Der Schwarm isst aus der Petrischale

Jörg Heynkes hat ein optimistisches Buch darüber geschrieben, weshalb digitaler Fortschritt hervorragend geeignet ist, die Welt zu retten. 


“Technische Entwicklungen und Fortschritt sind weder gut noch schlecht an sich.” So lautet der erste Satz im aktuellen Buch “Zukunft 4.1” des Wuppertaler Unternehmers und Autors Jörg Heynkes. Geschrieben hat den Satz Robert Habeck, der das Vorwort beigesteuert hat. Dass der Co-Vorsitzende der deutschen Grünen Einiges von dem, was Jörg Heynkes in dem 315-Seiten-Werk entfaltet, teilt, könnte manche seiner Parteigängerinnen und Parteigänger überraschen. Denn das Buch ist eine Denkschrift zur Gestaltung der Zukunft, die der Digitalisierung und der Kraft der wissenschaftlichen und technischen Innovation jede Menge Potenzial einräumt. Verzicht auf Fleischessen oder Autofahren spielt darin eher Nebenrollen. Eine nachhaltige Transformation der Wirtschaft ohne ständige Appelle, auf liebgewonnene Gewohnheiten der Industriegesellschaft zu verzichten – darum geht es dem optimistischen Autor. Kann das wirklich gelingen und wo liegen dabei die Schwierigkeiten? Ein Gespräch mit Autor Jörg Heynkes.

Was stellen Sie sich unter der Zukunft 4.1 vor und worin besteht überhaupt das Update zur Zukunft 4.0? Geht es um das, was häufig als Industrie 4.0 bezeichnet wird?

Jörg Heynkes: “Der Begriff Industrie 4.0, den man ja vor allem im deutschen Sprachraum verwendet, bezieht sich ja auf einen sehr bestimmten Bereich, nämlich auf die industrielle Produktion durch miteinander vernetzte Maschinen. Das ist natürlich sehr spannend, aber mir persönlich wird das zu kurz gedacht. Ich wollte mit dem Begriff Zukunft 4.1 darauf hinweisen, dass es bei der zukünftigen Vernetzung von Produkten und Menschen um viel mehr geht. Es geht es ja im Grunde um nichts Anderes als die vierte industrielle Revolution und die ist natürlich viel umfangreicher als es der Begriff Industrie 4.0 vermuten lässt. Es gibt keine einzige Branche, die sagen kann: Damit haben wir nichts zu tun. Und deshalb reicht die Zukunft 4.1 viel weiter als die Industrie 4.0. Künstliche Intelligenz verändert die Fähigkeiten und Chancen von 7,5 Milliarden Menschen, zu denen täglich 250.000 Menschen hinzukommen. Es geht darum, Ernährung, Energieversorgung und Mobilität weiterzuentwickeln, ohne den Planeten dabei weiter zu zerstören. Die vierte industrielle Revolution gibt uns alle Möglichkeiten, das zu schaffen. Das ist meine These.”

Es gibt viele Leute, die sich fragen, was wir tun können, um unsere Lebensgrundlagen zu erhalten. Und manche kommen zu ganz anderen Thesen. Da gibt es zum Beispiel von Andrea Wilkens ein Buch, das heißt “Analog ist das neue Bio”. Seine These ist, dass es gerade nicht die Digitalisierung ist, die uns hilft.

“Es gibt natürlich diverse andere Thesen zu den Potenzialen der Digitalisierung. Ich glaube, dass ein ganz entscheidender Unterschied zwischen meiner und viele anderen Thesen dieser ist: Ich glaube nicht an den Weg der Bewusstseinsveränderung. Ich glaube nicht, dass wir unsere gigantischen Herausforderungen, zum Beispiel den Klimawandel, in dem kurzen Zeitfenster, das uns dafür zur Verfügung steht, bewältigen können, indem sich unser Bewusstsein wandelt. Ich glaube nicht an die Bereitschaft von Massen der Gesellschaft zum Verzicht. Wir könnten unseren CO2-Ausstoß senken, indem wir deutlich weniger Fleisch essen. Allerdings gibt es weltweit immer mehr Fleischesser, der Fleischverzehr steigt. Diese Menschen alle dazu zu bringen, weniger zu essen, kann ich mir in dem Zeitfenster, das uns zur Verfügung steht, einfach nicht vorstellen. Ich kann mir allerdings vorstellen, Fleisch ohne Antibiotikaresistenzen, ohne Grundwasser-Verseuchung, ohne ethische Probleme in der Tierzucht und ohne all die schrecklichen Begleiterscheinungen, die wir aktuell in der Fleischproduktion haben, herzustellen. In-Vitro-Fleisch ist eine technische Lösung, Fleisch im industriellen Maßstab herzustellen, ohne den Flächenverzehr und die anderen negativen Begleiterscheinung. Solche Möglichkeiten eröffnet uns die Zukunft 4.1.”

Bild: iStock (c) Chiradech

Sie schreiben in ihrem Buch von der Welternährung aus der Petrischale. Viele Menschen lehnen doch eine solche hochindustrialisierte Lebensmittelproduktion ab. Bräuchte man nicht auch dafür einen Bewusstseinswandel?

Jörg Heynkes: “Da haben sie völlig Recht. Ganz ohne einen Bewusstseinswandel wird es nicht gehen. Um kurz beim Thema In-Vitro-Fleisch zu bleiben: Es wird wahrscheinlich so sein, dass sich dieses Fleisch an dem Tag auf dem Markt durchsetzt, an dem es nicht nur die zahlreichen Umweltprobleme löst, von denen ich eben sprach, sondern an dem es auch preiswerter ist, als das Fleisch, das wir heute beim Discounter kaufen. Es wird sich nicht durchsetzen, nur weil es weniger ökologische Probleme produziert. Dasselbe gilt für Aquaponik. Wir werden es sicherlich in den nächsten Jahrzehnten erleben, dass überall in unseren Großstädten urbane Farmen eröffnen, in denen gesunde Lebensmittel produziert werden, die deutlich ökologischer sind, als das, was wir heute auf unseren Feldern anbauen. Denn auf Feldern hat niemand wirklich im Griff, welchen Schafstoffen die Lebensmittel ausgesetzt sind. In geschlossenen Urban Farms haben wir das allerdings. Hier können wir gesunde Lebensmittel erzeugen, ohne Transportwege und mit grüner Energie. Das wird unsere Ernährung an vielen Stellen revolutionieren. Dafür brauchen wir keinen großen Bewusstseinswandel.


Jörg Heynkes bei einem seiner Vorträge (Bild: Gunnar Bäldle)

Über Jörg Heynkes:

Wer auf die Website von Jörg Heynkes kommt, wird mit einem Zitat begrüßt. “Erfolg ist der perfekte Zeitpunkt, den nächsten Schritt zu machen.” Schritte, hat er nach eigenen Angaben schon einige gemacht. Er war Schauspieler, ist gelernter Werbefotograf und hält als professioneller Keynote Speaker Vorträge über die digitale Transformation.  Er betreibt die Wuppertaler “VillaMedia” wo das “Innovationszentrum NRW” beheimatet ist und bietet unterschiedliche Beratungs-Dienste an. Das Reden über den Fortschritt ist der Job des professionellen Optimisten. Seine Thesen sind manchen dabei zu unkritisch und technologiegläubig. Seinen Kritikerinnen und Kritikern antwortet er, er sei eben Realist.


Die Gentechnik zum Beispiel, wird in weiten Teilen der Bevölkerung abgelehnt. Steht hier das Bewusstsein der Zukunft im Weg?

“Da leben wir in Deutschland und Europa in einer bizarren Welt. Es ist ja geradezu töricht, wie der Europäische Gerichtshof im Fall der Genschere Crispr-CAS entschieden hat. Durch das Urteil wurde nur eines erreicht: Und zwar, dass die gesamte technologische Entwicklung aus Europa abwandert. Das Urteil war ein Milliardengeschenk für Bayer-Monsanto. All die mittelständischen und kleinen Biotech-Firmen in Europa, die darauf gehofft hatten, durch die neuen Methoden dieser Gentechnik die Risiken bei ihrem Einsatz deutlich zu senken, werden durch dieses Urteil aus Europa herausgedrängt. Im Fall von In-Vitro-Fleisch sitzen die relevanten Entwickler heute in Israel, den Niederlanden und an der amerikanischen Westküste, finanziert von den Tech-Milliardären aus Kalifornien. Diese Entwicklung lässt Europa wieder einmal an sich vorbeigehen. Wir machen uns da zum reinen Konsumenten, was völliger Irrsinn ist.”

Streng genommen, ist es auch heute kein technologisches Problem, die Welt zu ernähren, sondern ein riesiges Verteilungsproblem. Ändert sich daran etwas, wenn Lebensmittel aus High-Tech-Labors stammen?

Jörg Heynkes: “Ja. Und zwar massiv. Der technologische Fortschritt wirkt sich ja auch auf heute benachteiligte Länder aus. Wir dürfen eines nicht unterschätzen: Ein erheblicher Teil der Futtermittel für die Tiere, die wir töten und essen, wird heute im Globalen Süden angebaut. Und zwar nicht unbedingt von sympathischen Kleinbauern, sondern von Großkonzernen, die diese Bauern zu Tagelöhnern gemacht haben. An dem Tag, an dem sich In-Vitro-Fleisch auf dem Markt durchsetzt, werden wir 70 % der landwirtschaftlichen Flächen weltweit für den Gemüseanbau freibekommen. Das hilft den Menschen in ärmeren Ländern dabei, ihre Familien zu ernähren und wirtschaftliche Perspektiven zu entwickeln.”

Bild: iStock (c) Alex011973

Ein ganz grundlegende These Ihres Buchs lautet, dass binär besser ist. In einer binären, digitalisierten Welt brauchen die Menschen ständig Strom, eine Internet-Verbindung und auch eine gewisse Vorbildung, also Digital Literacy. Bisher gibt es das nicht flächendeckend. Wie kann die Infrastruktur für eine digitalisierte Welt weiter ausgebaut werden?

Jörg Heynkes: “Natürlich haben wir dank der Digitalisierung heute die Möglichkeit, die Welt mit erneuerbaren Energien zu versorgen. Wir haben ja alle Technologien, die wir dazu brauchen, längst. Wir müssen sie nur konsequenter nutzen und realisieren. Die Unternehmensberatung McKinsey hat ausgerechnet, dass bis zum Jahr 2022 erneuerbare Energien die preiswerteste Alternative darstellen werden, wenn es um den Bau neuer Kraftwerke geht. Ab diesem Zeitpunkt werden Investoren weltweit kein Interesse mehr haben, Kohlekraftwerke zu bauen, weil sie nicht mehr ökonomisch sein werden. Wenn wir dann auch zu einer intelligenteren Sektorenkupplung kommen, und Energie für die Wärmegewinnung, für die Stromversorgung und für die Ermöglichung von Mobilität sinnvoller kombinieren, dann wird es große Effizienzsteigerungen geben. Unser Problem, grüne Energien in ausreichendem Maße zur Verfügung zu haben, wird sich in den nächsten 15 bis 20 Jahren lösen. Und die Internetversorgung ist perspektivisch nicht wirklich ein Problem. Dafür werden Internet-Riesen wie Facebook, Alibaba, Google oder Amazon schon sorgen. Die haben schließlich ein erhebliches Interesse an schnellem Internet.”

Der Netzausbau scheint bisher allerdings auch nicht überall schnell voranzukommen.

Jörg Heynkes: “Stimmt. Aber da wird sich etwas tun. Es gibt zum Beispiel aktuell bei Airbus ein Projekt, in dem große, unbemannte Drohnen entwickelt werden, die bis zu drei Monate in der Luft bleiben können, rein Solarbetrieben. Solche Drohnen könnten in Zukunft große Flächen in Afrika, Lateinamerika oder Asien mit digitalen Services versorgen. Die Internet-Konzerne dieser Welt werden es sich nicht entgehen lassen, solche Technologien zu nutzen und davon zu profitieren.”

In digitalen Technologien gibt es immer auch ein Machtgefüge. Und deshalb stellt sich in einer digitalen Welt am Ende auch die Frage, wer die Admin-Rechte hat. Wie kommt man da zu einer vernünftigen Lösung, bei der nicht einfach Unternehmen über die Macht verfügen?

Jörg Heynkes: “Das ist natürlich eine sehr berechtigte Frage. Sie politisch zu beantworten, würde voraussetzen, dass man sich überhaupt endlich darum kümmert. Das, was sie beschreiben, dass Unternehmen über Macht in einer digitalen Welt verfügen, ist ja heute der Status-quo. Das ist keine Zukunftsmusik. Das ist heute so. Es gibt in Europa keinen Datenschutz. Oder wissen Sie, was der Staat über sie weiß?”

Bild: iStock (c) TommL

Nein. Nich wirklich. Ich weiß auch nicht, was Unternehmen über mich wissen.

Jörg Heynkes: “Genau. Niemand von uns weiß, welche Daten wer über uns hat. Das ist inakzeptabel. Wenn wir das verändern wollen, brauchen wir viel mehr Wissen bei jedem Einzelnen. Diese digitale Kompetenz geht uns heute in Europa völlig ab. Und natürlich brauchen wir entsprechende Regularien. Ich war vor ein paar Wochen in Tallinn, in Estland. Dort kann man sich exemplarisch ansehen, wie so etwas aussehen kann. In Estland hat jeder Bürger eine digitale ID, über die er sich identifiziert und über die er online auf alles zugreift, was der Staat an digitalen Services zur Verfügung stellt. Autoanmeldung, Kindergarten-Anmeldung, Steuererklärung, das geht alles über eine einzige Plattform. Das ist alles sehr bequem und smart. Vor allem ist es aber transparent, weil jeder Bürger sehen kann, welche Daten der Staat über ihn gesammelt hat, und wer darauf wann zugegriffen hat. Das ist ein Beispiel dafür, wie Governance und Administration im digitalen Zeitalter aussehen können. Auch Unternehmen können sich an das System andocken, wenn sie sich verpflichten, die entsprechenden Spielregeln einzuhalten. Das ist eine Konstruktion, die es erlaubt, ein gewisses Maß an Datenrecht- und Selbstbestimmung herzustellen. Davon sollten wir lernen und es weiter entwickeln.”

Sie sind optimistisch. Es war allerdings zu fast jeder Zeit so, dass Menschen daran geglaubt haben, Technologien würden ihnen dabei helfen, die Welt zu verbessern. In den 1950er Jahren galt zum Beispiel die Atomkraft als sehr sauber. Heute sehen das viele Menschen anders. Was schützt uns vor technologischen Irrwegen?

Jörg Heynkes: “Keine einzige Technologie ist böse. Keine. Das Schießpulver wurde nicht erfunden, um Menschen zu töten. Technologie ist nie gut und nie böse. Es gibt gute Menschen, böse Menschen und dumme Menschen – übrigens leider viele. Es geht immer darum, wie Menschen Technologie nutzen. Deshalb finde ich es wichtig, nicht Technologien mit Skepsis zu begegnen, sondern den Menschen, die sie falsch, böse, intrigant oder zerstörerisch nutzen. Wer zwingt sie denn zum Beispiel dazu, bei Amazon einzukaufen? Niemand. Weshalb tun sie es trotzdem, obwohl sie wissen, dass es ihren stationären Einzelhandel zerstört? Die Menschen, die dort ständig kaufen und bewusst ihre Innenstädte zerstören, machen das, weil sie einen guten Deal zu machen glauben, und weil sie bequem sind. Deshalb sind Amazon oder der Versandhandel nicht per se böse.”

Vor zwanzig Jahren hätten wohl auch niemand geglaubt, dass unsere Innenstädte einmal voll von Geschäften sein würden, in denen man Kaffee zum Mitnehmen im Einwegbecher kaufen kann. Trotzdem ist Coffee To Go ein disruptives Geschäftsmodell, das die Menschen mögen, und von dem man offenbar gut leben kann. Was schützt uns vor Geschäftsmodellen und Technologien, die langfristig nicht unbedingt sinnvoll und langfristig auch nicht ökonomisch sind?

Jörg Heynkes: “Uns vor solchen Auswüchsen besser zu schützen, wäre natürlich wünschenswert. Coffee To Go ist eines der besten Beispiele dafür, welchen Irrsinn wir fabrizieren. Es kann wohl niemand verstehen, wie man den Menschen einreden konnte, es sei eine schöne Sache, Kaffee zu trinken, während man durch die Innenstadt rennt, um dann den Becher wegzuwerfen. Ich würde mir wünschen, Politik würde solche Dinge einfach so hoch besteuern, dass sie keinen Sinn mehr machen.”

Aber könnten nicht auch solche Steuern den technologischen Fortschritt bremsen?

Jörg Heynkes: “In Coffee To Go steckt doch keine Technologie. Wenn sie ausreichend Ressourcen einsetzen und die Marketing-Klaviatur beherrschen, können Sie Menschen einreden, es sei cool, einen Kaffeebecher in der Hand zu halten. Dahinter steckt weniger Technologie als ein raffiniertes Marketingkonzept, mit dem sie aus jedem völlig schwachsinnigen Produkt einen Welthit machen können.”

Sie nennen als Beispiel für eine unvernünftige ökonomische Entwicklung auch die deutsche Autoindustrie. Sie argumentieren, die Branche hätte beim Thema Elektromobilität längst den Anschluss an die Konkurrenz aus Frankreich, den USA, Japan und China verpasst. Steckt dahinter technologischer Rückstand oder mehr?

Jörg Heynkes: “Das Problem ist sicher vielfältig. Die Motivation der deutschen Autohersteller, die Entwicklung vom dreckigen Verbrennungsmotor zum effizienten Elektromotor bewusst zu boykottieren, besteht ja im Schutz des eigenen Geschäftsmodells. Die Kernkompetenz deutscher Autohersteller ist nun einmal das Bauen von Verbrennungsmotoren.”

Galt das nicht auch für andere Autohersteller?

Jörg Heynkes: “Nein. Sie müssen eines sehen: Ein Elektroauto kann fast jeder Student bauen. Aber einen ausgereiften Achtzylinder-Benzin- oder Dieselmotor zu bauen, ist richtig komplex. Dass der chinesische Staat die Elektromobilität so stark vorantreibt, hat ja nicht nur damit zu tun, dass China so eines seiner zahlreichen Umweltprobleme lösen will. Es geht dabei auch um Industriepolitik. In Zeiten des Benzinmotors hatten chinesische Unternehmen schlicht keine Chance, sich auf dem Weltmarkt durchzusetzen. Mit den Elektroautos haben sie allerdings eine Chance. Das ist ein ganz wichtiger Aspekt. Persönlich bin ich schon so ziemlich jedes Elektroauto, das man kaufen kann, gefahren. Und ich muss schon sagen, dass die deutschen Modelle ihren französischen, asiatischen und amerikanischen Wettbewerbern im Preis-Leistungs-Verhältnis deutlich unterlegen sind. Das ist für die deutschen Hersteller natürlich bitter. Ein Nissan Leaf kostet 15.000 Euro weniger als ein BMW i3, ist ihm aber technologisch ebenbürtig. Das tut weh. Dass die deutschen Autokonzerne den Sprung zum Elektroantrieb möglichst lange hinauszögern wollen, kann ich verstehen. Falsch ist es trotzdem und es kann sie die eigene Existenz kosten.”

An welche Orte auf der Welt sollte man reisen, um einen Vorgeschmack auf die Zukunft 4.1 zu erhalten?

Jörg Heynkes: “Mit Sicherheit in asiatische Megastädte. Dort erleben Sie Dinge, die in Europa kaum vorstellbar sind. Ich würde die Zukunft 4.1 allerdings gar nicht so räumlich festmachen. Man muss nur die Augen öffnen, um sie zu erkennen. Die Digitalisierung ist ja schon weit fortgeschritten und wir nutzen sie bereits in einem erheblichen Maße. Das realisieren wir oft gar nicht. Was wir heute mit unserem Smartphone tun können und wie sehr wir davon profitieren, empfinden wir ja als mehr oder weniger selbstverständlich. Wir haben trotzdem – vor allem in Deutschland – eine unglaubliche Technik- und Innovationsfeindlichkeit in unserer Gesellschaft. Das ist ein Dilemma, dass wir nicht lösen können, indem wir irgendwo hinfahren. Wir misstrauen allem Neuen und haben in Wirklichkeit Angst vor Veränderung. Das ist natürlich sehr pauschalisiert, aber für viele Menschen trifft das zu. Bei vielen Veränderungen stellen sie zunächst einmal die Frage, ob sich  dadurch nicht eventuell etwas verschlechtern könnte. Das liegt auch daran, dass es vielen Leuten bei uns sehr gut geht. Das ist natürlich nicht sehr optimistisch und der Ansatz macht nicht gerade Mut.”

Worin liegt denn dieses Skepsis gegenüber Neuem begründet? Das kann doch nicht nur am Wohlstand liegen. Der ist ja schließlich auch nicht durch Stillstand entstanden.

Jörg Heynkes: “Wenn man sich den Unterschied zur US-amerikanischen Gesellschaft ansieht, dann könnte es daran liegen, dass dort viele Nachfahren von Auswanderern leben. Die sind vor etlichen Jahren in die Boote gestiegen und hatten keine Ahnung, was in der Neuen Welt auf sie zukommt. Die haben sich einfach auf die neue Welt eingelassen. Wir Europäer stammen von denen ab, die geblieben sind. Überspitzt gesagt: Wir sind ein Volk von Angsthasen! Vielleicht hängt das mit unserer Technologieskepsis von heute zusammen. Vielleicht ist das eine Erklärung. Wir müssen eine andere Haltung entwickeln und dem Neuen neugierig begegnen. Wir sollten uns endlich auf die Chancen, statt auf die Risiken fokussieren. Jenseits aller Probleme die wir heute haben, müssen wir doch eines endlich erkennen: Diese Welt ist immer besser geworden, dank technologischer Entwicklungen im Laufe der drei bereits vergangenen industriellen Revolutionen. Wäre dem nicht so, dann säßen wir nicht so bequem und könnten uns nicht so ausgiebig in der Hängematte wälzen.”

Bild: Pixabay

Technologische Entwicklungen haben allerdings immer auch gewisse Rebound-Effekte. Wo Effizienz erhöht wird, bedeutet das nicht zwingend, dass deshalb auch weniger der eingesetzten Ressourcen verbraucht werden. Ist das Problem lösbar?

Jörg Heynkes: “Rebound-Effekte wird es wohl immer geben. Damit werden wir uns abfinden müssen. In meinem Buch gibt es ein Kapitel zum Thema Schwarm-Mobilität. Da beschreibe ich, dass es in einer vernetzten Welt mit autonomen Fahrzeugen keinen Sinn macht, ein Fahrzeug zu besitzen. Das wird dazu führen, dass die Anzahl der Fahrzeuge um 90% reduziert wird, wir diese aber eben im Schwarm nutzen und diese nie mehr rumstehen werden. Es wird sicher, schnell, leise, komfortabel und wahnsinnig preiswert sein. Eine solche Entwicklung hat natürlich jede Menge Rebound-Effekte. Aber in unterschiedliche Richtungen, und das macht die Folgen so schwer zu kalkulieren und zu bewerten. Wenn Sie sich in Zukunft per Knopfdruck auf ihrem Smartphone ein Fahrzeug rufen können, ist das sehr praktisch. Wenn das dazu noch umweltfreundlich ist, führt das möglicherweise dazu, dass sie manchen Weg, den Sie heute noch zu Fuß oder per Fahrrad zurücklegen, in Zukunft im Schwarmmobil bewältigen. Dadurch könnte das Verkehrsaufkommen wachsen. Ich bin überzeugt davon, dass das passieren wird. Ein riesiger Rebound-Effekt. Gleichzeitig gibt es allerdings gegenläufige Rebound-Effekte. Heute sind 30 Prozent des Verkehrs in Innenstädten reiner Parkplatz-Such-Verkehr. Wenn keiner mehr einen Parkplatz sucht, weil wir in Schwarmmobilen unterwegs sind, fällt dieser Verkehr weg. Auch andere Fahrten könnten wegfallen. Eltern müssten ihre Kinder nicht mehr zur Schule oder in den Kindergarten bringen. Das könnten Schwarmmobile für mehrere Familien erledigen. Diese gegenläufigen Effekte zu kalkulieren ist nicht einfach.”

Für Sie ist Nachhaltigkeit ein Thema für Forschung und Entwicklung. Andere denken bei Nachhaltigkeit eher an traditionelle Baumethoden, an Selbstversorgung und Naturmaterialien. Ist das in Ihren Augen nur ein anderer Weg zur Nachhaltig, oder ein falscher?

Jörg Heynkes: “Also ich finde sowas total sympathisch. Ich würde mir wünschen, die 7,5 Milliarden Menschen würden morgen alle Vegetarier, Fahrradfahrer und würden ihren Energieverbrauch um 80 Prozent reduzieren. Dann wären wir einen erheblichen Teil unserer Probleme los. Wenn wir noch aufhören würden zu Morden, zu Rauchen und zu Saufen, dann hätten wir es bald geschafft. Allerdings glaube ich nicht, dass alle Menschen bereit sind, Vegetarier zu werden. Deshalb muss man beginnen, darüber nachzudenken, wie wir Fleisch anders herstellen können. Technologischer Fortschritt wird uns dabei helfen, Probleme zu lösen. Auch beim Thema Fleisch. Bei meinen Vorträgen frage ich jedes Mal zum Beginn, wer im Raum Vegetarier oder Veganer ist. Dann erkläre ich, welche Probleme die Fleischindustrie verursacht. Und am Ende frage ich, wer nun, nach all den Informationen, bereit ist, Vegetarier oder Veganer zu werden. Da gehen dann eine oder zwei Hände nach oben. Wenn die Menschen sich nicht ändern wollen, dann müssen wir ihnen eben Technologien anbieten die es möglich machen das Problem technisch zu lösen.”

 

Fehlt es in Nachhaltigkeits-Debatten an Realismus, wenn das ignoriert wird?

Jörg Heynkes: “Ja natürlich. Ich habe deshalb häufig Streitgespräche. In meinen Vorträgen sitzen oft begeisterte Radfahrer, die Autofahrer hassen. Absolute Überzeugungstäter. Die können mit meiner Haltung dann wenig anfangen, weil sie sich einfach wünschen, dass die Menschen anders wären. Das würde ich mir auch wünschen. Aber ich bin eben auch Realist und muss mit der Welt klarkommen. Wenn der Klimawandel nicht so akut wäre, und wir die Zeit hätten, uns vorzunehmen, die Treibhausgas-Emissionen innerhalb der nächsten 500 Jahre zu verringern, fände ich es vielleicht auch ausreichend, den Menschen zu erklären, dass sie ihr Verhalten ändern sollen. Aber solange wir diese Zeit nicht haben, sage ich: Lasst es uns technisch lösen. Das ändert übrigens nicht daran, das ich trotzdem ein großer Verfechter eines nachhaltigen Konsums und Wirtschaftens bin. Genau darum geht es ja, wenn wir durch Schwarmmobilität 80% der Primärenergie im Straßenverkehr einsparen wollen oder mit Erneuerbaren Energien eine dezentrale Energieversorgung in der Hand der Bürger und Kommunen aufbauen wollen. Nur mit nachhaltigen Konzepten sind wir in der Lage endlich eine Kreislaufwirtschaft zu entwickeln, die wir so dringend brauchen. Bei all dem hilft uns Digitalisierung ganz enorm!”

Das Vorwort zu Ihrem Buch hat der Grünen-Co-Chef Robert Habeck geschrieben. Er schreibt, dass es die Aufgabe der Politik sei, welche Technik wir in welchem Umfang nutzen wollen.

“Ja. Das ist die Aufgabe der Politik. Aber dabei kommt es natürlich auf die Haltung zur Technologie an. Schauen Sie sich das Beispiel Sharing Economy und AirBnB an. Da sind eine neue Technologie und ein neues Geschäftsmodell entwickelt worden. Das erlaubt es, Zimmer oder Wohnungen temporär zu vermieten. So kommen Reisende in den Genuss völlig neuer, persönlicher Erlebnisse. Tolle Idee und Ressourceneffizient. Allerdings missbrauchen Menschen diese Technologie, um in touristischen Zentren Wohnungen dem Mietmarkt zu entziehen, um sie an Touristen zu vermieten und damit viel mehr Geld zu verdienen. Ein klarer, gieriger Missbrauch der Ursprungsidee. Nun hätte die Politik darauf kommen können, dass dieser Missbrauch nahe liegt, und gleich die gesamte Technologie verbieten. Bei Uber ist das teilweise passiert. Ich halte das für schlecht. Ich bin dafür, auszuprobieren und dann regulatorisches Fine-Tuning zu unternehmen. Um bei AirBnB zu bleiben: Ich bin der Meinung, dass es die Aufgabe des Unternehmens und der Politik ist, die Plattform besser zu steuern. Es ist ja möglich, die Algorithmen so einzustellen, dass Missbrauch weniger wahrscheinlich wird. Wenn jemand ein einzelnes Zimmer in seiner Wohnung anbietet, spricht doch schließlich wenig dagegen. Und wenn jemand eine komplette Wohnung für drei Wochen im Jahr anbietet, ist das wohl auch kein Problem. Wenn jemand eine Wohnung das ganze Jahr über zur Vermietung anbietet, ist das allerdings ein Missbrauch und derjenige sollte lieber Hotelier werden. Man muss ja nicht gleich die ganze Plattform verbieten, wenn man auch den Missbrauch minimieren kann. Schließlich bietet Sharing Economy eine Menge Vorteile.

Heißt das auch, dass die Zukunft 4.1 nach komplexen politischen Antworten verlangt, und dass es Populismus mit seinen simplen Antworten auf schwierige Fragen darin zunehmend schwer hat?

“Definitiv.”


Das Buch Zukunft 4.1 von Jörg Heynkes kann online über die Website des Autors bestellt werden.

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