„Wichtig ist, über das Nachhalt-ICH zu sprechen“ – Joachim Hamberger über Hans Carl von Carlowitz

NP-Donau-Auen

Vor 300 Jahren veröffentlichte der sächsische Oberberghauptmann Hans Carl von Carlowitz in Leipzig ein Lehrbuch zur Forstwirtschaft. In ,Sylvicultura oeconomica – Anweisung zu wilden Baumzucht’ prägte der gebildete Beamte einen Begriff, der seither eine bewegte Karriere hinter sich brachte: Nachhaltigkeit.

Zum 300. Geburtstag des Begriffs wurde das historische Standardwerk neu aufgelegt. Mit dem Herausgeber Joachim Hamberger hat sich Biorama über Carlowitz, die Geschichte der Nachhaltigkeit und die Konjunktur des Begriffs in Krisenzeiten unterhalten.

 

Ist der Begriff Nachhaltigkeit heute eigentlich bis zur Bedeutungsleere überstrapaziert?

Hamberger: Der Begriff wird heute sehr häufig und auch in vielen Lebensbereichen verwendet. Man kann von nachhaltigen Entscheidungen aber auch von nachhaltigen Entschuldigungen lesen. Gemeint ist hier lang anhaltend, ehrlich und intensiv wirksam. Ich denke nicht, dass der Begriff durch die häufige Benutzung beschädigt wird. Es zeigt vielmehr den Wunsch unserer kurzlebigen und in vielem unverbindlichen Zeit nach Verbindlichem und Verlässlichem an.

Wird Nachhaltigkeit nur als Phrase verwendet oder gehen Sie davon aus, dass die inflationäre Verwendung des Begriffs dazu führt, dass nachhaltiges Handeln in der Wirtschaft und anderswo zur verbreiteten Maxime wird?

Hamberger: Mag sein, dass Firmen zunächst auf dem grünen Strom mitschwimmen und sich mit Worten einen grünen/nachhaltigen Anstrich geben. Aber auf Dauer funktioniert das nicht. Der Verbraucher von heute ist kritisch und wach. Wenn das Nachhaltigkeitsengagement einer Firma weniger Wert ausmacht als das, was sie als PR-Budget dafür investiert, wird es nicht lange dauern bis das öffentlich ist und die Verbraucher die Konsequenzen ziehen. Sprache formt Bewusstsein. Dass der Leitbegriff Nachhaltigkeit mit seinen begleitenden Begriffen wie Verantwortung, Achtsamkeit, Suffizienz etc. sich inzwischen häufig in Politikerreden und der Werbung findet, zeigt unseren Weg und die Richtung an.

Was war die Kernaussage Carlowitz’ als er 1713 das Nachhaltigkeits-Postulat aufstellte? Verfolgte er damals schon das gleiche Anliegen, das heute gemeint ist, wenn von Nachhaltigkeit die Rede ist?

Hamberger: Seine Kernaussage ist, Denkt um! und seht die Welt aus der Sicht der nachkommenden Generationen. Nutzt die Natur, aber so, dass die Nachkommen dieselben Chancen haben wie ihr selbst. Ihm ging es um das Holz, das damals die einzige Energiequelle war. Im Kern seines Anliegens damals steckt also dasselbe wie heute im Begriff von der nachhaltigen Entwicklung: von der Zukunft her zu denken, von der Gemeinschaft her zu denken, von der Natur her zu denken und sich handelnd in eine Prozess einbringen, der aktiv Zukunft gestaltet, die „nach“ uns ist, also von der wir keinen direkten Nutzen haben werden.

Carlowitz’ Argumente für eine nachhaltige Forstwirtschaft aus dem 18. Jahrhundert erscheinen aus heutiger Perspektive überraschend modern, z.B. wenn er die massive Übernutzung der Wälder anprangert und dramatische Ressourcenverknappung prophezeit. War Carlowitz damals seiner Zeit voraus oder fanden seine Argumente Gehör unter den Zeitgenossen?

Hamberger: Das Buch ist die Summe seiner Lebenserfahrung, ein Vermächtnis. Als junger Mann meinte auch er, die Wald-Ressourcen seiner Heimat seien unerschöpflich. Im Alter erkannte er, dass die Übernutzung ein schleichender Prozess ist. Wird sie nicht erkannt und gehandelt, also wieder eine Balance zwischen Entnahme (Holzernte) und Investment (Pflanzung) hergestellt, folgen Armut, Not sowie wirtschaftliche und soziale Destabilisierung. Was ihn so einzigartig macht, ist, dass er seine europaweit gesammelten Erfahrungen in das Buch einbringt und dass er das Thema Wald ganzheitlich und systematisch angeht. Dass das Thema der drohenden Holznot in ganz Mitteleuropa ins öffentliche Bewusstsein gelangte ist sicher auch mit auf sein Buch zurückzuführen.

Direkt getan hat sich nach Carlowitz allerdings noch wenig. Erst um die Mitte des 18. Jahrhunderts, also fast zwei Generationen nach dem Erscheinen seines Buches, begann man die Wälder zu vermessen, die Vorräte zu erfassen und die Bestände systematisch zu verjüngen.

Nachhaltigkeit nennen Sie einen Bekenntnisbegriff, eine Moralkategorie, bei der die Verantwortlichkeit gegenüber zukünftigen Generationen zum ethischen Gebot wird. In der politischen und ökonomischen Ideengeschichte seit der europäischen Aufklärung nimmt Nachhaltigkeit trotzdem keine besonders prominente Stellung ein. Wieso eigentlich?

Hamberger: Nachhaltigkeit ist ein Begriff der Krise. Vor 300 Jahren und auch noch vor 200 Jahren gab es eine Energiekrise, die damals als Holznot bezeichnet wurde. Auch wenn der Wald extrem übernutzt wurde, die Volkswirtschaft funktionierte noch in Kreisläufen, aus dem Wald wurde auch noch das letzte Zweiglein genutzt. Als Reaktion auf die Krise stellte man Nutzungsregeln auf und bezeichnete an vielen Orten den „Wald als das vornehmste Kleinod und Schatz der Stadt/des Dorfes“, das die Nutzungsgemeinschaft mindestens in dem guten Zustand weitervererben solle, wie sie es von den Vorfahren übernommen habe. Das ist nachhaltiges Denken durch und durch. Mit der Erschließung der Kohle vor 200 Jahren und noch mehr mit der Nutzung des Erdöls seit 100 Jahren sind wir aus dem energetischen Kreislauf ausgestiegen. Seitdem wird die Wirtschaft nicht mehr von regenerativen Energieträgern versorgt, sondern mit fossilen, es gibt in der Energieproduktion keinen Kreislauf mehr. Es gibt seit der industriellen Revolution auch keine Energiekrise mehr, in der die Energie-Ressourcen gepflegt werden müssten. Deshalb war nachhaltiges Denken auch nicht nötig. Auf diese Art und Weise wurde der Wald von der Energienachfrage entlastet, die Forstleute konnten sich auf die Produktion hochwertigen Bauholzes konzentrieren. Es scheint paradox, aber erst durch diese Entlastung konnte sich im Forst das Nachhaltigkeitsdenken durchsetzen und als Berufsethos einer ganzen Branche entwickeln.

Der Begriff Nachhaltigkeit wurde von Carlowitz 1713 im Kontext der Forstwirtschaft entwickelt. Carlowitz ist trotzdem nicht als „Erfinder der Nachhaltigkeit“ in die Geistesgeschichte oder in die ökonomische Ideengeschichte eingegangen. Müsste man stärker die Geschichte der Nachhaltigkeit betonen, um Nachhaltigkeit fest im Bewusstsein und der Bildung der Leute zu verankern?

Hamberger: Ich denke die Geschichte und der Wald als Anschauungsobjekt können helfen diesen sperrigen und wenig anschaulichen Begriff greifbar und begreifbar zu machen. Der Wald ist ein simples und noch dazu emotional ansprechendes Beispiel, das zeigt um was es bei Nachhaltigkeit geht: um gerechte Verteilung und darum Zeit zu überbrücken. Weil zwischen Pflanzung und Ernte eines Baumes, also zwischen Ursache und Wirkung, Jahrzehnte oder gar Jahrhunderte liegen, ist Generationenteamwork über die Zeit notwendig. Menschen die sich nie begegnen, weil sie in unterschiedlichen Zeiten leben, arbeiten an einer Idee, an einem Produkt, das die Natur in ihrem Rhythmus reifen lässt. Menschen mit Natur in Berührung bringen, am besten auch mit der Hand, also durch selber tun, halte ich für ganz wichtig. Gartenprojekte in Schulen, bei denen Kinder säen, pflegen und ernten sind wichtige Nachhaltigkeitsprojekte.

Daneben ist die Geschichte voll von Beispielen wie Völker an der Ressourcenproblematik scheitern, sie verlagern oder bewältigen. Nehmen Sie die Osterinseln, dort hat man die Bäume ausgerottet und konnte dann keine Boote mehr bauen und keine Fische mehr fangen. Es gab Kriege, die Menschen sind gestorben und die Bevölkerung massiv zurückgegangen.

Nachhaltiges Denken kann nur durch Bildung vermittelt werden, das braucht eine Zeit der Reife. Denn Nachhaltigkeit ist wie Gerechtigkeit, Demokratie oder Freiheit ein Sehnsuchtsbegriff. All diesen Leitbegriffen, oder Bekenntnisbegriffen, wie ich sie nenne, ist gemeinsam, dass sie von den Menschen selbst konkret gemacht, operationalisiert werden müssen, wenn sie nicht nur Utopie bleiben sollen. Dabei spielt die Bildung und die Erfahrung dessen, was der Begriff bedeutet, eine wesentliche Rolle, dass sich Bewusstsein dafür entwickeln kann. Demokratiebewusstsein ist in Österreich und Deutschland erst nach dem zweiten Weltkrieg gewachsen.

Das Thema Nachhaltigkeit ist heute eigentlich in allen politischen Parteien vertreten, wenn auch unterschiedlich stark und auf die eine oder andere Weise. Wenn man sich das Werk Carlowitz’ ansieht, dann stößt man schnell auf Gottesbezüge und das Bekenntnis zum Bewahren einer göttlichen Schöpfung. Wieso tun sich konservative Parteien von heute dennoch so schwer mit dem Thema Nachhaltigkeit?

Hamberger: Bei Nachhaltigkeit geht es in erster Linie um Verantwortung gegenüber kommenden Generationen, also um Ethik. Carlowitz sieht sich Gott, dem Schöpfer der Natur, und den Nachkommen gegenüber gleichermaßen verantwortlich. Es ist ein sehr konservatives Denken, das Bewahren und Vererben will. In unserem gängigen Sinne konservative Menschen und Parteien gehen von der in Viertel- oder Halbkreisläufen funktionierenden bisherigen Wirtschaft aus. Das ist nicht konservativ im Sinne von bewahrend, sondern verbrauchend.

Sie schreiben, Nachhaltigkeit könne „eine Art Ersatz- bzw. Ursprungsbekenntnis liefern – also ein Glaubensbekenntnis der Moderne“. Ist Nachhaltigkeit nun eine diffuse Glaubenskategorie oder ein konkretes, rationales Konzept?

Hamberger: Es ist beides, so wie die Demokratie. Als bekennender Demokrat ist man zum einen Idealist und glaubt an die Vorteile dieser Staatsform. Aber nur durch konkrete rationale Gesetze der Verfassung und durch Beteiligung an Wahlen wird Demokratie real. Demokratiebewusstsein ist ein Prozess, der permanent gelebt und erlernt werden muss, z.B. den Respekt vor Mehrheitsentscheidungen.

Wer sich zur Nach-haltigkeit bekennt, bekennt sich zu den Interessen der Nach-kommen und geht damit zeitlich über sein Ego hinaus. Weil es ein Bekenntnis zu Menschen ist, die es noch gar nicht gibt, ist es quasi ein spirituelles Bekenntnis zur überzeitlichen Menschheit oder zur Natur. Aber auch die Idee der Nachhaltigkeit muss, wie die Demokratie auch, im Alltag in Lebensstile umgesetzt werden. Gandhi bringt es auf den Punkt, wenn er sagt: Sei selbst der Wandel, den du in der Welt sehen willst. Das ist Glaube und rationales Konzept.

Sie weisen auf die Gefahr hin, dass der Begriff Nachhaltigkeit zu einer „konsensstiftenden Leerformel wird, zu der sich zwar alle bekennen, in der aber keine Handlungsmaximen erkennbar sind.“ Muss in der gesellschaftlichen Debatte stärker und kontroverser um Nachhaltigkeit gestritten werden, damit der Begriff schärfere inhaltliche Konturen erhält?

Hamberger: Zur Idee sich bekennen fällt leicht, so lange es im Unverbindlichen bleibt. Nachhaltig bedeutet auch verbindlich werden und die eigenen Handlungen reflektieren bzw. sich dem Vergleich zu stellen. Deshalb ist ein öffentlicher Diskurs wichtig. Wir müssen mehr über den ökologischen Fußabdruck wissen, den wir als einzelne oder als Haus-, Dorf-, Stadtgemeinschaft verursachen. Dazu müssen wir darüber reden was wir verbrauchen und welche CO 2- Äqivalente wir erzeugen, ob wir faire Produkte kaufen etc.. Wichtig ist, über das Nachhalt-ICH zu sprechen um Bewusstsein zu schaffen, wie der einzelne wirkt. Im zweiten Schritt tut sich die Politik dann auch leichter entsprechende Normen zu schaffen.

Eine ökologische Steuerreform könnte der Selbstreflexion helfen und Anreize geben. Z.B. indem nicht die ÖNV-Pendler belohnt werden. In fast allen Produkten sind nicht die Kosten eingepreist, die dem tatsächlichen Wert entsprechen, den die Produkte haben. Energiekosten sind subventioniert, wie bei Flugreisen und CO-2-Kosten nicht einberechnet.

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Joachim Hamberger (Hrsg.)
Hans Carl von Carlowitz – Sylvicultura oeconomica

Oekom Verlag, München

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Joachim Hamberger lebt im bayrischen Freising, wo er für die Freien Wähler im Stadtrat sitzt. 

Er unterrichtet am Lehrstuhl für Wald- und Umweltpolitik der Technischen Universität München und ist Dozent an der Staatlichen Führungsakademie für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten, Landshut.

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