Oma allein zuhaus

Der Klimawandel bringt heftigere Hitzewellen, die – neben Kindern und Kranken – zuallererst alte Menschen gefährden. Wie kann man selbst vorbeugen und Angehörige schützen?

Frau mit Fecher
Während das Thermometer die meteorologisch »korrekte Temperatur« misst, gibt es auch die subjektiv empfundene »gefühlte Temperatur«, die von Lufttemperatur, Sonneneinstrahlung, Wind und Luftfeuchtig-keit beeinflusst wird. Bild: Istock.com/fizkes.

Wird es ohne hässliche Bilder gehen? Claudia Traidl-Hoffmann ist unsicher, aber, wie sie sagt, »skeptisch optimistisch«. Die schrecklichen Bilder Tausender Hitzetoter, die sie im Gespräch immer wieder erwähnt, kennt man in Deutschland, Österreich und der Schweiz zumindest bislang nur aus dem Ausland. Das könnte – auch wenn es aufs Erste paradox klingt – fatale Folgen haben, fürchtet die Umweltmedizinerin.

»Denn der Mensch braucht anscheinend schreckliche Bilder, um zu reagieren«, sagt sie. »Das macht mich insgesamt nervös.« Wenige Tage vor der deutschen Bundestagswahl bedauert sie am Telefon, dass der Sommer heuer verregnet und feucht war und insgesamt moderat heiß; zumindest im deutschsprachigen Raum. »Denn während Europa den heißesten Sommer aller Zeiten erlebt hat, war das in Deutschland leider nicht so. Deshalb war die Hitze im Wahlkampf kein Thema.« Es wäre besser gewesen, ein brütend heißer Sommer hätte die Deutschen wachgerüttelt. Sie meint: endlich wachgerüttelt.

Kinder spielen im Wasser
Dass Hitze medial meist mit positiven Bildern kommuniziert wird, verstellt den Blick auf das Problem. Bild: Istock.com/annanahabed.

Referenzjahr 2003

Anderswo ist man längst aufgewacht. Frankreich zum Beispiel hatte seine hässlichen Bilder. Der Sommer 2003 hat sich ins kollektive Gedächtnis eingebrannt. 15.251 Hitzetote gab es damals binnen weniger Wochen. So viele, dass in Kühllastern und Hallen, die eigentlich für den Transport und das Lagern von Fleisch bestimmt waren, Särge gestapelt werden mussten. Auch andere Länder wurden damals von der Hitze heimgesucht. Hochgerechnet 70.000 Hitzetote gab es 2003 in Europa. Mehr als 7000 in Deutschland (die meisten davon in Baden-Württemberg). Weil sich nicht alle Länder am europäischen Mortalitätsmonitoring beteiligen, existieren keine umfassenden Zahlen.

»Man muss nicht Statistik studiert haben, um zu verstehen: Mehr Hitze plus mehr Stadtbewohner plus mehr Kranke plus mehr Alte ergeben in Summe ein riesiges Gesundheitsproblem.«

Claudia Traidl-Hoffmann, Umweltmedizinerin
Planetary Health Buchcover
Planetary Health. Klima, Umwelt und Gesundheit im Anthropozän«, Claudia Traidl-Hoffmann et. al. (Hg.) Medizinisch Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft, 2021.

Was auch die groben Hochrechnungen zeigen: Der Hitzesommer 2003 war die tödlichste Naturkatastrophe der vergangenen hundert Jahre in Europa. Und, so Traidl-Hoffmann, die am Universitätsklinikum Augsburg den Bereich Umweltmedizin in Forschung und Klinik leitet: »Jahre wie 2003 werden in Zukunft die normalen Jahre sein.« Selbst im besten Fall – wenn es der Weltgemeinschaft gelingt, die Erderwärmung im Rahmen zu halten, und die Klimaziele von Paris erreicht werden. Von den elf extremsten Hitzewellen zwischen 1950 und 2020 in Deutschland traten sechs seit der Jahrtausendwende auf. Das Potsdamer Institut für Klimafolgenforschung prognostizierte bereits 2013, dass sich die Zahl der Hitzewellen bis 2040 vervierfachen wird. »Man muss nicht Statistik studiert haben, um zu verstehen: Mehr Hitze plus mehr Stadtbewohner plus mehr Kranke plus mehr Alte ergeben in Summe ein riesiges Gesundheitsproblem«, schreibt Claudia Traidl-Hoffmann in ihrem Buch »Überhitzt«. Darin widmet sie sich den Folgen des Klimawandels für die Gesundheit – und für die alternden Gesellschaften Mitteleuropas. Denn auch wenn die Hitze ausnahmslos alle trifft und gerade auch Babys und Kleinkinder gefährdet: Gestorben sind 2003 besonders viele Alte. Das hat mehrere Gründe: Einerseits sind alte Menschen deutlich hitzesensibler. Am wohlsten fühlen sich die meisten Menschen bei Temperaturen zwischen 21 und 28 Grad. Frauen haben es gerne etwas wärmer, Menschen im Norden bevorzugen es etwas kühler. Während sich der vom Deutschen Wetterdienst (DWD) für die Berechnung der »gefühlten Temperatur« ermittelte durchschnittliche »Klima-Michel« – also ein 35-jähriger Mann mit 75 Kilo Gewicht und 175 cm Körpergröße – ab 38 Grad extrem belastet fühlt, gilt selbiges für einen »Michel senior« bereits ab 36 Grad. Stark belastet fühlt sich der Senior bereits ab 32 Grad. (Berechnungen für eine »Michelle» – also das durchschnittliche weibliche Temperaturempfinden in Deutschland – gibt es übrigens keine.) Andererseits treten im fortschreitenden Alter auch weitere zusätzliche Risikofaktoren auf: Alte sind häufiger auch chronisch krank und in ihrer Mobilität eingeschränkter als der Rest der Bevölkerung oder mit wenig Kontakt zur Außenwelt auf sich allein gestellt. Nicht zuletzt sind Menschen ab 65 durch eine sinnesbedingte Alterserscheinung gefährdet: Alternde Nerven liefern eine Fehlermeldung und sorgen für mangelndes Durstgefühl. Selbst im Hochsommer entsteht deshalb fälschlicherweise oft schon nach einem Schluck das Gefühl, genug getrunken zu haben. Den Alten gebührt im Sommer also besondere Aufmerksamkeit.

Paris
Für die Stadt Paris gibt es eine eigene App, die kühle Orte in der Umgebung anzeigt. Bild: Istock.com/stockbym.

WHO empfiehlt Hitzeaktionspläne

»Es gibt ein Spannungsfeld zwischen kostengünstigen Warndienstsystemen wie Hitze-Hotlines und dem Faktum, dass gerade die vulnerabelste Zielgruppe so nicht erreicht wird.«

Willi Haas, Sozialökologe, BOKU Wien

Noch im Spätsommer 2003 war in Paris mit der Erstellung eines landesweiten Hitzeaktionsplans begonnen worden, dem »Plan Canicule«. Gemeinsam mit Météo France, dem staatlichen Wetterdienst, haben die französischen Gesundheitsbehörden vier Warnstufen definiert – Grün, Gelb, Orange und Rot – und teilweise gleich gesetzlich geregelt, was wann zu tun ist. Erst wurden besonders gefährdete Gruppen ausgemacht (neben älteren Alleinstehenden beispielsweise auch Krippen- und Schulkinder), dann Abläufe festgelegt und Listen erstellt, um Vulnerable schnell und mit System versorgen zu können. Freiwillige und Vereine werden dabei ebenso eingebunden wie Behörden. Jeden Winter wird der Hitzeaktionsplan außerdem für den folgenden Sommer angepasst. So haben mittlerweile etwa Pflege- und Altenheime vor Sommerbeginn dafür zu sorgen, dass sie Zugriff auf genügend Infusionen gegen Dehydrierung haben. Ab Alarmstufe Orange bereiten sich Krankenhäuser vor, werden Kommunen kommunikativ aktiv und öffentlich-rechtliche TV- und Radiosender sind verpflichtet, fix vorbereitete Kampagnenspots auszustrahlen. Bei Alarmstufe Rot schließlich entscheidet ein Krisenstab der Regierung über das Verschieben von Schulprüfungen, Sportevents oder Festivals. Bisher zwei Mal waren solche Maßnahmen bereits notwendig. Vorstufen wurden öfter erreicht – und haben dafür gesorgt, dass der französische »Plan Canicule« laufend verbessert und mittlerweile europaweit als mustergültig erachtet wird. Wie viele Menschenleben der französische Hitzeaktionsplan bereits gerettet hat, lässt sich nicht sagen.

Aber auch andere europäische Länder sind mittlerweile aktiv geworden – spätestens nachdem die WHO 2008 Empfehlungen für Hitzeaktionspläne in Europa abgegeben hatte. In Österreich etwa gibt es seit 2017 einen vom damaligen Ministerium für Frauen und Gesundheit erarbeiteten »Gesamtstaatlichen Hitzeschutzplan« und Hitzewarnungen seitens der Zentralanstalt für Meteorologie und Geodynamik (ZAMG). Für den Bedarfsfall ist außerdem ein von der nationalen Gesundheitsagentur AGES betriebenes »Hitzetelefon« vorgesehen. Mit den umfassenden Vorkehrungen in Frankreich ist das allerdings nicht zu vergleichen. »Es ist klar, dass es ein Spannungsfeld gibt zwischen kostengünstigen Warndienstsystemen wie Hitze-Hotlines und Internetportalen und dem Faktum, dass gerade die vulnerabelste Zielgruppe so nicht erreicht wird«, sagt dazu Willi Haas, der am Sozialökologieinstitut der Wiener Universität für Bodenkultur zum Thema Gesundheit und Nachhaltigkeit forscht. »Es geht daher darum, ÄrztInnen, Pflegedienste und Verwandte gut und maßgeschneidert zu unterstützen, damit diese proaktiv agieren können.« Allein dass der Bevölkerung bewusst ist, dass durch Temperaturstürze Schlaganfälle stark zunehmen, kann Leben retten und Lebensqualität wiederherstellen helfen.

Begrüntes Haus
Auch abseits der Städte notwendigerweise ein Zukunftsthema: die Begrünung von Dächern. Bild: Istock.com/jwackenhut.

Das schlechte Gewissen der Behörden

In Deutschland habe man das lange verdrängt, bedauert Umweltmedizinerin Traidl-Hoffmann. Die dem Bundesgesundheitsminister unterstellte Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung genügte sich lange damit, auf ihrer Website vor übermäßigem Alkoholkonsum an Hitzetagen zu warnen. Zwar veröffentlichte das Bundesumweltministerium 2017 »Handlungsempfehlungen für die Erstellung von Hitzeaktionsplänen zum Schutz der menschlichen Gesundheit«. Tatsächliche Konsequenzen haben daraus aber nur wenige Kommunen gezogen, etwa Köln oder Erfurt. Auf Bundes- und Länderebene fühlte sich lange niemand zuständig. »Mittlerweile hat man in den Behörden aber oft ein schlechtes Gewissen«, sagt Traidl-Hoffmann. Ein Problem bleibe: »Auch wenn es ihnen langsam bewusst wird, fällt es Personen, die teilweise seit 20 Jahren in ihrer Position sind, schwer, einzugestehen, dass sie zu lange nichts gemacht haben.« Gleich scheint aber wieder ihr skeptischer Optimismus durch. Am nächsten Tag, erzählt die Umweltmedizinerin, werde sie erneut einen Termin im bayerischen Gesundheitsministerium haben. »In Bayern hat man das jetzt kapiert«, sagt sie. »Dort packt man das jetzt an.« Und auch die »Gesundheitsberufler«, ist sie zuversichtlich, würden endlich aufwachen. Damit diese auch genügend Fakten zur Hand haben, hat sie gerade ein Fachbuch herausgegeben: »Planetary Health« – über Klima, Umwelt und Gesundheit im Anthropozän. Denn nicht nur der nächste Sommer kommt bestimmt. Auch dem Gesundheitssektor müsse bewusst werden, dass er selbst für annähernd fünf Prozent des weltweiten CO2-Ausstoßes verantwortlich ist. Und weil es auch da einprägsame Bilder braucht: Jedes Krankenbett verbraucht in etwa so viel Energie wie ein Einfamilienhaus.

Übersterblichkeit

Gegenüber dem langjährigen Durchschnitt in einem bestimmten Zeitraum erhöhte Sterblichkeit. In der EU gibt es ein kontinuierliches Mortalitätsmonitoring (EuroMoMo). Hitzetote – also eine hitzebedingte Übersterblichkeit – werden nicht in allen Ländern erfasst.
euromomo.eu

Gefühlte Temperatur

Während das Thermometer die meteorologisch »korrekte Temperatur« misst, gibt es auch die subjektiv empfundene »gefühlte Temperatur«, die von Lufttemperatur, Sonneneinstrahlung, Wind und Luftfeuchtigkeit beeinflusst wird.

Buchtipps

Überhitzt Buchcover
Überhitzt. Die Folgen des Klimawandels für unsere Gesundheit« von Claudia Traidl-Hoffmann und Katja Trippel. Dudenverlag, 2021.

BIORAMA #75

Dieser Artikel ist im BIORAMA #75 erschienen

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