs ist geprägt von den Bildern, mit denen er vermarktet wird. Fröhlich quiekende Schweinderl, Kälber, die entspannt mit ihren Müttern abhängen, Ochsen mit Hörnern, die gemächlich in den Sonnenuntergang schauen. Dass der Alltag im Stall (oft) anders aussieht, wissen wir. Was Tierwohl konkret bedeutet, (oft) nicht.

Die systematische Erfassung des Themas Tierwohl als Teil der wissenschaftlichen Forschung ist ein junges Phänomen und geht auf die zweite Hälfte des vergangenen Jahrhunderts zurück. Auslöser war, wie zu vermuten, die Kritik an der landwirtschaftlichen Intensivhaltung und das daraus resultierende Leid der Tiere. Eine der ersten Publikationen, die die Missstände in der Haltung von Nutztieren thematisierten, Ruth Harrisons 1964 erschienenes Buch »Animal Machines«, schlug hohe Wellen und die daraus resultierende öffentliche Diskussion führte in Großbritannien zur Einsetzung einer Kommission, die den Auftrag hatte, das Wohlergehen (welfare) von Nutztieren in der Intensivtierhaltung zu untersuchen. Die Gruppe erarbeitete unter der Leitung des Wissenschafters F. W. Rogers Brambell einen Bericht, der 1979 erschien und unter dem Namen »Brambell Report« bekannt wurde. Dieser Brambell Report steht sinnbildlich für ein neues Bewusstsein in – zumindest Teilen – der Gesellschaft und eine kritische Betrachtung des Umgangs mit Nutztieren. Außerdem forderte der Report die Schaffung einer unabhängigen und ständigen Instanz, die die Haltungsbedingungen und den Wohlzustand der Nutztiere in Großbritannien laufend untersuchen und verbessern sollte. Das führte zur Gründung des Farm Animal Welfare Council (FAWC), dessen Politik in den frühen 80er-Jahren die Grundlagen des Tierwohlbegriffs prägte. Der Brambell Report wies bereits auf das Thema Platz/Raum hin und nannte es Grundfreiheit: »An animal should at least have sufficient freedom of movement to be able without difficulty, to turn around, groom itself, get up, lie down, and stretch its limbs.« Diese Grundidee ist einerseits Basis für die Weiterentwicklung des Konzepts der »5 Freiheiten«, die das FAWC in den Jahren danach formulierte, andererseits aber auch der Grund dafür, dass in der heutigen Tierwohldiskussion die Konzepte Nutzfläche und Besatzdichte eine so hohe Bedeutung haben.

Die »5 Freiheiten« des Farm Animal Welfare Council gehen jedenfalls weit über die Forderung hinaus, dass ein Tier nur genügend Platz zum Umdrehen und Strecken braucht. Vielmehr geht das Konzept von subjektiver Leidfähigkeit aus und fokussiert das Konzept auf die Vermeidung negativer Zustände. Hunger und Durst, Angst und Stress, Leiden unter Schmerzen.

Die »5 Freiheiten« des Farm Animal Welfare Council

  1. Freisein von Hunger und Durst – durch Zugang zu frischem Wasser und eine Ernährung, die Gesundheit und Vitalität aufrechterhält.
  2. Freisein von Unwohlsein (»discomfort«) – durch die Bereitstellung einer angemessenen Umgebung, die Behausung und bequeme Ruheplätze beinhaltet.
  3. Freisein von Schmerz, Verletzung und Krankheit – durch Vorbeugen oder schnelle Diagnose und Behandlung.
  4. Freiheit, normales Verhalten auszuleben – durch Bereitstellung ausreichenden Platzes angemessener Anlagen/Räumlichkeiten und Gesellschaft durch Artgenossen.
  5. Freisein von Angst und Stress – durch ein Sicherstellen von Lebensbedingungen und Behandlung, die mentales Leiden vermeiden.

Auch wenn die »5 Freedoms« in der Folge heftig kritisiert wurden, bilden sie doch eine solide Grundlage für die Weiterentwicklung wesentlicher Tierwohlaspekte. Die Kritik kam in erster Linie aus der Ecke jener Denkerinnen und Denker, die Tiere als Träger von Rechten sehen und daher das Konzept der Nutztierhaltung grundsätzlich infrage stellen. Andererseits von jenen, denen die 5 Freiheiten nicht weit genug gingen. Sie sahen in ihnen eine ausbaufähige Basis, während der FAWC selbst das Konzept bereits als höchste Stufe des Erreichbaren sah.

Aus heutiger Sicht lassen sich Konzepte zum Tierwohl in drei Kategorien einteilen. Funktionalistische Theorien schenken der Tiergesundheit, sprich dem »hinreichend guten Funktionieren der physiologischen Systeme« eines Tieres, hohe Aufmerksamkeit. Ein eher naturwissenschaftlicher Ansatz, der – eben dadurch – den Vorteil hat, die Kriterien des Wohlergehens exakt zu bestimmen und zu beeinflussen. KritikerInnen wenden – zu Recht – ein, dass hier oft die Produktivität in den Fokus und das Tierwohl in den Hintergrund rückt.  Die zweite Kategorie ist die konsequente Weiterentwicklung des Freiheitsansatzes (»frei von …«) in der Tradition der 5 Freiheiten. Das dritte Konzept zielt auf den Begriff »artgerecht« und geht davon aus, dass jedes Tier eine Art »Wesensziel« verfolgt. Ein durch die Evolution vorgegebenes, angeborenes und genetisch kodiertes telos, das es zu identifizieren gilt. telos leitet sich vom griechischen Wort für Ziel ab und steht für die Überzeugung, dass sämtliche Entwicklungsprozesse in der Natur an einem Zweck – oder eben Ziel – ausgerichtet sind. Die Kenntnis dieses telos ermöglicht es, die grundlegenden Bedürfnisse des Nutztiers zu erkennen und das Umfeld entsprechend zu gestalten.

Es muss nicht immer Almidylle sein. Moderne Technologien helfen, das Tierwohl zu verbessern. Sie schaffen Freiräume und ermöglichen präzises Monitoring der Tiergesundheit. Bild: Istock/Shironosov.

Die Diskussion zeigt, dass eine kontextunabhängige Definition von Tierwohl kaum möglich ist. Die Erkenntnistheorie des radikalen Konstruktivismus bringt uns hier weiter als juristische Definitionsversuche. Tierwohl ist vor diesem Hintergrund deshalb schwierig zu definieren, weil das Konzept ein menschliches Gedankenkonstrukt ist und deshalb nie frei von menschlichen Werten sein kann. Spricht man also über Tierwohl, bringt man unweigerlich die eigenen Landkarten und Wertvorstellungen ein.

Hier kommt der Lebensmittelhandel ins Spiel. Diverse Labels und Kampagnen zeigen klar, wie nah die Kommunikation von Tierwohl entlang subjektiver Werte verläuft. Als Beispiel wählen wir die Kategorie Rind/Rindfleisch und ausgewählte Händler mit entsprechendem Sortiment.

Dass Tieren (ohne vernünftigen Grund) keine Schmerzen zugefügt werden dürfen, ist mittlerweile im Tierschutzgesetz geregelt. Trotzdem ist der »Verzicht auf mit Schmerzen und Stress verbundene Eingriffe am Tier« eines der wesentlichen Handlungsfelder für Tierwohlinitiativen. Bei Rindern gibt es diesbezüglich drei Eingriffe. Die Enthornung, der Einzug von Ohrmarken und das Schlachten trächtiger Tiere. Beim Rind ist – wie auch bei anderen landwirtschaftlichen Nutztieren – das betäubungslose Einziehen von Ohrmarken erlaubt. Beim Enthornen ist die Sache komplizierter. Rechtlich ist die Enthornung nur bei Kälbern unter 6 Wochen erlaubt. Grundsätzlich gilt auch für Rinder ein Amputationsverbot, das Entfernen der Hörner ist jedoch erlaubt, wenn es für den Schutz des Tierhalters oder anderer Tiere erforderlich ist. Diese Ausnahme ist immer wieder Auslöser für – oft hochemotionale – Debatten. Die BefürworterInnen des Enthornens führen die Verletzungsgefahr in Laufställen ins Treffen, GegnerInnen argumentieren, dass beim richtigen Umgang mit den Tieren diese Gefahr nicht groß sei. Und erinnern an die natürliche Funktion der Hörner. Dass der Prozess des Enthornens – unabhängig vom Alter – Schmerzen verursacht, gilt als erwiesen. Dabei werden mit einem heißen Brenneisen die Hornansätze zerstört. In Österreich gilt seit 2007, dass beim Enthornen lokale Betäubung angewandt werden muss. Auch nach dem Eingriff sind postoperative Schmerzmittel verpflichtend. Trotzdem werden Reaktionen wie intensives Kopfschütteln, Apathie und Schlagen mit den Hinterläufen häufig dokumentiert.

In der Tierwohlkommunikation des Lebensmittelhandels spielen diese Faktoren kaum eine Rolle. Hier wird vielmehr unserem Wunsch nach Naturnähe und Harmonie entsprochen, auf Regionalität und Herkunft gesetzt und unsere Sehnsüchte werden mit entsprechenden Bildern gestillt. Das ist gut und begrüßenswert, deckt vom breiten Spektrum Tierwohl aber nur einen Teil ab.

Worauf sich also verlassen? Zwei Initiativen, die ein hohes Maß an Sicherheit bieten, sind die Projekte »Tierschutz-kontrolliert« der Organisation Vier Pfoten sowie »Tierwohl-kontrolliert« des österreichischen Vereins »Gesellschaft !Zukunft Tierwohl!«. Zudem empfiehlt Greenpeace beide Initiativen im »Gütezeichen-Guide für Lebensmittel« als vertrauenswürdig. Das »Tierwohl-kontrolliert« mit zwei bzw. drei abgebildeten Hakerln sogar als »sehr vertrauenswürdig«. Letzteres steht für artgerechte Haltung, Fütterung und Züchtung. Die Bio-Richtlinien werden als Grundlage angesehen, die Vorschriften gehen aber darüber hinaus. Die letzten beiden genannten Zeichen, also »Tierwohl-kontrolliert« mit zwei oder drei Hakerln, finden sich bei Hofer auf den Verpackungen der Zurück-zum-Ursprung-Ware.

BIORAMA #78

Dieser Artikel ist im BIORAMA #78 erschienen

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