Stirbt der Hornochs aus?

Um Kälbern die schmerzhafte Enthornung zu ersparen, setzt die Zucht verstärkt auf genetisch hornlose Rinder. Auch das bringt Probleme.

Im Alpenraum tragen noch vergleichsweise viele Rinder Hörner. Das mag mit Tradition zu tun haben, aber auch daran liegen, dass es dort noch häufiger Ställe mit Anbindehaltung gibt. Bild: Istock/Lindybug.

Jahrtausendelang waren stattliche Hörner praktisch und deshalb erwünscht. Als Rinder nicht bloß wegen ihrer Milch oder für ihr Fleisch gehalten, sondern auch als Ochsen vor Karren gespannt wurden (»Dreinutzungsrind«), befestigte man das Geschirr meist um die Hörner der Zugtiere. Rinder, die zufällig ohne Horn geboren wurden, ließen sich deshalb kaum verkaufen. Mittlerweile verhält es sich umgekehrt. »Auf Viehmärkten sind behornte Tiere immer schwerer zu bekommen«, weiß Anna Koiner, Veterinärmedizinerin und Geschäftsführerin des Verbands Fleischrinder Austria. Und je mehr Rinder ohne Hörner in Ställen und auf Weiden stehen, desto schwerer vermittelbar werden ihre horntragenden Artgenossen. Hornlose und horntragende Tiere lassen sich zwar vergesellschaften, oft bringt das aber Probleme. Bei Tiertransporten ist es sogar verboten, behornte und unbehornte Tiere gemeinsam in einer Transportbucht zu führen. GenetikerInnen schätzen, dass – je nach Rasse und Region – bereits bis zu 90 Prozent der Tiere hornlos sind. Selbst auf Milchpackungen sind immer häufiger Kühe ohne Hörner zu sehen.

Diese Entwicklung ist relativ jung. Dass Kälbern gleich nach der Geburt die Hornknospen weggebrannt werden, tauchte paradoxerweise mit der Entwicklung hin zu mehr Tierwohl auf. Denn erst seit Rinder immer seltener angebunden in Ställen stehen und vermehrt Laufställe gebaut wurden, werden sie immer häufiger enthornt. Die Rechtfertigung für den schmerzhaften Eingriff, der nur bei sedierten Kälbern bis zum Alter von sechs Wochen und mit lokaler Betäubung durchgeführt werden darf: Mit Hörnern fallen Verletzungen schwerer aus, wenn sich frei bewegende Tiere untereinander ihre Rangordnung regeln. Auch die Arbeitssicherheit der Bäuerinnen und Bauern wird als Argument genannt.
Hörner wachsen ein ganzes Rinderleben lang. Sie sind durchblutet und mit Nerven durchzogen. Sie werden als Waffe eingesetzt und spielen eine Rolle im Sozialverhalten. Wofür die Evolution sie außerdem hervorgebracht haben könnte, darüber gibt es viele Theorien. Weit verbreitet ist etwa die These, dass sie der Wärmeregulierung dienen (wofür etwa spricht, dass Rinder in heißen, tropischen Weltgegenden deutlich längere Hörner haben). Züchterisch wird jedenfalls aktiv gegen Hörner vorgegangen. Bereits annähernd zehn Prozent aller Rinder ohne Hörner, schätzen NutztiergenetikerInnen, dürften nicht enthornt sein, sondern genetisch hornlos. Das heißt: Sie stammen von Elterntieren ab, die selbst keine Hörner haben. Dabei handelt es sich um ein dominant vererbtes Merkmal. Beim Fleckvieh waren 2021 bereits 25 Prozent aller Besamungsstiere für die künstliche Besamung genetisch hornlos. Zum Vergleich: 2011 waren erst 1,5 Prozent der Stiere, deren Sperma zur künstlichen Besamung eingesetzt wurde, hornlos. Da bei Sperma nicht zwischen bio und konventionell unterschieden wird, werden die Hornkühe auch auf Biobetrieben weniger.

Völlig verschwinden wird der Hornochs trotzdem nicht. Zumindest in der Generhaltungszucht – also in Rassen wie den Pustertaler Sprinzen oder den Ennstaler Bergschecken – bleiben Hörner als genetische Reserve jedenfalls bestehen. Als praktisch könnten sich Hörner auch erweisen, wenn sich eine Herde auf der Alm gegen Raubtiere verteidigen muss. »Es wird kein Zufall sein«, schätzt Anna Koiner, »dass die historisch schon lang genetisch hornlosen Rassen wie Angus oder von den Britischen Inseln kommen, wo es schon sehr lang keine Wölfe und Bären mehr gibt.«

BIORAMA #78

Dieser Artikel ist im BIORAMA #78 erschienen

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