Das Neue Dorf: „Landluft macht frei“

 

In den USA eine stärker werdende Bewegung: Market Gardening (Bild: Screenshot von TheMarketGardener.com)

Mit seiner Utopie für „das Neue Dorf“ hat der Hamburger TU-Professor Ralf Otterpohl einen Nerv getroffen. Ein Gespräch über Arbeitsteilung, Nebenerwerbs-Gärtnerei und Minifarmen.

Mitunter lesen sich die Ausführungen von Ralf Otterpohl ein wenig missionarisch und unstrukturiert. Auch ganz vor Abschweifen ins Esoterische ist der Hamburger TU-Professor für Abwasserwirtschaft und Gewässerschutz nicht gefeit. Nichtsdestotrotz bietet sein erfolgreich via Crowdfunding finanziertes Buch „Das Neue Dorf. Vielfalt leben, lokal produzieren, mit Natur und Nachbarn kooperieren“ eine lohnende, inspirierende Lektüre. BIORAMA sprach mit ihm über entfremdete Erwerbsarbeit, Stadtflucht und die ideale Symbiose von Stadt und Land.

BIORAMA: Herr Otterpohl, worin unterscheidet sich denn das Dorf wie wir es von alters her kennen von dem von Ihnen propagierten „neuen Dorf“?
Ralf Otterpohl: Das Neue Dorf soll die Produktion auf Minifarmen ermöglichen – sodass alle Menschen, die es wollen selber kommerziellen Gemüsebau betreiben können. Auf der sozialen Ebene ist das Wichtige, dass es mindestens 150 Menschen im Dorf geben sollte, einschließlich des Umfeldes, damit eine interessante Nachbarschaft zusammenkommt.

Es gibt da den mittelalterlichen Spruch „Stadtluft macht frei“. 150 Personen klingt doch sehr überschaubar. Mit dem Leben im Dorf assoziiert man traditionell eher Enge …
Ralf Otterpohl: Das war früher so und ist zum Teil wohl auch sicher noch so, dass Stadtluft frei macht. Mir geht es eher um ein Zusammenbringen der Vorteile des Landlebens mit den Vorteilen des Stadtlebens. Da kann man dann sagen: Landluft macht frei. Auf dem Land kann man selbst produzieren, hat Handlungsfreiheit, kann eine Vielfalt an Tätigkeiten machen. Es ermöglicht auch wegzukommen davon, über Jahrzehnte einer entfremdeten Erwerbstätigkeit nachzugehen, sondern stattdessen mehrere Tätigkeiten zusammenzubringen. Etwa Gärtnerei, Handel, Schulwesen, Heilarbeit.

Romantisches Dorfleben mit vielfältiger lokaler Produktion und interessanter Nachbarschaft finde ich erstrebenswert.“ (Ralf Otterpohl)

Denkt das Dorf neu und in Symbiose mit der Stadt: der Hamburger TU-Professor Ralf Otterpohl (Foto: R.Jupitz)

Sie leiten das Institut für Abwasserwirtschaft und Gewässerschutz an der TU Hamburg. Wie kamen Sie darauf, sich mit Konzepten und Ideen für das Neue Dorf zu beschäftigen?
Ralf Otterpohl:
Eigentlich ist das eine logische Entwicklung. Ich habe in der Abwasserwirtschaft gemerkt, dass es in den Systemen kaum Wiederverwendung gibt, wir essen, es gehen aber nach der Ausscheidung alle Nährstoffe verloren. Ich habe 20 Jahre neue Abwasserkonzepte entwickelt, das hat eine große Bewegung in Gang gesetzt. Irgendwann habe ich gemerkt: Wir müssen mehr für den Boden tun. Ein Drittel aller fruchtbaren Böden der Welt sind bereits zerstört. Um auch in Zukunft sauberes Wasser zu haben, müssen wir Humus aufbauen, denn die Wasserregeneration braucht hochwertige Humusböden. Das ist die Verbindung zum Wasser, das war für mich der Einstieg.

2014 hatte die FAO zum Jahr des Family Farming ausgerufen, also zum Jahr der bäuerlichen Familienbetriebe. Die globale Entwicklung weist allerdings gerade in eine andere Richtung. Wie sehen Sie denn die Idee des Neuen Dorfs in diesem Spannungsfeld?
Ralf Otterpohl: 
Wir müssen davon ausgehen, dass die großen agrochemischen Systeme zusammenbrechen. Auf den großflächig bewirtschafteten Flächen geht die Produktivität durch Humusverbrauch zurück, das sieht man in vielen Teilen der Welt bereits. Family Farms sind die produktivsten überhaupt. Über 70 Prozent der weltweiten Lebensmittel werden auf Family Farms hergestellt. Ich schließe daraus: Je mehr hochproduktive Kleinbetriebe, desto mehr Humus können wir aufbauen, desto bessere, hochwertigere Lebensmittel können wir produzieren, desto mehr gute Arbeit entsteht.

Stützt einige von Otterpohls Thesen: der Bestseller des Kanadiers Jean-Martin Fortier. Mehr als 100.000 Mal verkaufte sich sein praktisches „Grower’s Handbook for small-scale Organic Farming“. Demnächst erscheint auch eine deutsche Übersetzung.

Zweifellos gibt es gegenwärtig eine Renaissance des Gartelns, der Do-it-yourself-Kultur und auch der zeitweisen Selbstversorgung aus eigenem Anbau. Dennoch klingt ihre Forderung, die Menschen sollten im Umkreis der Städte Minifarmen betreiben, im Nebenerwerb bloggen oder beispielsweise eine Elektrotraktormanufaktur betreiben für viele Menschen romantisch bis blauäugig-reaktionär.
Ralf Otterpohl: Das zeugt von Ahnungslosigkeit. In den USA gibt es mittlerweile eine gigantische Bewegung von Market Farms, das sind hochprofitable Kleinbetriebe. Wenn das romantisch sein soll, dann ist Romantik toll. Die haben teilweise eine zehnfach höhere Produktivität auf der gleichen Fläche als industrielle Landwirtschaft, weil die Flächenlandwirtschaft extrem ineffizient ist. Sie verdienen oft sehr gut und vergiften nicht das Grundwasser.

Ich plädiere für ein symbiotisches Miteinander von Neuem Dorf und der Stadt.“ (Ralf Otterpohl)

Sie meinen, dass Siedler der „Neuen Dörfer“ nicht nur ihre Minifarmen bewirtschaften sollen und mit den Überschüssen die Städte mitversorgen sollen. Jeder solle außerdem auch Teilzeit-Dienstleister sein – als Pfleger, Betreiberin von Kompost-Toiletten und Kläranlagen. Ist Arbeitsteilung nicht eine klare zivilisatorische Errungenschaft?
Ralf Otterpohl:
Das war sie ursprünglich, ja. Aber sie ist pervertiert. Die Entwicklung geht seit einiger Zeit dahin, dass uns die Produktion ganz aus der Hand genommen wird – erst in andere Weltgegenden verlegt, jetzt dann in Roboterfabriken weitgehend ohne menschliches Zutun. Viele sprechen das Mantra „Digitalisierung“. Wenn man mir Romantik vorwirft, dann sage ich: Die Leute, die eine Zukunft propagieren, in der Menschen überflüssig werden, sind Technokraten, die eine Welt nach Orwell wollen. Romantisches Dorfleben mit vielfältiger lokaler Produktion und interessanter Nachbarschaft finde ich erstrebenswert.

Und wer forscht im Neuen Dorf an der Heilung von Krebs?
Ralf Otterpohl:
Nun, Krebs wird ganz wesentlich durch Agrochemie verursacht. Krebs ist also u.a. eine Folge der Fungizide der agro-chemischen Landwirtschaft. Würden wir wieder mehr Nahrung herstellen, die natürlich Salvestrole enthält, dann ist das kein so großes Thema mehr. Hochwertige Heilarbeit ist auch im Neuen Dorf machbar, eine Stadt für Notfälle erreichbar. (Anmerkung des Interviewers: Salvestrole sind laut dem anonymen Esoterik-Watch-Wiki Psiram in der wissenschaftlichen Biochemie unbekannt. Auch in der medizinischen Fachliteratur tauchen Salvestrole nicht auf. Alle Nennungen stammen aus Publikationen der außerwissenschaftlichen orthomolekularen Medizin.)

Das heißt: Niemand erforscht im Neuen Dorf Krebstherapien?Ralf Otterpohl: Durch gute Heilarbeit wird auch empirische Forschung betrieben, insofern schon. Ja. Der Mensch ist natürlicherweise gesünder. Forschung wird ja nicht in der Stadt gemacht, sondern in Universitäten. Wenn ein Neues Dorf Interesse hat, kann es auch ein Forschungsinstitut aufbauen, warum nicht? Das könnte dann direkt für die Menschen arbeiten, nicht vorwiegend für die globale Industrie.

Wechseln wir das Thema. Einer Ihrer Ansätze lautet „Wertschöpfung durch geringe Lebenserhaltungskosten“. Können Sie das näher erläutern?
Ralf Otterpohl:
In den Städten, besonders in Großstädten, sind Mieten unglaublich teuer. Viele Menschen zahlen den Neupreis ihrer Wohnung alle fünf Jahre als Miete. Das ist eine gemeine Mühle. Die Alternative: Raus aufs Land, leer stehende Höfe revitalisieren, sich selbst ein Haus bauen – das befreit aus diesen Zwängen. Zusätzlich können Lebensmittel, Energie, Pflanzenheilmittel lokal zu lokalen Preisen gehandelt oder getauscht werden. Ich muss dann auch weniger arbeiten. Das ist eine Möglichkeit, freier zu werden für Kunst, Kultur und andere Interessen.

Die Nähe zum Ballungsraum ist für Sie offensichtlich eine Grundvoraussetzung für das Funktionieren eines Neuen Dorfs. Zitat: „Das Neue Dorf ist nicht in der Pampa.“ Wenn ich nun Bürgermeisterin einer kleinen Gemeinde bin, in deren Nähe es keine Großstadt gibt: Was kann ich dennoch vom Prinzip Neues Dorf lernen?
Ralf Otterpohl:
Es ist eher umgekehrt: Die Stadt braucht Neue Dörfer, um überhaupt eine sichere Zukunft zu haben. Stichwort Resilienz. Das bedeutet ja: möglichst unabhängig von globalen Geschehnissen oder Naturkatastrophen zu sein, auf die man selbst keinen Einfluss hat. All das geht natürlich in der Pampa auch, aber dort ist es wesentlich schwerer eine eigene Ökonomie aufzubauen. Ich plädiere für ein symbiotisches Miteinander von Neuem Dorf und der Stadt.

Sie meinen: „Die Stadt muss sich um ihr Umland kümmern.“ Was konkret bedeutet das für mich als Stadtmensch?
Ralf Otterpohl: 
Wenn ich in Zukunft sauberes Wasser, gute Nahrung und ein ausgeglichenes Klima möchte, dann sollte ich dafür sorgen, dass um die Stadt ein „Gartenring“ entsteht. Das müssen jetzt nicht zwingend Neue Dörfer sein. Eher geht es um Grundprinzipien hocheffizienter Produktion, um Humus aufzubauen und das lokale Klima zu stabilisieren. Als Stadtmensch kann ich also Menschen, die so produzieren ihre Produkte abkaufen: Gemüsekisten, Haushaltschemikalien, Seifen, Shampoos aus der Gegend beziehen. Da weiß ich, wo Dinge herkommen, das unterstützt die eigene Region.

Also eine Rückbesinnung auf den alten Slogan „Fahr nicht fort, kauf im Ort“?
Ralf Otterpohl: 
Bei uns gab es „Ich kauf bei dir, du kaufst bei mir“. Nein, das kann man schon etwas großräumiger denken. Die Zukunft von lokaler Wirtschaft und Wertschöpfung zu sichern, darum geht es. Wenn Roboterfabriken und Agrarkonzerne, die Urwälder abholzen, Böden zerstören, Wüsten produzieren den Welthandel komplett kontrollieren wollen, muss ich die lokale Produktion stärken. Allein um Freiheit zu erhalten. Nichtsdestotrotz sind wir durchs Internet heute global verbunden. Wer sich aber einigeln möchte, kann das tun. Das ist Teil der Freiheit. Es werden ja auch nicht alle so leben wollen, wie ich es in meinem Buch beschreibe und das ist wohl auch gut so. Aber 5 bis 10 Prozent der Bevölkerung in solchen Modellen und Strukturen, das wäre anstrebenswert. Der Druck auf die Städte wird dann abnehmen und es entstehen wunderschöne Gartenringe. Vielleicht mit romantischen Kaffeestuben und Kindern, die hunderte von Pflanzen und ihre Nutzung kennen. Es wird sicher auch Kleinbetriebe geben, die sinnvolle Automatisierung nutzen.

 

„Das Neue Dorf. Vielfalt leben, lokal produzieren, mit Natur und Nachbarn kooperieren“ von Ralf Otterpohl ist im Oekom Verlag erschienen.


Weiterlesen? Barbara Nothegger hat sich bewusst gegen das von ihr idealisierte Leben auf dem Land entschieden – und ist mit ihrer Familie in einem städtischen Wohnprojekt gelandet. Im Interview spricht sie über ihr Buch „Sieben Stock Dorf. Wohnexperimente für eine bessere Zukunft“.

VERWANDTE ARTIKEL