Liebe mal vier

Liebe zwischen mehreren Menschen ist nicht unbedingt komplizierter als zwischen zweien. Wie Polyamorie funktioniert.

Nach der Definition des Sozialwissenschaftlers Stefan Ossmann ist Polyamorie eine »konsensuale Beziehung zwischen mehr als zwei Personen basierend auf emotionaler Liebe und intimen Praktiken über einen Zeitraum hinweg«. Bild: Biorama.

»Wir haben damals gedacht, wir trennen uns«, sagt Franziska*. Sie und Polly* sind seit mehr als sechs Jahren ein Paar. Dann erlebten sie eine Beziehungskrise. Monate später sind die beiden nicht nur noch immer zusammen, sie sind jetzt sogar zu viert. Franziska ist außerdem mit Lona* zusammen, Polly mit Valentina*. Die vier Frauen sitzen im Wohnzimmer von Lonas Studio. Polly und Valentina sind auf der Couch eng zueinander gerutscht, Franziska und Lona sitzen sich gegenüber. Sie sind zwischen Mitte zwanzig und Anfang dreißig, alle studieren in Wien. Zusammen sind sie ein Polykül: eine polyamore Beziehung, also eine Beziehung, die aus mehr als zwei Menschen besteht. 
Polly und Franziska wollten einander nicht aufgeben. Sie redeten viel miteinander und beschlossen, dass sie zwar noch zusammen sein, aber nicht mehr alles in ihrem Leben miteinander teilen wollten. Sie räumten die gemeinsame Wohnung um, sodass jede ihr eigenes Schlafzimmer hat. Dann kam die Idee, andere Menschen in ihre Beziehung miteinzubinden. Schon nach einer Woche auf Onlinedating-Plattformen hatte Polly ein Date mit Valentina und Franziska ein Date mit Lona. Und plötzlich waren alle verliebt. »Das war eigenartig. Es hat voll bei allen vieren eingeschlagen«, erzählt Franziska.

Eine bessere Beziehung zu mehrt?

Polly und Franziska teilen jetzt ihre Zeit zwischen jeweils zwei Partnerinnen auf. Man übernachtet mal da, mal dort. Ab und zu frühstücken alle zusammen. Streit gab es bis jetzt – also innerhalb eines Monats – noch keinen. »Dass es so entspannt ist, hat auch keine von uns erwartet«, meint Valentina. Doch warum klappt es für sie nicht auch mit monogamen Beziehungen? Repräsentative Daten wurden noch kaum erhoben, die Forschung zu dieser Beziehungsform ist international überschaubar. Stefan Ossmann, Sozialwissenschaftler an der Uni Wien, hat für seine Dissertation über Polyamorie 33 Menschen befragt und dabei viele Motive für polyamore Beziehungen identifiziert. 
Er fasst die Motive, polyamore Beziehungen einzugehen, aufgrund der von ihm erhobenen Daten folgendermaßen zusammen: Am häufigsten haben sich die Befragten für Polyamorie entschieden, weil sie sich in eine andere Person verliebt haben. An zweiter Stelle steht der Wunsch nach mehr Freiheit in einer Beziehung, gefolgt von Affären, dem Wunsch nach Sex mit einer anderen Person und Langeweile in der Beziehung.

Auch bei unserem Polykül sind die Beweggründe der einzelnen Frauen unterschiedlich. »Als ich Polly kennengelernt habe, habe ich stark mit meinen Bindungsängsten gehadert«, erzählt Valentina. »Aber dass sie schon eine Beziehung hat, hat meine Ängste außer Kraft gesetzt. Die logischen Schritte, die man in einer monogamen Beziehung miteinander geht, die mir Angst gemacht haben, gibt es mit Polly nicht.« Was wann und auf welche Art in den Beziehungen passiert, besprechen die Frauen immer miteinander. »Es ist nichts selbstverständlich wie in einer monogamen Heterobeziehung«, meint Lona. »Ich wache jeden Morgen neben der Person auf, für die ich mich aktiv entschieden habe, und nicht immer neben derselben, weil man es halt so macht«, erklärt Franziska. »Dadurch ist es jedes Mal etwas Besonderes.« 
Polyamorie hat den Vorteil, dass man die eigenen unterschiedlichen Seiten mit dazu passenden Menschen ausleben kann. Mit der einen Partnerin kann man gut alte Filme im Kino ansehen und mit der anderen geht man zum Boxen. »Ich bin bei der Franziska anders als bei der Valentina, aber ich brauch mich bei keiner von beiden verstellen. Das bin trotzdem ich«, erzählt Polly. Alle vier sagen, da sei jetzt ein Mehr an Menschen und damit an positivem Input, von dem alle profitieren würden. »Es wird uns ja von der Gesellschaft vermittelt, dass es diese eine Person gibt, die alle deine Bedürfnisse erfüllen muss«, sagt Valentina. »Aber das ist unrealistisch. Man hat ja auch nicht nur eine Freundschaft, die alle diese Bedürfnisse erfüllt.« 

Ist Polyamorie eine Entscheidung?

Stefan Ossmann hat aus den Interviews, die er erhoben hat, zwei Typen von polyamoren Menschen herausgefiltert, die er folgendermaßen kategorisiert: Es gibt die intrinsisch motivierten polyamoren Menschen, deren Natur einfach darin liegt, mehrere PartnerInnen zu haben. Das kann daran liegen, dass sie meinen, Menschen seien einfach nicht darauf ausgerichtet, monogam zu leben. Oder sie möchten Sex mit mehr als einer Person haben. »Diese Menschen kann man dazu zwingen, nicht poly zu leben, aber der Impuls wird immer da sein«, sagt Ossmann. »Das ist genau wie bei Homosexuellen, die diese Gefühle unterdrücken müssen.« Dann gibt es laut Ossmanns Kategorisierung die Menschen, die »poly by choice« sind, also sich diesen Lifestyle ausgesucht haben, wie unser Vierer-Polykül. Diese Menschen können auch wieder zu monogamen Beziehungen wechseln. 
Für die vier ist es noch zu früh, um zu sagen, ob ihr Modell zukunftsfähig ist. Teilweise wissen ihre Eltern schon Bescheid, teilweise wartet man noch ab. Das Outing, also sich dem Umfeld als nicht-monogam zu offenbaren, ist etwas, vor dem vielen die Knie schlottern. Valentina hat ihren Eltern noch nicht erzählt, dass ihre Freundin noch eine Freundin hat: »Ich glaube, sie würden es nicht verstehen. Es ist schon stressig genug, eine Freundin mitzubringen, dann brauche ich nicht auch noch über ihre Freundin, die nicht ich bin, zu reden.« Die anderen drei haben bei ihren Outings als Polyamore nur gute bis gleichgültige Reaktionen erlebt.

Fünf Prozent empfinden vermutlich poly

Polyamorie ist nicht neu, auch wenn der Begriff nicht im Duden steht. Wie viele Menschen heute in Polykülen leben, lasse sich nur sehr grob abschätzen, sagt Stefan Ossmann: »Ich schätze, dass es fünf Prozent der Menschen sind, die poly empfinden. 0,5 Prozent praktizieren es auch und 0,05 Prozent sind geoutet.« Polyamore Menschen finden sich in allen sozialen Schichten und in jedem Alter. Gängiger sei es unter Menschen, die nicht hetero seien, meint Ossmann. »Polyamorie kommt aus dem schwulen und dem feministisch-lesbischen Bereich.« Sichtbarer sind allerdings diejenigen, die in den sozialen Netzwerken offener mit ihren Beziehungen umgehen. Daher könne der Eindruck entstehen, Polyamorie sei ein neuer, junger Trend, erklärt der Sozialwissenschaftler. »Heute können viel mehr Menschen etwas mit der Begrifflichkeit anfangen als noch vor ein paar Jahren«, so Ossmann. Unbeforscht ist bisher, ob mit der besseren Sichtbarkeit auch die Akzeptanz in der Gesellschaft für Polyküle steigt.
Gerade die sei es jedoch, die es polyamoren Menschen schwer mache, sagt Ossmann: »Ein ganz banales Beispiel: Es gibt keine Betten für mehr als zwei Personen. Wenn ich eines will, muss ich es selbst bauen.« Das zeige, dass die Gesellschaft nicht auf Beziehungen, die aus mehr als zwei Personen bestehen, ausgerichtet sei. Das gemeinsame Bett ist noch das kleinste Problem, denn Polyamorie hat keine Rechtsbasis. Was passiert zum Beispiel mit dem gemeinsamen Kind einer Dreierbeziehung, wenn die biologische Mutter stirbt? Wer heiratet wen, wenn sich alle lieben? Ähnlich wie bei dem Bett für mehr als zwei Personen müssen polyamore Menschen ihren eigenen Weg finden und beispielsweise einen selbst gestalteten Vertrag aufsetzen, der das regelt, was bei Partnerschaften und Ehen das Gesetz übernimmt.

Besser mit Eifersucht umgehen

Für die rechtlichen Fragen interessiert sich unser Polykül noch nicht. Stattdessen arbeitet es an denselben Problemen wie Menschen in monogamen Beziehungen. Eifersucht sei auf jeden Fall ein Thema, sagen die vier. Als monogame Person kann man sich vielleicht gar nicht vorstellen, nicht eifersüchtig zu sein, wenn man weiß, dass der Partner oder die Partnerin in jemand anderen verliebt ist. Unser Polykül erzählt statt von Eifersucht von Euphorie. »Es war ein total schönes Gefühl, sich von den Dates zu erzählen«, sagt Lona. »Ich will ja, dass es meinem geliebten Menschen gut geht. Und was gibt es Schöneres, als verliebt zu sein?«
Fühlt sich jemand mit ihrem Arrangement nicht wohl und kämpft mit der Eifersucht, sprechen die vier intensiv darüber. »Der Unterschied zu einer monogamen Beziehung ist, dass man besser über Eifersucht reden kann, weil alle sie haben«, erzählt Lona. Regeln sind ein wichtiger Teil vieler erfolgreicher Polyküle. Das kann so aussehen, dass man gewissen Hobbys nur mit einer Partnerin nachgeht oder nicht vor der anderen schmust. Polyamore sind oft besser in der Kommunikation als monogame Paare, das bestätigt der Sozialwissenschaftler Stefan Ossmann. Dazu müsse man auch sehr genau wissen, was man selbst von einer Beziehung wolle. Um ein Polykül erfolgreich führen zu können, müssten die einzelnen Individuen mit sich im Reinen sein. »Wir kommunizieren viel, das muss man in solchen Konstellationen einfach«, sagt Valentina. »Ich habe gedacht, dass es viel schwieriger wird, aber das ist es nicht. Es ist einfach normal.«

Zum Weiterlesen
Was Nicht-Monogamie noch alles sein kann und wie diese Beziehungen funktionieren, beschreiben die Autorinnen Janet Hardy und Dossie Easton in ihrem Ratgeber »Schlampen mit Moral« (im Original »The Ethical Slut«). Bild: MVG Verlag.

BIORAMA #69

Dieser Artikel ist im BIORAMA #69 erschienen

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