Warum das Dorf Zukunft hat

Als Landidyll und Lieferant für erneuerbare Energien steht das Dorf vor einer Renaissance. Künftig wird es wieder sehr viel enger mit der Stadt vernetzt sein. 

2050 werden nur noch 16 Prozent der Deutschen auf dem Land wohnen, aktuell sind es knapp 25 Prozent. Zudem berechnet das statistische Bundesamt, dass 2050 insgesamt zwölf Millionen Menschen weniger in Deutschland leben als heute – und das vor allem auf dem Land. Katalysatoren für diese Schrumpfung der ländlichen Bevölkerung sind die Urbanisierung und die Überalterung. Mittelfristig sind zahlreiche Dörfer in ihrer Existenz gefährdet.

Die historische Funktion von Dörfern war immer die Nähe zum ländlichen Arbeitsplatz. Doch ländliche Arbeitsplätze gibt es in dieser Form nicht mehr. Der wirtschaftliche Strukturwandel schafft zwar neue Arbeitsplätze – aber diese entstehen vor allem in den Metropolregionen. Besonders junge Menschen folgen daher dem Ruf der großen Städte, nur die Alten bleiben zurück. Hat das Modell Dorf also ausgedient? Wer recherchiert, der stößt nicht nur auf düstere Vorhersagen über das kommende Sterben der Dörfer, sondern auch auf zahlreiche mutige Konzepte, die dem ländlichen Raum durchaus eine alternative und positivere Zukunft bieten, wo die Grenze zwischen Urbanität und Dörflichkeit verschwimmt.

Das Comeback des Dorfes ist allerdings langsam und leise. Und findet auf sehr heterogene Weise statt. Rund 150 demente Menschen leben im holländischen Demenzdorf Hogeweyk zusammen. Die Bewohner können sich in den Straßen und Häusern des Dorfes frei bewegen. Wer selbst nicht mehr zurückfindet, wird von einem Betreuer zurückgebracht. Wer im Supermarkt das Bezahlen vergisst, darf seinen Einkauf trotzdem mitnehmen. Ziel des Projektes ist es, eine neue Normalität zu schaffen, in der die Erkrankten Zuflucht finden. Auch andere europäische Länder planen, nach außen abgeschlossene Siedlungen aufzubauen, um Dementen und Alzheimerkranken eine Alternative zur üblichen Heimbetreuung zu bieten.

Bio-Landwirtschaft belebt das Land

Der Gesundheitstrend stärkt einer weiteren Entwicklung den Rücken, die die Überlebenschancen des Konzepts Dorf drastisch erhöht: dem Bio-Boom. Mehr als zehn Prozent der gesamten deutschen Landwirtschaft wirtschaftet biologisch, 1996 war es gerade mal ein Prozent. Die Hochkonjunktur von biologisch erzeugten Lebensmitteln führt zu mehr landwirtschaftlich genutzter Fläche und kann dadurch ländliche Regionen reaktivieren. Der Bio-Landbau bevorzugt die Regional- und Direktvermarktung, wie etwa den Hofverkauf, und zieht damit Käufer aus den Städten aufs Land. Zudem ist die Herstellung und Verarbeitung von biologischen Lebensmitteln aufwendiger als die konventionelle Produktion. Eine höhere Arbeitsintensität bedeutet mehr Arbeitsplätze. Dadurch entstehen neue Beschäftigungsmöglichkeiten auch jenseits der landwirtschaftlichen Tätigkeiten, denn Biohöfe entwickeln sich zu kleinen Knotenpunkten des Austauschs, Lernens und nachhaltigen Konsums. Diese neuen Bio-Dörfer funktionieren am besten, wenn sie im Speckgürtel von Metropolen angesiedelt sind.

Die Bio-Landwirtschaft trägt auch noch auf andere Weise zur Entwicklung der Dörfer bei: Dörfer können hier zu einem Versuchsraum für intelligente Verschaltungen mehrerer regenerativer Energiequellen werden. In Dörfern können jene Modelle von Effizienz und Nachhaltigkeit erprobt und optimiert werden, die global gefragt sind. Viele Dörfer in Europa haben die wirtschaftliche und infrastrukturelle Basis, um zukunftsfähige Modelle zu entwickeln und zu testen, die später auch im ländlichen Raum von Entwicklungs- und Schwellenländern angewendet werden können. Nebenbei ist die Nutzung von Biomasse, Erdwärme, Wind- und Sonnenenergie eine potenzielle Grundlage für neue Wertschöpfung in ländlichen Regionen.

Außerdem steht das Dorf für ein Gemeinschaftsgefühl, das in Städten oft fehlt. So manche Großstadtfamilie verbringt ihre Ferien heute auf dem Land, und besonders Städter blättern gerne in Magazinen wie Landlust oder kaufen vom Biobauern aus der ländlichen Umgebung. Urlaub auf dem Land erfreut sich großer Beliebtheit. Stadtnahe ländliche Gebiete erleben im Gegensatz zu entlegenen Orten sogar einen Aufschwung – der steigenden Mietpreise in den Metropolen sei Dank. New-Work-Konzepte wie Home Office und dezentrales Arbeiten nehmen dem Pendeln seinen Schrecken. Voraussetzung für diese neuen Arbeitsmodelle ist die weiter voranschreitende digitale Vernetzung der räumlichen Peripherie. Das gilt auch für die Niederlassung von Unternehmen oder die Gründung von Start-ups in ländlichen Gebieten – Zukunftslabore für erneuerbare Energien enstehen.

Inzwischen gibt es eine Vielzahl dieser Ökodörfer auf der ganzen Welt. In diesen DIY-Communities spielen fast immer Nachhaltigkeit, biologische Landwirtschaft und eine ausgeprägte Kommunikationskultur eine zentrale Rolle. Meist wird ein Teil des Eigenbedarfs an Lebensmitteln selbst erzeugt. Auch politische Mitbestimmung und Basisdemokratie gehören in den Ökodörfern zur Tagesordnung. Von den historisch gewachsenen Dörfern unterscheiden sich diese modernen Dörfer, neben ihrem hohen moralischen Anspruch, vor allem durch ihre hervorragende Vernetztheit. Das internationale »Global Ecovillage Network« verbindet Ökodörfer auf dem ganzen Globus.

Die Vergemeinschaftungsform des Dorfes fasziniert nicht nur Menschen, die sich für ein Leben im Ökodorf entscheiden. Auch in Städten wird nach Community-Prinzipien gesucht. Selbst Unternehmen greifen auf dorfähnliche Strukturen zurück, um ihre Mitarbeiter zu einer Gemeinschaft zu machen. Durch zunehmende Konnektivität ist der physische Ort zweitrangig geworden, und die Grenze zwischen Urbanität und Dörflichkeit verschwimmt: Während Städter nach dörflichen Vergemeinschaftungsformen suchen, halten urbane Lebensstile und Themen Einzug in die Dörfer. Viele Charakteristika des Städtischen lösen sich vom physischen Lebensraum Stadt.

Weltoffenheit, Kreativität, digitale Vernetztheit und Diversität sind längst nicht mehr nur urbanen Zentren vorbehalten. Inzwischen beschäftigen sich auch Designer mit der Frage, wie das Dorf von morgen aussehen soll. Design kann einen wichtigen Beitrag dazu leisten, um das Land lebenswerter zu gestalten. Dörfer haben eine mannigfaltige Zukunft: die Chancen müssen nur rechtzeitig erkannt und von mutigen Pionieren vorangetrieben und umgesetzt werden.


Dieser Text erschien in BIORAMA #48 in der Rubrik Die Welt, die wir uns wünschen.

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