Wandern bis zum Umfallen. Route und Realität einer Tagesetappe durch die Normandie.

35 Kilometer wären es laut Wanderroute von Lillebonne nach Gonfreville-l’Orcher in der Normandie. Eine ambitionierte Tagesetappe am französischen Weitwanderweg »GR 2« – die zweite von 369 Grandes Randonées, die – das französische »Nationalkomitee für Fernwanderungen« definiert hat. Vier WanderInnen haben die Distanz im August 2022 in 42 Kilometern überwunden. Ein Wandertag von früh bis spät.

Weitwandern

dauert mehr als drei Tage oder umfasst mehr als 100 Kilometer. Ein Muss für jede Weitwanderung: mindestens drei Liter Wasser für 30 Kilometer, wenn es keine Auffüllstellen gibt.

Abmarsch 6 Uhr. Es ist kalt.

Vier Wanderinnen freuen sich über die bereits geöffnete Bäckerei in Lillebonne und kaufen frische Baguettes für den Tag. Drei Liter Wasser und Jause wurden bereits am Vortag im Supermarkt besorgt. Die weiß-rote Wegmarkierung des GR 2 entdecken sie auf einer Hausmauer, ein paar Meter von der Bäckerei entfernt.
An diesem Tag liegt kein weiteres Restaurant oder Supermarkt am Weg. Daher wurden Müsliriegel, Nüsse und auch Bananen gekauft. Hochkalorische Lebensmittel, die schnell Energie liefern. Das Ziel heute ist der Ort Gonfreville-l’Orcher. Laut Route und dem Plan, dieser zu folgen, sind dorthin 35 km und gut 750 Höhenmeter zu überwinden.

Die Alabasterküste von Drieppe nach Le Tréport – die Route für Tag 11. Die Wegbegleitung: Riesige Kreidefelsen, weite Wiesen und Kieselstrände. Bild: Katharina Pichler.

9 Uhr. Die erste Pause. Es ist warm.

Nach drei Stunden erreichen die Wanderinnen das kleine Dorf Tancarville, in dem sitzend im Gras gefrühstückt wird. Nach 45 Minuten geht es weiter. Über zehn Kilometer sind schon geschafft. Die Wälder und Wiesen sind im Sommer 2022 nicht grün, sondern gelb-braun. Die Einheimischen berichten über extreme Dürre und ausbleibenden Regen. Das Reizvolle am Weitwandern ist, abseits vom Gehen, die Möglichkeit auch Gespräche mit den Menschen vor Ort zu führen und somit eine Region besser kennen zu lernen.


Weitwandern

300 Kilometer. Das sind 430 000 Durchschnitts-Schritte. Es klingt nach viel und das ist es auch. 4 Wanderinnen gehen in 12 Tagen von Duclait nach le Havre (entlang des GR2) und von dort (entlang des GR21) nach Saint-Valery-sur-Somme. Die Strecke zwischen Lillebonne nach Gonfreville-l’Orcher wurde an Tag 3 bestritten.

12.30. Die große Pause. Es ist heiß.

Im Schatten liegend wird am Rande des Weges gegessen und getrunken. Der Rucksack verliert an Gewicht.
Nach einer guten Stunde geht es weiter. 15 Kilometer liegen noch vor den Wanderinnen. Je weiter der Tag voranschreitet, desto mühsamer geht es sich. Bei über 30 Grad gehen sie meist auf Feldwegen in der Nähe eines Seitenkanals der Seine, dem Canal de Tancarville, und der französischen Gemeinde Saint-Vincent-Cramesnil voran. Schritt für Schritt. Kilometer für Kilometer.

An den ersten Tagen der Weitwanderung prägen schier endlose Feldwege das Bild. So auch noch an Tag 3. Bild: Katharina Pichler.

14.30. Die ungeplante Pause. Immer noch heiß.

Die Sonne fordert ihren Tribut. Die durchschnittliche Gehgeschwindigkeit sinkt. Noch zehn Kilometer. Irgendwo im Nirgendwo der Normandie.

Osmand

Die App zeigt Wasserquellen entlang einer Route – vom Friedhof mit öffentlichem Zugang zu einer Trinkwasserleitung bis zu Flüssen und Informationen zu deren Wasserqualität.

Die App Komoot führt zusätzlich zu der offiziellen Markierung des GR 2 die vier Wanderinnen Tag für Tag ans Ziel. Zudem beschreibt sie die Beschaffenheit des Weges. Wie viele Kilometer sind Wanderwege, wie viele müssen auf Asphalt gegangen werden?
Allerdings gibt es manchmal Abweichungen zum GR 2. Die App will den möglichst besten Weg. Und der beste Weg führt über Stock und Stein. Nicht über Asphalt. Grundsätzlich eine gute Sache, aber bei einer 35 Kilometer Wanderung, bei der dann jeder Meter zählt, wäre ein kurzes Stück auf der Straße die bessere Option gewesen. Denn so wurde aus den geplanten 35 Kilometern eine Marathondistanz. Aus der geplanten Ankunft um 16 nichts und aus 750 Höhenmeter fast 1000. Fast 300 Höhenmeter schafft eine durchschnittliche Bergsteigerin in der Stunde. Durchschnittlich flott unterwegs ist man bei über 30 Grad und nach über 30 Kilometern allerdings nicht mehr. Ab jetzt wissen die Wanderinnen, dass es sich lohnt, bei Weggabelungen fünf Minuten in Recherche zu den Möglichkeiten zu investieren. Bewährt hat sich hingegen, sein Ziel für den Abend immer im Vorhinein zu kennen, so vermeiden Gruppen Streit unterwegs – denn wenn Route und Ziel unklar sind und körperliche Verfassung und Stimmung schwanken, kann es schnell zu grundlegenden Diskussionen kommen. Die Energie ist besser ins Wandern investiert, daher wurden alle Unterkünfte im Vorfeld reserviert.

Als Faustregeln zur Berechnung des Gewicht des Rucksacks (inklusive Verpflegung) bei einer Weitwanderung dienen uns: 1. So leicht wie möglich. 2. Maximum ist das eigene Körpergewicht geteilt durch 4, wenn man sehr fit ist – durch 5 bei mittelmäßig trainierten HobbysportlerInnen. 

Die 12 Kilogramm, die so als Maximalgewicht für eine 60-Kilogramm schwere Person berechnet werden, hat die Autorin aber als zu viel empfunden und ist auch 12 Tage mit 7 Kilo Gepäck ausgekommen. 

19 Uhr. Die Ankunft

Nach dem Check-in in einer Jugendherberge am Stadtrand von Gonfreville-l’Orcher, einem industriellen Vorort von Le Havre, steht Waschen auf dem Programm. Sich selbst und auch die Kleidung. Danach gehen die Wanderinnen in den Supermarkt, um für das Abendessen einzukaufen. Apropos einkaufen: Gut 2700 Kalorien, inklusive Grundumsatz, hat eine 60-Kilogramm-Person bei gut 10 Stunden Gehen, laut Smartwatch, verbraucht. Ein paar Gläser Rotwein, Kartenspielen und quatschen, früh heißt es dann Gute Nacht für die Wanderinnen. Der nächste Morgen naht, denn täglich grüßt die weite Welt. 

Stichwort Wanderungen: Für all jene, die sich schon einmal gefragt haben, wie die angegebenen Wegzeiten in den Wanderführern zustande kommen, gibt es hier die Aufklärung.

BIORAMA #84

Dieser Artikel ist im BIORAMA #84 erschienen

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