Die weiche Seite der Brennnessel

Die Brennnessel ist nicht nur die Heilpflanze des Jahres 2022, sondern auch als Faser robuster Rohstoff.

Die Brennessel: Eine beliebte Heilpflanze, ein effektiver Dünger und ein robuster Rohstoff. Bild: Unsplash.com/Paul Morley.

Die Brennnessel ist eine recht anspruchslose Pflanze und benötigt neben Regenwasser zur Zeit der Massebildung im Juni und Juli fast nur einen stickstoffreichen Boden. Bei geringem Niederschlag holt sich die Nessel bei guter Zugänglichkeit zu den unteren Bodenschichten Wasser über ihre Wurzeln. Der kommerzielle Anbau der Brennnessel beginnt meist mit Stecklingen, die als Dauerkultur bis zu zehn Jahre lang auf den Feldern wachsen und ein Mal im Jahr geerntet und fast vollkommen verarbeitet werden. Die Wurzel der Pflanze bleibt nach dem Ernten der Pflanze in der Erde und kann nach Nutzung der Dauerkultur für pharmazeutische Zwecke verwendet werden, aus den Blättern der Brennnessel werden Tees oder Suppen hergestellt und die ebenfalls zum Verzehr geeigneten Samen sind echte Eiweißbomben. Außerdem können aus dem Holz der Brennnesselstängel Pellets gepresst werden. Im Garten ist die Brennnessel Botin eines nährstoffreichen Bodens und umgekehrt ist Brennnesseljauche ein nährstoffreicher Dünger. Mithilfe der in den Nesselzellen enthaltenen Ameisensäure lässt sich ein effektives Pflanzenschutzmittel herstellen.

Brennnesseln wachsen wild, können aber auch ressourcenschonend angebaut werden. Der größte Teil im kommerziellen Brennnesselanbau in Europa findet für die Teeproduktion, wofür die Nesselpflanze von einzelnen kleinen BiolandwirtInnen kultiviert wird und die Blätter getrocknet und zerkleinert werden, statt. Brennnesseln sind aber nicht nur der Ausgangsstoff für wohltuende Heißgetränke, sondern auch für eine vielseitig einsetzbare Faser, die schon in der Vergangenheit immer wieder als Ersatzstoff für Baumwolle eingesetzt wurde, wenn diese knapp war. In den vergangenen Jahren wurde wieder begonnen, mit der Faser zu experimentieren.

Verschiedene Brennnesselgewächse weisen unterschiedliche Faseranteile auf. Um möglichst viele Brennnesselfasern zu gewinnen, wird in Europa die Fasernessel angebaut, sie ist eine Züchtung der »Großen Brennnessel«. In Asien, wo auch einiger Brennnesselanbau stattfindet, setzt man auf das Brennnesselgewächs Ramie. Die Fasernessel zählt wie Flachs und Hanf zu den Bastfasern und hat aufgrund ihrer Züchtung einen bis zu vier Mal höheren Faseranteil als ihre Stammform. Zudem hat die bis zu drei Meter hohe Fasernessel deutlich weniger Nesselzellen als andere Brennnesselgewächse, die für das brennende Gefühl bei Hautkontakt mit der Pflanze verantwortlich sind.

Der Anbau synthetischer Fasern steigt laut dem europäischen Chemiefaserverband (Cirfs) seit 1965 weltweit enorm, der Anbau von Naturfasern – mit Ausnahme von Baumwolle – stagniert.
cirfs.org

Viel Aufwand, wenig Ertrag

Brennnesselfasern sind ein nachwachsender Rohstoff, der aufgrund seiner Fasereigenschaften wie beispielsweise der guten Isolierfähigkeit großes Potenzial für die Textilindustrie hat. Brennnesselfasern sind im wahrsten Sinne des Wortes Naturfasern, da die Pflanze keine künstliche Bewässerung benötigt, die Fasern nach dem Anbau nicht mit Pestiziden behandelt werden müssen und im Gegensatz zu Baumwollfasern vor dem Färben nicht mit Laugen und Wasser gespült und gebleicht werden, da sie von Natur aus weiß sind. 

Die bis zu drei Meter groß werdende Fasernessel hat einen erhöhten Faseranteil und eignet sich somit sehr gut für die Produktion von Textilien. Bild: Mattes & Ammann.

Anders als bei den Baumwollalternativen Flachs und Hanf liegen bei der Brennnessel die jüngeren Fasern ganz im Inneren des Stängels, der zur Fasergewinnung nach einer Trocknungsphase gebrochen werden muss. Dies geschieht in Handarbeit oder mechanisch. Die zum Vorschein kommenden Fasergruppen sind mit 15 bis 30 Zentimetern viel kürzer als jene von Hanf, die bis zu zwei Meter lang werden können, außerdem variieren die einzelnen Fasern in ihrer Länge und Breite. Der Faserteil der Brennnessel wird zunächst durch mechanische Siebe und Schüttler vom Holzteil des Stängels getrennt, die gewonnenen Brennnesselfasern anschließend mit Ultraschall- und/oder Dampfdruckaufschlussverfahren schonend gereinigt.

Ein Viertel des weltweiten Insektizid- und ein Zehntel des Pestizidmarkts entfallen auf den Baumwollanbau. Zudem braucht die Baumwollpflanze 3600–26.900 m³ Wasser pro Tonne Wolle.
Infos unter umweltbundesamt.de

Damit nicht genug: Die Fasergewinnung ist nicht nur aufwändig, sondern auch nicht sonderlich ertragreich, da der Faseranteil meistens unter 20 Prozent der Pflanze liegt. Am Ende der Aufbereitung bleiben diese als Faserflocken übrig, die in Ballen gepresst und in die Spinnerei gebracht werden. Hier entsteht mithilfe maschineller Weiterverarbeitung ein Vorgarn, das nach einem weiteren Spinnverfahren, bei dem die Fasern mithilfe einer rotierenden Trommel verdreht werden, am Ende ein cremeweißes Garn ergibt. Da die Brennnesselfaser im Vergleich zu anderen Naturfasern aufgrund ihres Mangels an Spinnsporen glatter und dadurch schwieriger zum Spinnen ist, wird es meist als Mischgarn mit Viskose für Textilien verwendet. Trotz ihres Produktionsaufwands haben Nesselgarne allerdings bestechende Vorteile. Ein Stoff aus Nesselgarn kann sehr gut Feuchtigkeit aufnehmen, hat einen seidenartigen Glanz und empfiehlt sich aufgrund seiner guten Isolierung sowohl für Sommer- als auch Winterkleidung. Zudem gelten Gewebe und Gestricke aus Nesselgarn als lang haltend und schmutzresistent und finden daher auch in Heimtextilien und Bezugsstoffen für Innenverkleidungen von Autos Verwendung.

Synthetische Fasern wie Polyester bestehen aus Kunststoff, der aus fossilen Energieträgern unter hohem Energieaufwand gewonnen wird, und setzen beim Waschen Mikroplastik frei, das schlussendlich im Meer landet.
Mehr dazu auf biorama.eu/mikroplastik

Brennnesselautos

Aber nicht nur bei Innenverkleidungen, sondern auch bei Außenverkleidungen von Autos können Brennnesseln eingesetzt werden. Als Komponente in Faserverbundwerkstoffen könnte die Pflanze eine tragende Rolle bei Fahrzeugkarosserien einnehmen. Faserverbundwerkstoffe sind Werkstoffe aus einer Faser sowie einem Füllstoff, die zusammengeführt werden, sich mit ihren unterschiedlichen Eigenschaften gut ergänzen und aufgrund ihres geringen Gewichts beim Leichtbau in der Verkehrsindustrie eingesetzt werden. Ein Beispiel hierfür ist das Modell i3 des Autoherstellers BMW, dessen Karosserie komplett aus Faserverbundwerkstoffen besteht. So wie auch bei diesem Modell bestehen die Verbindungen allerdings meistens aus synthetischen Fasern wie Carbon, die Nachfrage nach nachwachsenden Rohstoffen steigt. Diese Nachfrage erkannte auch das Vorarlberger Unternehmen Vtrion, das sich auf Smart Textiles spezialisiert hat, mit Faserverbundwerkstoffen forscht und bei der Brennnesselfaser aufgrund seiner Zugfestigkeit großes Potenzial als Ersatz für synthetische Fasern sieht.

Das Unternehmen Vtrion gehört zur Grabher Group, die 1999 in Lustenau gegründet wurde und sich seitdem auf die Entwicklung von technischen Textilien konzentriert.
grabher-group.company

Starke Faser

Aber nicht nur im Fahrzeugbau, sondern auch im Bauwesen wird an erneuerbaren Rohstoffen geforscht. Ein Beispiel hierfür ist Textilbeton, bei dessen Herstellung dem Beton technische Textilien beigemischt werden, womit der Baustoff nicht nur belastbar, sondern auch korrosionsfrei ist. Auch hierzu experimentierte Vtrion mit der Brennnesselfaser als Ersatz für die Carbonfaser. Carbonfasern sind industriell gefertigte Fasern aus kohlenstoffhaltigen Materialien, die nahezu nur aus Kohlenstoff bestehen, vor allem aufgrund ihrer Festigkeit, Steifigkeit und ihres geringen Gewichts begehrt sind, synthetisch hergestellt werden und daher zunehmend von organischen Materialien ersetzt werden sollen. Das Ergebnis der Forschungen mit der Brennnesselfaser als Faserverbundwerkstoff: Trotz der hohen Zugfestigkeit und der Möglichkeit, die Brennnessel lokal anzubauen, sah man in der Praxis Probleme, da die meisten Fasern mit einer Länge unter 30 Zentimetern als Faserverbundwerkstoffe unbrauchbar sind, denn kürzere Fasern bedeuten auch eine geringere Zugfestigkeit. So gefragt organische Rohstoffe wie die Brennnesselfaser für die Autoindustrie und das Bauwesen auch sind, solange man den Anteil an Langfasern nicht erhöhen und die Massenproduktion erleichtern kann, bleiben Brennnesselautos und Brennnesselbrücken Zukunftsvisionen.

Der schwierigste und aufwändigste Prozess bei der Brennnesselfaserproduktion ist das Trennen von Holz- und Faserteil der Pflanze. Bild: Mattes & Ammann.

Die Zukunft hängt am seidenen Faden

Auch in der Kleidungsindustrie haben Kunstfasern einen hohen Stellenwert und sind neben der Baumwolle nicht mehr wegzudenken, weswegen die Anbaumengen beider Stoffe weiterhin stark ansteigen. Doch aufgrund ihrer schlechten Ökobilanz werden Alternativstoffe gesucht, deren Anbau ressourcenschonend möglich ist. Die Brennnessel ermöglicht zwar einen ressourcenschonenden Anbau, doch die aufwändige Fasergewinnung hat ihren Preis. Einen Preis, den viele in der Modeindustrie nicht zahlen wollen. Versuche, die Brennnessel großflächig für die Textilindustrie anzubauen, um zu einer regionalen Alternative zur Baumwolle zu werden, scheitern daher oftmals am Geld. So auch jener eines großen Textilunternehmens aus einem kleinen Ort in Baden-Württemberg.

Der Meterwarenhersteller Mattes & Ammann erkannte das Potenzial der Pflanze und setzte 2012 auf einem Feld in der Nähe des Firmensitzes 40.000 Nesselpflanzen ein. Und zwar nicht irgendeine Nessel: Gepflanzt wurden Stecklinge der »Große Brennnessel« mit einem Faseranteil von 15 Prozent, die von Mattes & Ammann auf den Namen »Marlene« getauft wurden. 2013 wurden noch einmal 110.000 Pflanzen in der Ungarischen Tiefebene auf einer Fläche von zehn Hektar eingesetzt, für das Fasergewinnungsverfahren wurde außerdem ein Patent angemeldet, das durch mechanische Trennung von Faser und Holz den Prozess hin zu Brennnesselfasern erleichtern soll. Da man beim Produktionsverfahren von Nesselgarn auf Pestizide und chemische Dünger verzichten kann, wäre auch eine Biozertifizierung kein Problem, sagt Werner Moser, der Projektleiter von »Marlene«. Doch so weit kam es nicht. Da die Nachfrage zu gering ist, wird das Garn aus den Fasern der Brennnessel nicht in Masse produziert, das Ergebnis nach der Verarbeitung der Pflanzen kann sich aber in Einzelstücken sehen und spüren lassen.

Der Maschenstoffhersteller Mattes & Ammann ist ein Familienbetrieb, der 1951 von Albrecht Ammann und Christoph Mattes gegründet wurde. Derzeit beschäftigt das Unternehmen in Meßstetten-Tieringen 250 MitarbeiterInnen, die mithilfe von über 500 Maschinen jährlich zirka 50–60 Millionen Quadratmeter Stoff herstellen.
mattesammann.de

Ganz schön weiche Brennnesseln

Auch weil das Brennnesselgarn von Natur aus cremeweiß ist und daher vor dem Färben nicht gebleicht werden muss, kann die Produktion von Textilien aus Brennnesseln insgesamt ressourcenschonender erfolgen als bei manch anderen Stoffen. Bild: Mattes & Ammann.

Gemeinsam mit Mattes & Ammann kreierte die Düsseldorfer Modedesignerin Gesine Jost eine Kollektion mit 40 Kleidungsstücken, bestehend aus Brennnesselgarn, das mit Bambusviskose gemischt und zu einem weichen, seidig-glänzenden Gestrick weiterverarbeitet wurde, aus dem T-Shirts, Kleider und Pullover genäht wurden. Die limitierte Kollektion aus den Fasern von »Marlene« ist bereits vergriffen, dennoch verkauft Jost in ihrem Onlineshop weiterhin Kleidungsstücke aus Brennnesselstoffen wie der Ramie.

»Solange sich der Preis für Materialien wie Baumwolle nicht ändert, wird es die Brennnessel trotz ihrer zahlreichen Vorteile sehr schwer haben.«

Werner Moser, Projektleiter bei Mattes & Ammann

Währenddessen wird im Mühlviertel Brennnesselgarn produziert, jedoch nur in kleinen Mengen. Christiane Seufferlein bietet Kurse an, in denen man altes Handwerk neu erlernt. Dazu zählen neben dem Spinnen und Weben mit Flachs sowie dem Färben mit heimischen Wildpflanzen auch die händische Gewinnung der Brennnesselfasern und deren Weiterverarbeitung zu Brennnesselgarn mit der Handspindel. Zu diesem Zweck plant die Biobäuerin, im kommenden Jahr auf ihrem Hof selbst Fasernesseln anzupflanzen, um ihren KursteilnehmerInnen die Brennnessel näherbringen zu können.

Die Mühlviertler Biobäuerin Christiane Seufferlein bietet online und in Präsenz Spinn- und Färbekurse mit Naturpflanzen an.
faserundfarbe.at

Trotz des erfolgreichen Pilotprojekts von Mattes & Ammann sind zehn Jahre nach dem Einsetzen der ersten Fasernesselstecklinge die Felder in Ungarn Geschichte, die Pflanzen in Baden-Württemberg wachsen zwar noch, finden aber in der Textilindustrie kaum Verwendung. Die Hauptprobleme: der Preis, der pro Kilo reinem Brennnesselgarn im Vergleich zu dem von Baumwolle schätzungsweise um das 10- bis 15-Fache höher ist, und die großen Investitionen, die nötig wären, um eine industrielle Produktion möglich zu machen. Außerdem sei es schwierig, LandwirtInnen zu überzeugen, ihre gewohnten Kulturpflanzen vom Acker zu nehmen, um großflächig Brennnesseln anzubauen, so Werner Moser. Man habe zwar gezeigt, wie gut Brennnesselgarn gewonnen und eingesetzt werden könne, dennoch sei die Nachfrage nach Meterware zu gering und die Produktion damit nicht rentabel. Solange sich der Preis für Materialien wie Baumwolle nicht ändere, werde es die Brennnessel trotz ihrer zahlreichen Vorteile sehr schwer haben, so Moser. Trotzdem will man beim Textilunternehmen weiterhin Überzeugungsarbeit leisten und den Traum von Brennnesseltextilien im großen Stil noch nicht aufgeben. »Ich glaube, was wir tun, ist richtig. Und das wird kommen und das muss kommen«, sagt Werner Moser. Er ist sich sicher, dass Baumwolle in den nächsten Jahren teurer wird und damit Alternativstoffe gefragter werden. Bis dahin schlummert das Potenzial des Multitalents Brennnessel noch weitestgehend ungenützt vor sich hin.

BIORAMA #77

Dieser Artikel ist im BIORAMA #77 erschienen

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