Kreise ziehen

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Illustration Sarah Egbert Eiersholt

Der Bewegungsradius eines Fußgängers reicht für acht frische Krapfen am Tag – der eines Radfahrers für Marillenknödel, Brimsennocken und noch vieles mehr. Mit dem Rad auf Urlaub in Europa.

Einem gesunden Menschen mittleren Alters ist es möglich, sich in einer Stunde an die fünf Kilometer weit fort zu bewegen – zu Fuß, wohl gemerkt und ohne übermäßige Hetze. Das entspricht ziemlich genau dem Fußmarsch vom Wiener Südbahnhof zum 24/7-Krapfenwirt beim Augarten und damit der Durchschreitung der gesamten Inneren Stadt. Weitaus weniger lohnende Ziele mögen diese Stunde durchaus in die Länge ziehen, sicher ist jedoch: Als hauptberuflicher Stadtflaneur kommt man nicht weiter als 40 Kilometer am Arbeitstag. Man kennt das – als Amateur – aus dem Urlaub.

Fakt ist, das Fahrrad gilt als weitaus effizientere Fortbewegungsmethode und, ob man es glauben mag oder auch nicht, der Bewegungsradius vervielfacht sich im Schnitt – immer je nach Weg, Wind und Laune – um ein bis zu Vierfaches. Doch auch mit weniger Motivation und »Arbeitszeit« am Tag lässt sich am Sattel im Radius von immerhin rund 100 Kilometer die Gegend erkunden. Den Kreis am erwähnten Südbahnhof gemittet, würde das gemütlich erreichte Tagesziele wie das Semmeringgebiet und die Wachau einschließen, sowie auch Bratislava in der Slowakei, Sopron in Ungarn oder Breclav und Znaim in Tschechien. Navigieren mit dem Zirkel bringt einem Europa gleich ganz nahe. Und es muß ja nicht der Südbahnhof sein.

… nur Bahnhof

Der Bahnhof als Ausgangspunkt im Allgemeinen jedoch liegt dem Thema sehr nahe, denn Reisen mit dem Fahrrad bedeutet nach kurzer Überlegung auch Reisen mit dem Zug. Vorausgesetzt, man will seinen Bewegungsradius wiederum erweitern oder einfach nur woanders ansetzen. Alternativen zur Eisenbahn sind spärlich gesät. Fluglinien werfen einem aus scheinbarer Servicefaulheit Verpackungsvorschriften, den generell rohen Umgang mit Gepäck und budgetvernichtende Beförderungspreise in den Weg. Und selbst wenn diese Hürden per kostspieligem Hartschalenkoffer überwunden werden, muss die hohle Hülle in der Aufbewahrung verbleiben und unterbindet so jegliche Flexibil- und Spontanität in der Wahl der Rückfahr-Routen. Ein nicht unrelevantes Hindernis, welches bei jeder wetterabhängigen Reiseplanung bedacht sei. Selbiges trifft auch das selbstgelenkte Auto. Und abgesehen von jeglichen Ausschlusskriterien entspricht die kombinierte Reise mit dem Zug noch am ehesten dem Charakter einer Radreise. Nicht zuletzt beim Thema Umweltbewusstsein passt das einfach besser zusammen. Wer Anfang der 90er Jahre auf Familien-Campingurlaub gen Süden fuhr, leidet mit: Eingepfercht von Kühlbox, Tuchent und Bauwoll-Luftmatratzen am Rücksitz eines brütenden Renaults, welcher unaufhörlich, jedes Schlagloch bejahend, den übermüdet lenkenden Vater in den Sekundenschlaf schaukelt. Die Gegenthese dazu ist der Schlafwagen: Am lauen Vorabend des ersten Urlaubstages bestiegen, nur mit Vorfreude und dem spärlichen Gepäck beladen, welches auch ein Fahrrad vertragen würde, gebettet in einem ruhigen Abteil. Das Rad sicher verwahrt vom Bahnpersonal, bis zur Ankunft am erwünschten Mittelpunkt des 200-Kilometer-Kreises auf der Landkarte.

Paris, zum Beispiel. Mailand, Hamburg, Bukarest, Zürich, Warschau. Über Nacht. Und ausgeschlafen am Bahnhof. Neben den lohnenden Großstädten und deren Umland als Ziel sind es vor allem aber individuell gewählte Etappen-Reisen, die einem das Gefühl für Entfernungen in Europa wieder kalibrieren oder einen gänzlich neuen Zugang legen. Ob als Kreditkarten-Tourer oder Bike-Camper – zwei der schönsten zurückzulegenden Mehrtagesstrecken Europas abseits vom Mahlstrom zum Nachradeln:

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Seeland – salzige Brise und Sandstrände

Charakteristik: flach, maritim, u.U. windig
Highlight: Kalkklippen bei Faxe

Länder: Deutschland, Dänemark, (Schweden)

Diese Tour quer durch das Seeland Dänemarks eignet sich bestens für Anfänger und bietet viele Möglichkeiten zur Abkürzung und Umstieg auf Zug und Bus. Die Tagesetappen von 50 bis 70 Kilometer lassen viel Zeit, um sich umzusehen und für ausgiebige Mittagessen an der Wasserfront.

1. Etappe Hamburg, Altona → Lübeck ca. 70 km

2. Etappe Lübeck → Heiligenhafen ca. 80 km

3. Etappe Heiligenhafen → Puttgarden (25 km) → Fähre nach Rødbyhavn, DK (6 €, 20 km) → Nykøbing (45 km) ca. 70 km
4. Etappe Nykøbing → Fakse Ladeplads ca. 65 km
5. Etappe Fakse Ladeplads → København ca. 70 km

Rückreise oder Möglichkeit zur Überfahrt mit dem Zug über die Öresund-Brücke nach Malmö (20 €)

(6. Etappe) Malmö → Trelleborg (35 km) → Fähre über Nacht nach Rostock, D (30–125 €)

(7. Etappe) Rostock → Stralsund ca. 50 km

(8. Etappe) Stralsund → Wismar ca. 70 km

(9.Etappe) Wismar → Lübeck ca. 60 km

(10. Etappe) Lübeck → Hamburg, Altona ca. 70 km

Touren dieser Art lassen sich – wenn auch nicht ganz so bezaubernd – in beinahe allen flachen und gut erschlossenen Gegenden Europas basteln. Hilfreich bei der Planung solcher Touren ist das Miteinbeziehen des Eurovelo-Radwegenetzes, da dieses oft der logischen und natürlichen Streckenführung entspricht und etwaige unbemerkbare Hindernisse umgeht. Die Binnenland-Variante davon ist die klassische Fluß-Radwanderung. Meist als Treppelwege entstanden, säumen oft gut befestigte Wege und asphaltierte Straßen die Ufer, welche als Radwege neue Funktion erhielten. Die am besten bekannten Beispiele hierfür wären der Donau-Radweg, der Rhein-Radweg, der Loire-Radweg oder der Moldau-Radweg. Der Anspruch an das verwendete Material ist hier nicht allzu hoch. Ein gut funktionierendes und eingestelltes Citybike und das obligate Set an Packtaschen reichen. Auf ebenso funktionierende Bekleidung, enganliegende Radhosen, Helm und Handschuhe würde aber auch hierbei sicher niemand gern verzichten.

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Trentino-Südtirol – Alpenpässe und Palmen

Charakteristik: steil, gebirgig, unsicheres Wetter
Highlight: Ja.
Länder: Österreich, Italien

Diese Tour entspricht eher dem trainierten Fahrer, wobei hierbei nicht der Semi-Profi gemeint ist, sondern vielmehr der Vielfahrer oder sportliche Allrounder. Durch die kurz gewählten Etappen von 35 bis 60 Kilometer wird hier weniger – wie üblich – das Sitzfleisch drangsaliert, vielmehr geht es darum, den Puls ob der andauernden Steigungen im Zaum zu halten, seinen Rhythmus zu finden und sich beim Bergabfahren zu regenerieren.

Das vielleicht schönste Panorama der Alpen (Rosengarten, Sella-Massiv etc.), gewaltige Tiefblicke und rasante Abfahrten entschädigen hier für die seltenen Ausstiegs- und Verpflegungsmöglichkeiten in durchwegs ernstem, hochgebirgigen Terrain und die körperliche Anstrengung.

1. Etappe Lienz → Dobbiaco ca. 50 km

2. Etappe Dobbiaco → San Martino ca. 45 km

3. Etappe San Martino → Selva di Val Gardena ca. 40 km

4. Etappe Selva di Val Gardena → Pozza di Fassa ca. 35 km

5. Etappe Pozza di Fassa → Bolzano ca. 40 km

Alternative –  um einiges leichter zu bewältigen, wenn auch weniger spektakulär:

(2. Etappe) Dobbiaco → Bressanone ca. 60 km

(3. Etappe) Bressanone → Bolzano ca. 45 km

(4. und 5. Etappe entfallen hierbei)

6. Etappe Bolzano → Trento ca. 60 km

7. Etappe Trento → Malcesine ca. 58 km

8. Etappe Malcesine → Verona ca. 65 km

Touren von diesem Format lassen sich hauptsächlich in den Alpen realisieren, es finden sich dennoch ähnliche anspruchsvolle Wegstrecken im Jura und in den Karparten.

Der Anspruch an Fitness und Material erfordert auch hier keine Wunder, dennoch sollte beides schon auf einer  einfacheren Tour getestet werden.

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