Plötzlich Radland

Das Land Niederösterreich will mit einer neuen Mobilitätsstrategie zum Vorzeigeland beim Radfahren werden. Kann es das schaffen?

Radverkehr in Niederösterreich Grafik
Niederösterreich möchte mit der »Strategie für mehr Aktive Mobilität« zum Radland werden.

Als Kristin Harrich im Jahr 2014 nach Gmünd im Waldviertel zog, fühlte sie sich bald als Exotin. Mit dem Rad zum Einkaufen fahren, zu Bekannten, zum Schwimmen – »das macht man hier nicht«, stellte sie fest. »Man steigt ins Auto, und wenn es nur für die zwei Kilometer zum Billa sind.« Dass sich die Situation in der Kleinstadt von der in Graz und Wien, wo sie zuvor gelebt hatte, unterscheidet, damit habe sie natürlich gerechnet, sagt Harrich – »aber nicht in diesem Ausmaß«.

Radfahren von etwas Exotischem zur Normalität zu machen, das ist das Ziel der neuen Mobilitätsstrategie des Landes Niederösterreich. »Niederösterreich will zum Vorzeigeland bei der aktiven Mobilität, speziell beim Radfahren, werden«, hieß es im Frühling in einer Presseaussendung des Landes. Was Amsterdam und Kopenhagen im urbanen Raum vormachten, nehme man sich als Flächenbundesland vor, wird Landeshauptfrau Johanna Mikl-Leitner (ÖVP) darin zitiert, und: »Unsere Landsleute schaffen es bereits heute, über 22 Prozent aller Wege mit ihrer eigenen Muskelkraft zurückzulegen. Diesen Wert wollen wir auf 44 Prozent steigern.«

Erreicht werden soll das mit einer neuen, ebenfalls im Frühling veröffentlichten »Strategie für mehr Aktive Mobilität«, für deren Umsetzung die neu gegründete Radland GmbH – mit vollem Namen »Radland Niederösterreich – Agentur für Aktive Mobilität « – zuständig ist. Auf der Website radland.at wird das 44-Prozent-Ziel der Landeshauptfrau konkretisiert: Noch »in den 20er-Jahren« wolle man den Anteil der zu Fuß und auf dem Fahrrad zurückgelegten Wege auf 44 Prozent verdoppeln.

Zu wenige Daten

Können diese Ziele durch die Initiativen des Landes erreicht werden? Aktuell werden in Niederösterreich sieben Prozent aller Wege mit dem Fahrrad und 15 Prozent hauptsächlich zu Fuß zurückgelegt. Ein Bundesländervergleich ist schwierig, weil die letzte österreichweite Erhebung zu dem Thema aus dem Jahr 2013/14 stammt. Einer aktuellen VCÖ-Analyse auf Basis von Daten der Statistik Austria zufolge nutzen 70 Prozent aller NiederösterreicherInnen »zumindest gelegentlich« das Fahrrad als Verkehrsmittel, 31 Prozent tun das täglich oder mehrmals pro Woche. Damit liegt Niederösterreich im Bundesländervergleich im Mittelfeld – Spitzenreiter ist Vorarlberg mit 77 beziehungsweise 49 Prozent.

In Niederösterreich gaben 2019/2020 31,9 % der Bevölkerung ab 16 Jahren an, das Fahrrad täglich oder mehrmals in der Woche als Verkehrsmittel zu nutzen. 69,7 % nutzen es zumindest gelegentlich. In den Bundesländern Wien, Oberösterreich Kärnten und Tirol war der Anteil geringer. (Daten: Statistik Austria, VCÖ 2021).

In seiner Mobilitätsstrategie nennt Niederösterreich nun fünf Handlungsfelder, die es seinem Ziel näherbringen sollen: Erstens die Infrastruktur; zweitens die Multimodalität, also die möglichst reibungslose Verknüpfung von Rad-, Fuß- und öffentlichem Verkehr; drittens sollen neue Möglichkeiten etwa durch E-Mobilität und Sharing-Angebote bestmöglich genutzt werden; der vierte Punkt sind Bewusstseinsbildung und Information; der fünfte die Förderung und Beratung der Gemeinden.

Die neue Radland GmbH wird auf ihrer Website als »zentrale Anlauf- und Servicestelle für alle Fragen und Belange zur Förderung des Alltagsradverkehrs und Fußgängerverkehrs« beschrieben. »Sie vernetzt, informiert und unterstützt alle Partnerorganisationen, Gemeinden, Betriebe, Bildungseinrichtungen und Dienststellen des Landes NÖ, die gemeinsam an der Förderung der aktiven Mobilität zusammenarbeiten«, heißt es da. Unterhält man sich mit Radland-Geschäftsführerin Susanna Hauptmann, schrumpft die Agenda der Agentur allerdings stark zusammen: Die Radland GmbH sei dezidiert für die Bewusstseinsbildung da, sagt sie – es gehe darum, das Radfahren als eine selbstverständliche Möglichkeit der Fortbewegung in den Köpfen zu etablieren. Die Agentur organisiere unter anderem Kurse und Workshops für Kinder und SeniorInnen, Infostände sowie Gewinnspiele und Wettbewerbe, bei denen besonders radfreundliche Städte und Gemeinden ausgezeichnet werden, und betreibe das Leihradservice Nextbike.

Dass Bewusstseinsbildung vielerorts sinnvoll und nötig ist, zeigen Erfahrungen wie die von Kristin Harrich, der Radlobby Niederösterreich und ExpertInnen der Mobilitätsorganisation VCÖ. Sie sagen allerdings auch: Der Kulturwandel allein reicht nicht aus, solange es an der Infrastruktur hapert. Und die sei in Niederösterreich auf touristischen Routen wie dem Donauradweg oft sehr gut – wenn es um den Weg in die Arbeit oder gar um einen sicheren Schulweg für Kinder gehe, aber nicht. Gerade zwischen den Gemeinden hätten Radfahrende oft keine Alternativen zum Radeln auf Landesstraßen, auf denen LKW mit 100 km/h vorbeirasen. Kristin Harrich erzählt von einem vor einigen Jahren gebauten Strandbad drei Kilometer außerhalb von Gmünd, wo sofort für viel Geld ein großer Parkplatz für PKW geschaffen worden sei – einen sicheren, für Jugendliche oder Familien geeigneten Radweg dorthin gebe es hingegen bis heute nicht, ebenso wenig einen Bus.

Natürlich sei die Infrastruktur wichtig, sagt Radland-Geschäftsführerin Susanna Hauptmann, zugleich Radbeauftragte des Landes. »Aber ich lasse das nicht als Ausrede gelten. Es kann, überspitzt formuliert, nicht für jeden seinen persönlichen Radweg geben.« Die Infrastruktur sei besonders für die Menschen wichtig, die bereits Rad fahren – für jene, die das noch nicht tun, sei die Bewusstseinsbildung wesentlicher.

Karte der Radwege in Niederösterreich
Diese Regionen sollen Rad-Basisnetze (früher „Grundnetze“) bekommen. Quelle: »Strategie für mehr aktive Mobilität in NÖ – Fit in die Zukunft«, Schriftenreihe Heft 40, 2021.

Elisabeth Füssl, Soziologin, wissenschaftliche Mitarbeiterin am auf Mobilität spezialisierten privaten Forschungsinstitut Factum und stellvertretende Vorsitzende der Radlobby Niederösterreich, sieht das anders: »Wenn Leute das Radfahren einmal ausprobieren und dann endet plötzlich der Radweg im Nichts und sie werden auf einer Landesstraße von LKW mit 100 km/h überholt, dann ist das frustrierend und sie lassen es wieder.« Wolle man das Radfahren als ernst zu nehmende Alternative zum Auto etablieren, »dann braucht es auch eine ernst zu nehmende Infrastruktur, die genauso durchdacht und lückenlos ist wie die für PKW.«

Tatsächlich plant das Land Niederösterreich auch neue Infrastrukturprojekte. Auf ausgewählten Strecken will es bis 2030 insgesamt 200 Kilometer an neuen Radschnellwegen bauen, breit, baulich getrennt, möglichst direkt, mit gutem Belag und Schneeräumung im Winter. Und innerhalb regionaler Zentren hat es in den vergangenen Jahren die Planung sogenannter Rad-Basisnetze finanziert, die sowohl an die Schnellwege als auch an den öffentlichen Verkehr angebunden werden sollen. Es sind Projekte, die ExpertInnen und Alltagsradfahrende durchwegs für sinnvoll halten und die Niederösterreich seinen Zielen deutlich näher bringen könnten.

Wie so oft wird es hier allerdings darauf ankommen, ob und wie gut die schönen Pläne umgesetzt werden. Die Region Gmünd-Schrems etwa, wo Kristin Harrich wohnt, soll sowohl ein Rad-Basisnetz als auch einen Radschnellweg bekommen. Doch das Projekt Basisnetz liege derzeit auf Eis, sagt Harrich, die sich bei der örtlichen Radlobby engagiert. Sie befürchtet, dass jetzt alle Energie ins langfristige Prestigeprojekt Radschnellweg fließt und in den Jahren bis zu seiner Fertigstellung beim Basisnetz nichts weitergeht.

In den Köpfen bewegt sich was

Für alles, was innerhalb von Gemeinden geschieht und keine Landesstraßen betrifft, sind die Gemeinden zuständig. Auch dort, bei vielen BürgermeisterInnen und GemeinderätInnen, sei in den vergangenen Jahren das Bewusstsein für die Klimakrise und für nötige Veränderungen bei der Mobilität gewachsen, sagt Elisabeth Füssl von der Radlobby: »Da tut sich schon einiges, was bis vor Kurzem undenkbar war.« Aber mit gutem Willen allein ist es nicht getan. Mitunter scheitern Radverkehrsprojekte an örtlichen Gegebenheiten oder Widerständen von Einzelnen, etwa von GrundbesitzerInnen. Manchmal an der Angst davor, dem Autoverkehr etwas wegzunehmen, Parkplätze, einen Teil der Fahrbahn oder auch ein bisschen Geschwindigkeit durch die Senkung eines Tempolimits. 

Fahrrad am Schotterweg
Oft ist für RadfahrerInnen die einzige Alternative zur Landesstraße ein geschotterter Güterweg. Bild: Istock.com/Fotofritz16.

Manchmal scheitere es am Geld, sagt Elisabeth Füssl: »Das Land fördert zwar bauliche Maßnahmen, die Formalitäten erscheinen manchen GemeindevertreterInnen aber langwierig und kompliziert, das macht es für einige Gemeinden unattraktiv.« In seiner neuen Mobilitätsstrategie hat das Land ein erhöhtes Budget für den Radverkehr angekündigt, allerdings ohne das zu beziffern. Auf Nachfrage schreibt die Sprecherin der Radland GmbH, man habe in den Jahren 2015 bis 2020 durchschnittlich rund zwei Millionen Euro pro Jahr für Radwege investiert (gut die Hälfte davon für touristische); 2021 seien es drei Millionen für Infrastruktur, eine Million für die Bewusstseinsbildung und zwei Millionen für touristische Radwege gewesen, und für 2022 und 2023 stünden jeweils vier Millionen zur Verfügung. Aus Sicht der Grünen ist das immer noch zu wenig: »Das entspricht der Errichtung von nicht einmal 10 Kilometern eines gut ausgebauten Rad-Schnellweges pro Jahr«, sagt der Landtagsabgeordnete Georg Ecker. Außerdem seien im entsprechenden Budgetposten auch »Dotierungen von Rückstellungen« in der Höhe von 4,25 Millionen Euro enthalten, sodass unklar sei, wie viel von dem Geld tatsächlich in die Radinfrastruktur fließe. Das Budget für den Straßenbau wurde wegen der Coronakrise gekürzt – es beträgt jetzt für die kommenden beiden Jahre 175 Millionen Euro.

Und manchmal scheitert es an der Kompetenz: »Die Menschen, die in den Gemeinden die Verkehrsplanung machen, sind es seit Jahrzehnten gewöhnt, alles autooptimiert zu gestalten«, sagt Christian Gratzer vom VCÖ. »Aber wenn man darauf hinweist, dass man nur eine Kleinigkeit verändern muss, ist der Wille bei vielen vorhanden.« Dass das Land den Gemeinden laut Mobilitätsstrategie in Zukunft verstärkt Beratung anbieten will, sieht er daher besonders positiv.

Gratzer hält das 44-Prozent-Ziel des Landes für sehr ambitioniert, aber für machbar – wenn Niederösterreich wirklich alles bestmöglich umsetzt, was es angekündigt hat. Wichtig sei dabei aber nicht nur, was gemacht wird, sondern auch, was in Zukunft nicht mehr gemacht wird: neue Supermärkte auf der grünen Wiese etwa oder der Bau neuer Straßen. Man kann dabei zum Beispiel an große Projekte wie die Ost-Umfahrung Wiener Neustadt denken. Die kostet nicht nur viel Geld – sie wird, sagt etwa die Initiative »Vernunft statt Ost-Umfahrung« oder die Klubobfrau der Wiener Neustädter Grünen, Selina Prünster, auch mehrere schon bestehende Radwege kappen. 

Offenlegung:
Die Autorin ist freie Journalistin und Chefredakteurin des Fahrradmagazins Drahtesel, das von der Radlobby Österreich herausgegeben wird.

BIORAMA Niederösterreich #8

Dieser Artikel ist im BIORAMA Niederösterreich #8 erschienen

Biorama abonnieren

VERWANDTE ARTIKEL