„Diese selbstloseste aller Webseiten“ – Wikipedia wird 15

Claudia Garád ist Geschäftsführerin der Wikimedia Foundation in Österreich. (Bild: Jean-Frédéric [CC BY 4.0)

Claudia Garád ist Geschäftsführerin der Wikimedia Foundation in Österreich. (Bild: Jean-Frédéric [CC BY 4.0)

Im Januar 2016 wird Wikipedia 15 Jahre alt. Mit Claudia Garád haben wir uns über  typische Wiki-Autoren, dominantes Wissen, die Eigenarten der deutschsprachigen Wikipedia und das Design der Online-Enzyklopädie unterhalten. 

Am 15. Januar 2001 ging die englische Sprachversion von Wikipedia erstmals online. Die deutschsprachige Variante folgte bereits am 16. März. Seither ist Wikipedia zum kaum verzichtbaren Nachschlagewerk geworden. Mit Millionen von Artikeln, inzwischen in 280 verschiedenen Sprachen.

Auch für BIORAMA-Recherchen nutzen wir die freie Enzyklopädie im Netz wohl täglich. Grund genug, zu gratulieren und einmal einen Blick hinter die Kulissen der Plattform zu werden. Wir haben uns mit Claudia Garád, der Geschäftsführerin von Wikimedia Österreich unterhalten, um eine Innenansicht von Wikipedia zu gewinnen. Dabei ist es ja nicht so, als würde bei der offenen Online-Enzyklopädie aus irgendetwas ein Hehl gemacht. Schließlich ist ihr erklärtes Ziel, Wissen zugänglich zu machen.

BIORAMA: Was ist die Wikimedia-Foundation eigentlich?

GARÁD: Wikimedia ist eine weltweite Bewegung zur Förderung freien Wissens. Ihr Ziel ist, das Wissen der Menschheit frei zugänglich zu machen. Die Wikimedia Foundation ist eine gemeinnützige Stiftung mit Sitz in San Francisco und die Betreiberin von Wikipedia. In Zusammenarbeit mit einem Netzwerk aus Zweigvereinen – Chapter – wie Wikimedia Österreich bietet die Stiftung den organisatorischen Rahmen, um vielsprachige Wiki-Projekte zu unterstützen und zu entwickeln.

Wer ist der typische Wikipedia-Autor, gibt es ihn überhaupt?

Es stimmt, was in den letzten Jahren häufig durch die Medien ging, dass viele Wikipedianer weiß, männlich, mittleren Alters und überdurchschnittlich gebildet sind. Darüber hinaus gibt es natürlich Gemeinsamkeiten wie die Liebe zu Details, Begeisterung für freies Wissen oder eine Leidenschaft für Bücher.

Also ist Wikipedia männlich dominiert?

Von unserem Ziel, das Wissen der Menschheit jedem frei zugänglich zu machen, sind wir noch weit entfernt. Ein Teil des Problems ist sicher der geringe Anteil weiblicher Autoren, aber auch andere Gruppen tragen derzeit noch kaum zur Entstehung der Inhalte auf der Wikipedia bei: Akademiker sind überrepräsentiert, obwohl z. B. auch Handwerker über wertvolles Wissen verfügen. Global gesehen ist die Wikipedia ein Produkt der westlich geprägten, schriftlichen Wissensvermittlung, was dazu führt, dass Kulturen, in den denen Informationen und Wissen hauptsächlich mündlich weitergegeben werden, nicht ausreichend berücksichtigt werden.

Welches Wissen wem wann wie zugänglich ist, hat viel mit Macht zu tun. Was würde wohl Michel Foucault zu Wikipedia sagen?

Eine interessante Frage. Eine von Foucaults wesentlichen Thesen ist, dass Macht in einer modernen Gesellschaft nicht durch staatliche Autoritäten, sondern durch Wissen, das sich in der Gesellschaft durchsetzt, entsteht. Die Wikipedia und ihre Schwesternprojekte streben danach, Wissen frei zugänglich zu machen. Gleichzeitig produzieren sie Wissen aus einer Community, der jeder beitreten kann. Ich denke, es gibt zwei mögliche Szenarien: Entweder Michel Foucault wäre Wikipedianer, er würde die Diskussionen, die durchaus zu Diskursen wachsen, lieben, oder er wäre ihr größter Kritiker. Beides möglich, beides denkbar.

So sah die Startseite der englischsprachigen Wikipedia im Juli 2001 aus.

So sah die Startseite der englischsprachigen Wikipedia im Juli 2001 aus.

Wo wir grad schon bei Macht sind: Sind Wikipedia-Administratoren sehr einflussreiche Menschen?

Administratoren verfügen im Vergleich zu anderen Wikipedia-Autoren über umfassende Rechte und dadurch auch Verantwortung. Sie können Benutzer und Seiten sperren und entscheiden in letzter Instanz darüber, ob ein Artikel gelöscht wird. Jede solche Entscheidung kann von einem anderen Administrator wieder rückgängig gemacht werden. Administratoren werden in regelmäßigen Abständen von der Community gewählt und wer die Wahlprozesse verfolgt, wird sehen, dass Wikipedianer sehr hohe Ansprüche an die Kandidaten haben – Ansprüche, die oft weit über die offiziellen Anforderungen hinausgehen. Insofern agieren auch einflussreiche Communitymitglieder mit – im Rahmen einer gewissen Gewaltenteilung.

Ist unser Wissen demokratisch organisiert, wenn Wikipedia irgendwann als wissenschaftliche Quelle anerkannt wird? 

Wikipedia ist in ihrem Selbstverständnis eine Enzyklopädie – nicht mehr und nicht weniger. Enzyklopädien sind von jeher dazu gedacht, einen Überblick zu geben und den Einstieg in ein Thema zu erleichtern. Sie werden nie andere wissenschaftliche Quellen und Primärliteratur ersetzen können. Also ist die Wikipedia als alleinige Heilsbringerin für einen demokratischeren Wissenschaftsprozess ungeeignet – dazu benötigen wir andere Projekte und Initiativen, die Open Access, Open Data sowie Open bzw. Citizen Science an Hochschulen und Forschungseinrichtungen vorantreiben. In Österreich kooperieren wir mit Akteuren in diesem Bereich, weil der freie Zugang zu Wissenschaft und Forschung eine wichtige Voraussetzung für den Erfolg unserer Projekte ist.

Warum ist es so wichtig, dass Wikipedia spendenfinanziert bleibt?

“Wikipedia ist etwas Besonderes. Sie ist wie eine Bibliothek oder ein Park, sie ist wie ein Freiraum für den Geist. Ein Ort, den wir alle aufsuchen können, um nachzudenken, etwas zu lernen und unser Wissen mit anderen zu teilen.” Das Zitat stammt Jimmy Wales, dem Mitbegründer der Wikipedia, und ich denke, das bringt es ganz gut auf den Punkt. Wenn wir uns das Internet als virtuelle Erweiterung unserer Lebenswelt vorstellen, ist es völlig in Ordnung, dass es dort Kaufhäuser, Banken und andere kommerzielle Angebote gibt.

In einer Zeit, in der das World Wide Web zunehmend von wenigen großen Konzernen dominiert wird, gilt es aber auch, diese selbstloseste aller Webseiten zu erhalten und zu zeigen, dass die Hoffnungen, die wir mit den Möglichkeiten des Internets verbinden, Realität werden können.

Dass die Wikipedia von den Gründern nicht an Investoren verkauft wurde und sich auch bis heute nicht über Werbung, sondern ausschließlich Spenden finanziert, ist außerdem ein wesentlicher Faktor dafür, dass die Community dieses Projekt zu dem ihren macht.

Wie ist es, für eine der wertvollsten Marken des Internets zu arbeiten, ohne für einen Konzern zu arbeiten?

Der zentrale Unterschied ist sicherlich, dass Wikipedia von Freiwilligen gemacht wird. Weltweit gibt es nur wenige Hundert hauptamtliche Mitarbeiter, die keinen Einfluss auf die Inhalte nehmen, sondern sich um die rechtliche, technische und finanzielle Infrastruktur kümmern und die Freiwilligen in ihrer Arbeit unterstützen. Ich arbeite in einem Team, in dem die Meisten nicht für ihre Arbeit entlohnt werden. Motivation funktioniert hier also auf einer anderen Ebene als in klassischen Organisationen, es geht um die Leidenschaft für die Sache, nicht um Status oder Gehaltsgruppen.

Wenn Leidenschaft die treibende Motivation ist, gibt es dann mehr Konflikte?

Uns als bezahlten Mitarbeitern ist stets bewusst, dass ein gesundes Miteinander nur möglich ist, wenn unsere Leistungen einen Mehrwert für die Community darstellen und wir auf Augenhöhe zusammenarbeiten. Das unermüdliche Engagement vieler unserer Freiwilligen bewundere ich sehr und der Umgang mit Wikipedianern ist häufig eher freundschaftlich und familiär, als rein kollegial. Ich bin froh, dass wir in Österreich diesen Spagat schaffen, in anderen Chaptern, aber auch im Zusammenspiel mit Mitarbeitern der Foundation geht es in dieser Hinsicht durchaus konfliktreicher zu.

Wikipedia hat heute 280 Sprachversionen. (Bild: Wikimedia Foundation CC BY-SA 3.0)

Wikipedia hat heute 280 Sprachversionen. (Bild: Wikimedia Foundation CC BY-SA 3.0)

Was macht die deutschsprachige Wikipedia im internationalen Vergleich aus?

Die deutschsprachige Wikipedia gehört mit Sicherheit zu den Projekten mit dem umfangreichsten und komplexesten Regelwerk und wartet auch mit entsprechend hochwertigen Inhalten auf. Beiträge neuer Autoren werden anfangs von erfahrenen Wikipedianern gesichtet, bevor sie live gehen, etwa um Vandalismus vorzubeugen. Diesen Filter gibt es in anderen Sprachversionen nicht.

Zudem legt die deutschsprachige Wikipedia, anders als beispielsweise die schwedische Version, sehr viel Wert darauf, dass die Artikelarbeit hauptsächlich von Menschen statt automatisiert von sogenannten Bots betrieben wird. Die Hintergründe dafür sind kultureller und auch praktischer Natur: In kleinen Sprachversionen mit kleinen Communities ist es sehr viel schwieriger, ohne technische Unterstützung überhaupt eine kritische Masse an Artikeln zu erstellen.

Robert McHenry, der einstige Chefredakteur der Encyclopedia Britannica, hat Wikipedia einmal mit einer öffentlichen Toilette verglichen, bei der man sieht, dass sie entweder sauber oder schmutzig ist, aber nie genau weiß, wer sie vorher wofür benutzt hat. Ist das der Dünkel alten hierarchischen Wissens oder tatsächlich ein Problem der Plattform?

Ehrlich gesagt weiß ich nicht genau, was Herr McHenry mit diesem Vergleich sagen will. Möchte man auf einer Toilette überhaupt wissen, wer sie wofür genau verwendet hat?

Wenn man wissen möchte, wie die Beiträge in der Wikipedia entstehen, lohnt sich,ein Blick in die Versionsgeschichte des Artikels oder auf die zugehörige Diskussionsseite, um nachzuvollziehen, wie die Inhalte entstanden sind, welche Perspektiven eingeflossen sind und welche vielleicht noch nicht.

Im besten Fall klickt man auf “Bearbeiten” und ergänzt, was fehlt. In diesem Sinne leistet die Wikipedia mehr als andere On- und Offline-Quellen, wo die Motive und weltanschauliche Prägung der Autoren meist sehr viel schwerer nachzuvollziehen sind. Wenn es McHenry also um Medienkompetenz geht und die Verantwortung jedes Einzelnen, Informationen unter diesen Gesichtspunkten zu bewerten, dann scheint mir das ein Problem zu sein, dass nicht nur die Wikipedia, sondern Wissensvermittlung im Allgemeinen betrifft.

Wird das Layout der Wikipedia jemals zeitgemäßer?

Die Wikipedia ist kein reines Consumer-Produkt, in dem laufend aktuelle Trends umgesetzt werden, um Klickzahlen zu erhöhen. Neben den Bedürfnissen der Leser gilt es bei der Weiterentwicklung der MediaWiki Software vor allem um die Anforderungen der Community. Im Vordergrund steht weniger das Design als vielmehr die Integration neuer Features und Anwendungen, die das Arbeiten an den Projekten erleichtern. Da Wikipedia zunehmend auf mobilen Endgeräten gelesen wird, liegt hier Schwerpunkt der Weiterentwicklungen in Bezug auf die Attraktivität für den Leser. Die App verfügt über zahlreiche Gimmicks, die in der Desktopversion nicht denkbar wären.

Gibt es irgendwelche Wikipedia-Kuriositäten, die du dringend erzählen möchtest?

Eine der legendärsten und vermutlich absurdesten Debatten im deutschsprachigen Wikiversum ist bis heute sicher die über 600.000 Zeichen umfassende Diskussion um den Wiener Donauturm von 2009: Mit viel Ausdauer und Beharrlichkeit wurde diskutiert, was einen Fernsehturm zu einem Fernsehturm macht und ob doch nicht auch der als reiner Aussichtsturm konzipierte und gebaute Donauturm eine gewisse Fernsehturmigkeit aufweist.

Hier geht es zur Website von Wikimedia Österreich. 

Hier gibt es eine Übersicht über die Aktionen zum Geburtstag der Wikipedia. 

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