Warum wachsen am Weidenbach keine Weiden mehr?

Flüsse ohne Böschung erhitzen das fließende Wasser. Gleichzeitig beschleunigen sie den Abfluss bei Hochwasser.

Ein Fluss mit natürlich bewachsenem Ufer.
Flüsse und Bäche benötigen Uferbewuchs, damit sich ihr Wasser nicht zu sehr erhitzt. Genau dieser Bewuchs aber hindert bei Hochwasser am Abfluss. Bild: Istock.com/Barbfoto.

Während heute vor bundesweiten Wahlen manchmal die im Ausland lebenden StaatsbürgerInnen als mitentscheidendes »zehntes Bundesland« bezeichnet werden, verstand man in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg etwas anderes unter diesem Begriff. Damals bezeichnete das »zehnte Bundesland« ein politisches Ziel: Durch die Trockenlegung von Mooren und die Begradigung von Flüssen und weitläufig mäandernden Bächen sollten landwirtschaftliche Flächen in der Größe eines zusätzlichen Bundeslands gewonnen werden, um Österreich ernähren zu können. Die Auswirkungen dieser Doktrin sehen wir heute, wenn sich Bach- und Flussverläufe im typischen Trapezprofil »effizient« durch die Landschaft ziehen. 

Botanik am Bachufer

Ohne Kahlschlag und regelmäßige Mahd tauchen am Bachufer zuerst »Pionierpflanzen« wie Haselnuss, Schneeball, Holunder und Spitz-Ahorn auf. Danach etablieren sich wahrscheinlich Bruch-, Purpur- und Sal-Weide sowie Schwarz-Erle (im Bergland eher die Grau-Erle).

»Damals wurde massiv reguliert, auch kleinere Gewässer«, weiß Martin Angelmaier,­­ der beim Land Niederösterreich die Abteilung Wasserwirtschaft leitet. Viele Fehler der einstigen Regulierungswut wurden in den vergangenen Jahren korrigiert. Doch nicht immer ist das leicht möglich. Denn bei regulierten ­Gewässern ist teilweise seit damals genau festgeschrieben, wie diese im Querschnitt ­auszusehen haben. Das gilt – aus Gründen des Hochwasserschutzes – auch für Böschung und Bewuchs. Und oft ist das durchaus gut ­begründet. »Mehr Gehölz und Sträucher ­wirken bei Hochwasser bremsend«, sagt Martin Angelmaier, »weshalb es vorkommt, dass Wasser schlechter abfließen kann«. Und weshalb es vorkommt, dass ein Bach als ­Weidenbach in Karten verzeichnet ist, dass vom ursprünglich namensgebenden natürlichen Bewuchs aber nichts mehr zu sehen ist; und dass, was von Natur aus nachwächst, ­regelmäßig geschnitten wird.

Vegetation braucht Platz

Mittlerweile werde fast überall versucht, »mit Augenmaß vorzugehen und möglichst viel Vegetation zu belassen«, sagt Angelmaier. Mehr Vegetation brauche aber mehr Platz, weshalb –meistens als Kompromiss – Gewässerpflegekonzepte erarbeitet werden, die sicherstellen, dass Hochwasser trotz Bewuchs abfließen kann. »Wovon wir jedenfalls wegwollen, ist, dass über einen längeren Abschnitt der gesamte Bewuchs abgeschnitten wird«, sagt der oberste Beamte der Wasserabteilung.

»Mehr Gehölz und Sträucher wirken bei Hochwasser bremsend, weshalb es vorkommt, dass Wasser schlechter abfließen kann.«

Martin Angelmaier, Wasserabteilung des Landes NÖ

Niederösterreich ist von einem Gewässernetz von insgesamt etwa 25.000 Kilometern durchzogen. Insgesamt ist ein Drittel der Gewässer des Bundeslandes (Seen inklusive) »in einem sehr guten oder guten ökologischen Zustand und damit in dem von der EU-Wasserrahmenrichtlinie geforderten Zielzustand«, sagt Angelmaier. Dass es die restlichen Gewässerabschnitte nicht sind, liegt vor allem an baulichen Eingriffen, die ökologische Defizite verursacht haben: Regulierungen, Staubereiche oder Wehr-Querbauten. Trotz umfangreicher Renaturierungsprojekte – allein von 2018 bis 2022 wurden von Bund und Land insgesamt 63 Millionen Euro in 112 Projekte investiert, bis 2027 sind 54 Millionen Euro für weitere 50 Projekte vorgesehen – gibt es sie also noch, die kahlrasierte Böschung am begradigten Wasserlauf.

Die Ybbs aus der Vogelperspektive vor ihrer Renaturierung.
Vorher reguliert: Uferbewuchs gab es an der Ybbs bei Winklarn auch vor der Renaturierung. Bild: M. Haslinger.

Der Bach als Durchlauferhitzer

Dass ein Bach ohne Bäume keine Augenweide ist, mag ein ästhetisches Problem sein. Spätestens seit der Klimawandel auch in unseren Breiten durchschlägt, wird das Wasser in den Bächen durch die fehlende Beschattung allerdings auch deutlich wärmer – und damit auch zum ökologischen Problem. Denn, so Angelmaier: »Je wärmer, desto weniger Sauerstoff, desto schwieriger für Fische. Ein Tieflandfluss wie die March verträgt insgesamt etwas höhere Temperaturen, aber im Quellbereich der Forellenregion braucht es kaltes, schnell strömendes Wasser, da sind bereits Temperaturen über 20 Grad typisch.« Alles über 28 Grad ist beispielsweise für Forellen lebensbedrohlich. Fehlt der schattenspendende Uferbewuchs über größere Strecken, werden Bäche und Flüsse zu Durchlauferhitzern. Dann sind nicht nur einzelne Arten, dann ist die Flussökologie insgesamt in Gefahr.

Die Ybbs aus der Vogelperspektive nach ihrer Renaturierung.
Nachher renaturiert: Nicht überall ist, wie hier bei Winklarn an der Ybbs, Land verfügbar, um Flüssen wieder Platz für eine dynamische Gewässerentwicklung zu gewähren. Bild: M. Haslinger

Ankauf von Ackerland

Mancherorts lassen sich Renaturierungen mit gutem Willen und öffentlichen Geldern einfach umsetzen. Findet sich ein Träger (eine Gemeinde oder ein Wasserverband, in dem sich mehrere Gemeinden entlang eines Gewässers zusammengefunden haben), dann übernehmen Bund und Land bis zu 90 Prozent der anfallenden Kosten. Auch Ankäufe von Ackerland, das nötig ist, um einem Gewässer wieder Platz zu lassen und einen einigermaßen natürlichen Verlauf zu finden, werden übernommen. Nicht immer gibt es aber Bereitschaft, ein Stück des urbar gemachten »zehnten Bundeslands« wieder abzugeben.

An staunassen Standorten und Auen machen sich auch andere Weidenarten sowie Schwarz- und Silber-Pappel breit. Bei temporärer Überschwemmung in einiger Entfernung zum Fluss bilden Eschen und Stiel-Eichen den Wald (Harte Au).

Als vorbildlich gilt die Wiederherstellung des Lebensraums des Ybbsflusses im Bereich der Stadt Amstetten in den Jahren 2009 bis 2014. Nach dem Zweiten Weltkrieg war der Fluss durch Begradigungen und Ufersicherungen mit Wasserbausteinen weitgehend beschränkt worden. Viele der sonst für diesen Lebensraum typischen Tier- und Pflanzenarten waren verschwunden. In Amstetten selbst, aber auch unweit der Ortschaften Winklarn und Hausmening ließ sich das Bett der Ybbs wieder verbreitern. Sogar Nebenarme und Inseln konnten geschaffen werden, was nachweislich nicht nur gefährdeten Fischarten (wie Huchen und Äsche), sondern auch gefährdeten Vogelarten (wie Flussuferläufer, Flussregenpfeifer und Eisvogel) zugute kam. Durch die Schaffung eines Nebenarms bei Hausmening soll sich das Flussbett in Zukunft wieder eigendynamisch und möglichst eingriffsfrei weiterentwickeln. In den vergangenen Jahren haben Hochwässer vielfältige neue Strukturen und Lebensräume geschaffen: Schotterbänke, Tief- und Flachwasserbereiche und Steilufer.
Nicht überall sind Änderungen in diesem Ausmaß möglich. Mitten in dicht verbautem Ortsgebiet oder direkt neben hochrangigen Straßen kommt niemand auf die Idee, Gewässern völlig freien Lauf zu lassen. Mitunter gehen Gemeinden auch auf Nummer sicher, weil sie nach Klagen in Folge von Hochwasserschäden schlechte Erfahrungen gemacht haben.

Huchen

Größte Forellenart, bekannt auch als »Donaulachs«, wird bis zu 1,7 Meter lang und 50 Kilo schwer. Lebt in der Donau und größeren Zuflüssen. 

Der geschundene Fluss

 »Die Große Tulln ist ein geschundener Fluss«, sagt Oswald Hicker, »von Neulengbach abwärts fließt sie in einem strengen Trapezprofil«. Hicker, von Beruf Sprecher des niederösterreichischen Gemeindebunds und dementsprechend diplomatisch, engagiert sich als leidenschaftlicher Fischer privat für das Gewässer. Bis 2029 hat er ein 25 Kilometer langes Fischereirevier gepachtet. Das klingt nach idyllischem Wienerwald, doch Hicker relativiert: »eine kitschige Flusslandschaft sieht anders aus«. Ein Großteil der Bäume und Stauden wird regelmäßig aus dem Flussquerschnittsprofil geschnitten. »Somit fehlt die in heißen Sommern wichtige Beschattung, für Forellen wird es da eng«, sagt er. Trotzdem ist bereits viel passiert. 2019 wurden zwei Wehranlagen entfernt. Plötzlich kam eine Vielzahl von Donaufischen in die Große Tulln. Weil über den gesamten Flussverlauf keine Wasserrechte von Mühlen oder KraftwerksbetreiberInnen zu berücksichtigen sind, werden bis 2025 auch die letzten sieben verbliebenen Wehre abgebaut sein. »Deshalb wird die Große Tulln in wenigen Jahren der einzige Fluss in Niederösterreich sein, der von der Quelle bis zur Mündung in der Donau wieder für wandernde Fische frei ist.« In einem Abschnitt (bei der Anzbach-Mündung) wurde eine Buhne errichtet – eine ins Wasser ragende Landzunge. Dahinter entstanden von selbst eine Schotterbank und ein Kolk (Tiefenausspülung, Anm.). »Der Kolk dient Fischen als Lebensraum, die Ritzen der grob geschichteten Steinbuhne sind ein Zufluchtsort«, sagt Hicker, »hier kann der Fischotter, der das reiche Nahrungsangebot in der Tulln seit Jahren schätzt, die flüchtenden Fische nicht verfolgen. Und die Schotterbank oberhalb nutzen Bachforellen zum Ablaichen«.

Die Mank, ein Zufluss der Melk und deren Pflegekonzept für die Ufervegetation.
Guter Wille, wenig Platz. Ein Pflegekonzept für die Ufervegetation ermöglicht bei der Mank, einem Zufluss der Melk, zumindest Beschattung. Mit kleinen Strukturmaßnahmen wurde sie zu einem besseren Lebensraum. Bild: Amt der NOE Landesregierung/Nesweda.

Wie dick darf eine Weide sein?

Geht es nach dem Fischer, dann soll die Große Tulln ein Modellfluss werden. Und ein Musterbeispiel für machbare Kompromisse. Denn natürlich braucht es Uferbewuchs, damit die Sommerhitze das Flussökosystem nicht bedroht. Hicker geht nicht davon aus, dass sich in seinem Revier überall urtümlicher Uferbewuchs wiederherstellen lassen wird. Lange hat er darüber nachgedacht, wie ein Gewässerkonzept aussehen könnte, dass Hochwasserschutz und Ökologie vereint. Nun möchte er gemeinsam mit Gemeinden und GrundbesitzerInnen Pilotstrecken definieren, um zu überprüfen, ob seine Überlegungen der Praxis standhalten: Für Flussabschnitte mit geringem Hochwasserrisiko für naheliegende Wohngebiete soll festgelegt werden, wie dick eine Weide sein darf, damit sie weiterwachsen darf – und ab welchem Stammumfang sie umgeschnitten werden muss. Denn, so sein Gedanke: Ist ein Baum dünn genug, dann biegt er sich bei Hochwasser mit der Strömung oder wird von den Wassermassen umgedrückt. Das würde garantieren, dass unerwünschtes Wassers nicht am Abfließen gehindert wird. »Das bedeutet, dass wir alle zwei bis drei Jahren jeweils die dicksten Weiden händisch ausschneiden müssen«, sagt Oswald Hicker. Das bedeutet auch: schweißtreibende Arbeit. Doch bewährt sich seine Idee, dann könnten irgendwann auch am Weidenbach wieder Weiden wachsen. Zumindest kleine.

BIORAMA hat bereits an anderer Stelle über die Auswirkungen von Begradigung von Flussbetten und der Errichtung von Stauwerken berichtet.

BIORAMA Niederösterreich #11

Dieser Artikel ist im BIORAMA Niederösterreich #11 erschienen

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