L wie Luchs

(c) Thomás Hulik

(c) Thomás Hulik

„Let’s do it like they do on the Discovery Channel“: Als Laie auf den Spuren des europäischen Luchses. Ein Bericht aus der Hohen Tatra.

Es ist schon dunkel als wir in Ľubochňa gleich nach der Ortseinfahrt in einer verschneiten Seitenstraße den Land Rover entdecken. Der Fahrer steigt kurz aus, deutet uns, ihm zu folgen. Up the hill! Das alte Landhaus, in dem mein Kollege Jürgen und ich die nächsten beiden Nächte verbringen werden, kennen wir bereits von den Fotos im Internet. Erst am nächsten Tag, als wir ein paar Kilometer weiter zu dritt einen Forstweg entlang durch den hüfthohen Schnee stapfen, wird uns Tomáš erzählen, dass hier in der Gegend „Nosferatu“ gedreht wurde, der legendäre Vampirfilm. Das ist beinahe hundert Jahre her. Menschenleer ist die Gegend immer noch. Wie damals gibt es hier im slowakischen Hinterland, 80 Kilometer südlich der polnischen Grenze, ausgedehnte Wälder, entlegene Täler, die nicht nur wildreich sind, sondern auch Lebensraum für Wolf, Bär, Wildkatze und Luchs. Ihretwegen sind wir gekommen.

Im Reich Nosferatus

Wir sind die letzten. Die anderen Acht haben hier bereits eine Woche verbracht und tagsüber in den Wäldern nach Spuren gesucht. Auch heute. Die Erschöpfung sieht man in ihren Gesichtern. Für die nächsten eineinhalb Tage sind wir Teil dieses Teams. „These are Jürgen and Thomas, two journalists from Austria“, sagt Peter. „Stellt euch am besten selbst vor“. Peter ist Deutscher, eigentlich Geograph, für ein paar Wochen aber Expeditionsleiter hier in der Hohen Tatra. Zehn Minuten später lotst er uns alle hinunter ins Dorf. Diesmal gehen wir zu Fuß, wie die Wölfe – einer in den Fußstapfen des anderen. Das spart Energie und hält die Füße trocken. „Soviel Schnee war hier schon seit Jahren nicht,“ erzählt Peter. Jetzt ist Mitte Februar und es liegt eineinhalb Meter Schnee. Wir passieren Villen und repräsentative Landhäuser wie wir sie vom Semmering kennen. Es schneit unaufhörlich und wir nehmen uns vor Eiszapfen und Dachlawinen in Acht während wir durch eine perfekte Winteridylle ins Dorfwirtshaus wandern. Kaum haben wir dort Platz genommen, wird auch schon serviert. Fleisch, selbstgemachte Krapfen – und nach dem ersten Bier hat einer unbemerkt auch schon die erste Runde Schnaps bestellt. Das Krügel Bier kostet hier gefährliche 70 Cent. Wie die Villenarchitektur vermittelt auch die mondäne Einrichtung eine Ahnung vom Glanz vergangener Tage.

„Viele Leute sehen mehr als einer.” – Expeditionsleiter Peter Schütte erklärt, warum es sinnvoll ist, zu mehrt die Landschaft zu erkunden.

„Viele Leute sehen mehr als einer.” – Expeditionsleiter Peter Schütte erklärt, warum es sinnvoll ist, zu mehrt die Landschaft zu erkunden.

Wir sind eine bunte, internationale Truppe. Was wir bald wissen: Juliane ist Ingenieurin bei Airbus in Hamburg. Das australische Pärchen feiert seinen Pensionsantritt mit einem 4-Wochen-Trip durch Europa – eine Woche davon in der slowakischen Pampa. Hier haben die beiden zum ersten Mal in ihrem Leben Schnee gesehen. Tom aus Sheffield, Medizinstudent fortgeschrittenen Semesters, hat diese Expedition von seinen Eltern geschenkt bekommen. Christine, bis vor kurzem Biologin am Forschungszentrum Seibersdorf, genießt ihre Pension und bereist die Welt.

Im Dienste der Wissenschaft

„Toll, dass ihr euch so gut in der Gruppe eingefunden habt,“ meint Tomáš als wir später wankend das Wirtshaus verlassen. Er ist ihr Alphatier, wenn man so will: Tomáš Hulík, 35. Der studierte Biologe und Umweltwissenschafter aus Bratislava hat es als Naturfilmer und Fotograf (für Arte, ORF, NDR und BR; Geo und National Geographic) zu einiger Berühmtheit gebracht. Jeder hier hat Dokus von ihm gesehen, kennt seine Fotos oder Geschichten.

Zurück im Quartier zieht es die meisten gleich ins Bett. Tomáš, Christiane und ich bleiben noch vor dem Kamin sitzen. Im Hauptquartier der „Penzion Astoria“, einer abgewohnten K-&-K-Villa mit dem Charme eines Pfadfinderheims, studieren wir die Karten der Umgebung um den Nationalpark Hohe Tatra. Tomáš zeigt mir, wo wir in ein paar Stunden Spuren suchen und Fotofallen kontrollieren werden. Unser Ziel: Herauszufinden, wo sich die Luchse herumtreiben, die hier vor ein paar Jahren ausgewildert wurden. Wirklich nachweisen kann man die scheuen Tiere nur bei Schnee. Anfang 2013 sollen sie dann gefangen und mit GPS-Sendern versehen wieder freigelassen werden, um ihre Wanderrouten nachvollziehen zu können. Je mehr die Forscher über die großen Raubtiere hier in der Gegend wissen, desto besser können sie auch außerhalb des Nationalparks geschützt werden. Um dieses Wissen zu mehren, nehmen Laien wie Christine, Tom oder Juliane an dieser gemeinnützigen „Biosphere Expedition“  teil – und bezahlen dafür, den Wissenschaftern bei ihrer Arbeit assistieren zu dürfen. Ohne ihre Anwesenheit wären solche Projekte kaum zu finanzieren. Tomáš schätzt, dass es hier in der Gegend zwei bis drei Wolfsrudel zu je vier bis sechs Tieren gibt. Einige Spuren – Kot, Urin oder Trittspuren – haben die Teams in den vergangenen Tagen gefunden. Die zehn, vielleicht zwanzig Bären der Gegend sollten eigentlich schlafen um diese Jahreszeit. Eine Bärin mit ihren beiden Jungen ist aber bereits unterwegs. Auch das haben die Spuren verraten. Entweder die Hitzewelle im Jänner oder unvorsichtige Wanderer haben sie in ihrer Winterruhe gestört. Vor zwei Wochen hatte es dann plötzlich wieder minus 29 Grad. Seither hat es jeden Tag geschneit. Später beim Einschlafen hören wir Dachlawinen abgehen.

Biosphere Expeditions

Auf der Suche nach Kadavern

Der Tag beginnt mit Löskaffee, Broten und Kuchen. Die Nacht war kurz, doch alle sind voller Tatendrang. 9 Fotofallen wird unser Team – bestehend aus Tomáš, Jürgen und mir – heute kontrollieren. Das heißt: Batterien wechseln, Datensticks austauschen und nachsehen, ob die Kamera einen der Fleischfresser festgehalten hat. Sie sind an häufig frequentierten Wildwechseln oder in der Nähe von Kadavern platziert, zu denen die Tiere häufig zurückkehren – überhaupt bei diesem Wetter, wenn es nicht leicht ist zu jagen. Ohne Geländewagen wären die Distanzen dazwischen kaum zu bewältigen. Ein normaler PKW hat hier keine Chance. Dafür fühlen sich die 125 PS unseres Land Rover Defender an als wären es 250. Wohl der einzige Ort der Welt, wo man guten Gewissens mit solch einem Panzer fahren kann. Bei den aktuellen Schneeverhältnissen brauchen selbst Traktoren Schneeketten. Kinder rodeln am Waldrand. Sonst sehen wir hier draußen heute mehr Jesusbilder und Heiligenstatuen als Menschen. Ein gigantischer Schäfer aus Stein und seine zwei Schafe geben eine Ahnung, wie die Landschaft hier im Sommer traditionell genutzt wird. „Funradio FM“ spielt einen Hit der Bloodhound Gang, der hier plötzlich ganz anders klingt als sonst: „You and me, baby, ain’t nothing but mammals. So let’s do it like they do on the Discovery Channel“.

Den Wagen lassen wir am Waldrand stehen. Mit Schneeschuhen, die verhindern, dass wir im Tiefschnee einsinken, kommen wir leicht voran. Auf dem Weg zur ersten Falle halten wir nach Fährten Ausschau, nach Kot, Urinflecken, kreisenden Adlern und Eichelhähern. Letztere sind oft Wegweiser zu Kadavern, einem verendeten oder gerissenem Tieren. Jedenfalls fressen nicht nur die Vögel das Aas, sondern auch Bär, Luchs und Wolf.

Wölfe, erzählt Tomáš, reißen ihre Beute oft im Bach oder Fluss, weil sich diese dorthin getrieben schwer tut und leichter erlegen lässt. Wir überqueren ein Rinnsal. Unter einer umgeknickten Buche schaufelt Tomáš Schnee beiseite – bis wir Fell, Fleisch, einen Hirschkadaver erkennen. Auch die am Baum platzierte Fotofalle ist nahezu eingeschneit. Tomáš steckt den Chip in seine Digicam und zeigt uns, wer sich hier zuletzt gestärkt hat: ein Fuchs, ein Eichelhäher und, ja, auch die Wölfe waren wieder da. Das erkennt der Biologe auch an den Urinspuren, mit denen sie ihr Revier markiert haben.

Biosphere Expeditions

Weiter geht es durch den verschneiten Mischwald. Ein Anfängerfehler: Ich klopfe Eis und Schnee an einem Baum von der Bindung. Der Schnee rieselt mir ins Genick. Die Abkühlung tut aber gut. 68 Grad Steigung den Hang durch eineinhalb Meter Schnee hinauf, da wird einem schon ordentlich warm.

An einer Lichtung machen wir Halt: Fährten wohin wir auch blicken. „Diese Futterkrippe hier war vor zwei Wochen noch randvoll,“ erinnert sich Tomáš. Jetzt ist sie leergefressen. Der Duft des Heus liegt immer noch in der Luft. Die Fotofalle hat Rotwild und eine Rotte Wildsauen festgehalten. Tomáš deutet uns still zu sein. Keine fünfzehn Meter von uns steht ein kapitaler Hirsch. Er hat uns längst entdeckt, wartet ab, verabschiedet sich dann eilig ins Unterholz. Weit über uns sehen wir zwei Steinadler kreisen, ein altes Männchen und ein Jungtier, das Tomáš an den noch weißen Federn erkennt. Später passieren wir einen Bach. Otter sind keine zu sehen, dafür ihre Spuren und eine „Otterrutsche“. Wirklich, eine Rutsche ins Wasser: Fischotter sind überaus verspielte Tiere.

Hüttenleben im Walde

Bald wird es dunkel. Wir haben noch eine Station vor uns. Tomáš führt uns zu einer einsamen Hütte im Wald. Zwei Jahre hat er hier gelebt und zwei junge Luchse, die im Zoo geboren wurden, ausgewildert. Plumpsklo, Waldeinsamkeit, die Dusche im Fluss hinterm Haus. Tomáš kennt hier jeden Hügel, jeden Baum. Am nahen See deutet er uns abermals leise zu sein. Er weiß, dass sich hier gern ein Wolfsrudel aufhält. Doch die Spuren sind nicht mehr ganz frisch. Tomáš zeigt uns wie man den frischen Schnee aus den ausgetretenen Fährten bläst, um sie genau studieren zu können. Bevor wir kehrt und uns zurück zum Wagen aufmachen, rasten wir am zugefrorenen See. Der Tee ist zu heiß, um ihn zu trinken. Wir füllen die Thermoskanne mit Schnee auf. So kann man ihn trinken. Im Sommer jagen hier die Steinadler Frösche, erzählt unser Guide. Es gibt hier – der einzige Ort in der Gegend – Handyempfang.

B, W, L auf Google Earth

Am Abend versammeln wir uns alle im Kaminzimmer. Der letzte Abend, Zeit zurück zu Blicken. Wobei es bis zuletzt wild zugeht: Keiner ist geduscht. Klo und Wasserleitung sind gefroren. Unten hat das halbe Dorf kein Wasser. Peter, der Expeditionsleiter, hat tagsüber die Daten ausgewertet und projiziert sie auf die Rückseite einer Landkarte. 111 Kilometer haben die drei Teams in den vergangenen Tagen zurückgelegt, auf tief verschneiten Forstraßen, in abgelegenen Tälern, querfeldein und Waldhänge hinauf und hinunter. Mittels GPS haben die Teamleiter auf Google Earth markiert, wo welches Tier nachgewiesen wurde. Wir sehen das am Bildschirm: für jeden Bärennachweis ein B, W für Wolf, ein L für jeden Luchs. Auf einer Excel-Liste hat Peter auch zusammengeführt, welche Säugetiere und Vögel insgesamt gesehen oder nachgewiesen wurden. Für heuer ist auch seine Arbeit hier erledigt. Bald wird es Frühling. Anfang 2013 soll es weitergehen. Da ist bei den Luchsen Paarungszeit, dann sind sie mobil – und über ihre Fährten aufzuspüren.

Als Expeditionsteilnehmer haben wir am eigenen Leib erfahren, wie aufwändig es ist, wilde Tiere auch wirklich zu Gesicht zu bekommen. Und wie beeindruckend diese Momente ohne die Panflötenfolklore sind, die solche Bilder selbst in den besten Naturdokus meist untermalt. Einmal bekommen wir ihn noch zu Gesicht, den Luchs. Gemeinsam sehen wir uns die Fernsehdoku über Miloš Majda an. Miloš ist Nationalparkranger und einer der Teamleiter. Gemeinsam mit Tomáš hat er die Zooluchse ausgewildert.

Später geht es vorm Kamin zwar wildromantisch weiter – bei Gesprächen über Lord Byron und die Balladen Colerdiges. Träumen aber, das wissen wir, werden wir von lynx lynx, dem europäischen Luchs.

 

Die nächsten gemeinnützigen Expeditionen zu Luchs, Wolf und Wildkatze finden von 2. bis 8. Februar bzw. von 9. bis 15. Februar 2013 statt.

Zum Interview mit Matthias Hammer, dem Gründer von Biosphere Expeditions, geht’s hier.

 

www.biosphere-expeditions.org

 

 

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