Mother Earth und ihre ungezogenen Kinder

Anthropozaen

Die Öko-Hippies und die Netzwerkpropheten von heute glauben an eine gemeinsame Welt ohne Außen. Geologisch hat dieses Erdzeitalter schon einen Namen: das Anthropozän.

Die Horrornachrichten baden in Ausrufezeichen: Fische vor Fukushima verseucht! Wieder 1.000 Quadratmeter Regenwald gerodet! Sogar das ewige Eis hat ein Ablaufdatum! Bald neun Milliarden Menschen haben unseren Planeten umgepflügt, vom Fracking in der Tiefe bis zum Kohlendioxidausstoß in der Höhe, von der Kolonisierung der Wüsten bis zur Abschaffung der absoluten Dunkelheit durch die Beleuchtung der Ballungsräume. »Die Grenzen des Wachstums«, wie der Bestseller des Club of Rome von 1972 hieß, sind herausgefordert. Doors-Sänger Jim Morrison verglich schon 1967 in »When The Music Is Over« die vom Artensterben heimgesuchte Erde mit einer vergewaltigten Frau, die man mit Zäunen gefesselt hat: »What have they done to the earth?« In Science-Fiction-Filmen wie »Elysium« ist die Erde 2154 ein übervölkerter, staubiger und lebensfeindlicher Ort. Nur in der gleichnamigen elitären Weltallkolonie kriegt man noch nichts davon mit. Im Film. Aber schon heute machen sich – ganz real – am Boden der Tiefsee oder in einer Gletscherspalte Klimawandel und Ozonloch bemerkbar. Unsichtbare Umweltbelastungen wie Radioaktivität, Feinstaub, Elektrosmog, Plastikpartikel oder verunreinigtes Wasser sind alltäglich geworden.

Kann Spuren von Menschen enthalten

Unsere Sehnsucht nach der verlorenen, unberührten Natur hört auf den Namen Bio. Sie wird von uns in voller Schuldbewusstsein gehegten Naturschutzreservaten, in wiederaufgeforsteten Wäldern und mit rituellen Empörungen gegen genmanipulierte Pflanzen gestillt. Die Natur als das fremde Gegenüber des Menschen gibt es nicht mehr, denn wir haben überall unsere Finger im Spiel. Der Mensch hat, geologisch gesprochen, eine eigene Sedimentschicht über der Erde erzeugt. Seit 125 Jahren wird zum Beispiel im Schnitt jeden Tag ein Staudamm gebaut. Jeder einzelne greift in das Ökosystem einer Region ein. Man findet solche Informationen auf der Website »Welcome To The Anthropocene«, einer wissenschaftlich gespeisten Website zur Diskussion der relativ neuen These eines geologischen Menschenzeitalters. Der Nobelpreisträger und Atmosphärenchemiker Paul Crutzen hat gemeinsam mit Eugene F. Stoermer 2000 den Begriff Anthropozän ins Spiel gebracht. Den Übergang vom Holozän zum Menschenzeitalter datiert er mit Beginn der Industriellen Revolution in England. Im Zeitraum zwischen 1750 und 1800 beginnt der Mensch, sich der Erde im großen Stil zu bemächtigen, anstatt sie nur zu bewohnen. Ab der Great Acceleration der Weltwirtschaft um 1950 eskalieren dann die Effekte menschlichen Handelns auf den Planeten.

Die Stratigraphische Kommission der Geologischen Gesellschaft von London folgte 2008 der These Crutzens und erkannte das Anthropozän als neues geologisches Zeitalter an, auch wenn einige Forscher nach wie vor den Einfluss des Menschen für überschätzt halten. Seitdem wird  gestritten, wann das Anthropozän begonnen hat. Und damit auch darüber, ab welchem Grad der Veränderung die Natur nur mehr als menschlich überformte Natur zu bezeichnen ist. Manche Forscher setzen den Beginn der menschlichen Umgestaltung der Erde mit singulären Ereignissen an, zum Beispiel mit den ersten, in Sedimentablagerungen bis heute nachweisbaren Atomtests. Andere gehen bis zu 60.000 Jahre zurück und schlagen einen sanften Einstieg in den Umstieg vor, der mit dem Auszug des Homo Sapiens aus Afrika beginnt. Andere wieder betonen, dass erst die Akkumulierung von mehreren, oft zeitlich weit auseinander liegenden Faktoren nachhaltige und geologisch relevante Auswirkungen zeitigt. Letztlich bleibt die Diskussion über die geologisch korrekte Einordnung aber akademisch. Entscheidend ist die Konsequenz aus den unbestreitbaren Einflussnahmen des Menschen auf das Ökosystem des Planeten. Wir haben nur eine Erde, und deren Ressourcen wie auch deren Regenerationsfähigkeiten sind begrenzt.

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Illustration: Benedikt Rugar, 2012

1968: eine Außensicht aufs gemeinsame Ganze

Doch das kulturelle Selbstverständnis, Teil einer Welt zu sein, in der alles mit allem verbunden ist und die kein Außen mehr kennt, ist älter als die Rede vom Anthropozän. Es ist das Resultat großer Erzählungen und mythischer Bilder. Ironischerweise ist der Siegeszug des neueren ganzheitlichen Denkens mit einem Foto verbunden, das gerade keine Menschen, sondern nur den Blauen Planeten aus erhabener Distanz zeigt. Das behauptet zumindest das Kunst, Popkultur, Wissenschaft und Zeitgeschichte verbindende, spannende Ausstellungsprojekt »The Whole Earth – Kalifornien und das Verschwinden des Außen« im Berliner Haus der Kulturen der Welt.

Das prägende Bild des Menschenzeitalters stammt aus dem All. Es kam 1968 im Gefolge der Apollo 8-Mission in Umlauf. Es löste das lange Zeit den Schrecken der Weltauslöschung symbolisierende Bild des Atompilzes als Symbol der Globalität ab. Erstmals konnte man die Erde so fotorealistisch und doch zugleich fernab aller nationalen Konkretion betrachten. Im majestätischen Blau-Weiß erscheinen alle Grenzen und Konflikte begraben und vergessen: We are one.

Zugleich rückte seit den 60er Jahren auch die Idee einer kosmischen Ganzheit ins Bewusstsein, in der Mensch und Erde verbunden und die alte Politik keinen Platz mehr haben sollte. Stattdessen suchte man nach Utopien im planetarischen Ausmaß, nach Innenwelten mit Hilfe von bewusstseinserweiternden Drogen und esoterischen Holismus-Lehren und nach neuen, nachhaltigen Lebensformen in Öko-Kommunen. »Wir sind wie Götter, und wir könnten darin auch ganz gut werden«, stand als Motto zum ikonischen Bild des Blauen Planeten am Cover des legendären /Whole Earth Catalog/. Er erschien erstmals 1968, nachdem zehntausenden Kids nach dem Summer of Love 1967 sogar urbane Flower-Power-Hochburgen wie San Francisco zu eng geworden und sie auf der Suche nach einem neuen Leben aufs Land gezogen waren. In den frühen 70er Jahren wurde dieser Werkzeugkasten mit dem Untertitel »Access to tools« über eine Million Mal pro Ausgabe verkauft – und das, obwohl oder gerade weil das eigenartige Heft keine herkömmlichen Artikel brachte. The Whole Earth Catalog wirkte wie ein wild wuchernder Fleckerlteppich zum Thema alternatives Denken und Leben. Er listete Nützliches zu Aspekten wie Taschenrechner oder Gärtnern genauso auf wie Ansichten der geodätischen Kuppeln des visionären Architekten Buckminster Fuller und wies auf kybernetisch orientierte Sachbücher hin. Gründer des Hefts war Stewart Brand, heute Befürworter eines Ökopragmatismus, damals ein aufstrebender Jungunternehmer und Multimediakünstler. Die hippieske Begeisterung für Informationstechnologie, Drogenökologie und Entrepreneur-Chic rettete er später in das digitale Zeitalter. Er war 1985 Mitbegründer des ersten offenen Online-Netzwerks The WELL und ist bis heute eines der Aushängeschilder des kalifornischen Cyber-Utopismus.

An einer Figur wie Brand lässt sich die Ambivalenz festmachen, die in einem alternativ eingefärbten Fortschrittsglauben steckt. Die Kommunen von damals waren zunächst reale soziale Netzwerke: antiautoritär, neugierig, modern, offen – aber ohne das virtuelle Sicherheitsnetz. Der linksradikale Flügel der Kommunen agitierte gegen Ausbeutung, solidarisierte sich mit den Kämpfen der Black Panther und lehnte teilweise sogar die heilige Kuh des Kapitalismus, das Privateigentum ab. Fraglos haben die »Lockerungsübungen« um 1968 (Ausstellungs-Co-Kurator Diedrich Diederichsen) die autoritären Charaktere entsorgt und die entscheidenden Impulse für die neuen sozialen Bewegungen beigesteuert – vom Feminismus über den Antirassismus bis zur Ökofraktion.

Die Geburt des Egomonsters

Zugleich aber schlüpften im New-Age-Gedöns auch die alternativen Egomonster, die nichts anerkennen außer ihrer eigenen Allmachtsgefühle. Zudem versackten viele der Kommunen bald in Esoterik oder im sektiererischen Ökomuff. Manche verstrickten sich in neuen Hierarchien, gerade weil sie glaubten, politische Fragen dadurch lösen zu können, indem man sie nicht mehr stellte. Das Verdrängte kommt aber leider immer zurück. Da helfen auch die Beschwörung der Gemeinschaftlichkeit, die Bemühungen zur Selbstoptimierung, die Anleitungen zur Bewusstseinserweiterung und die geradezu religiöse Verklärung des Computers nichts. Die entpolitisierte, technikbegeisterte Version der kalifornischen Gegenkultur hat, bewusst oder unbewusst, dazu beigetragen, den informationssüchtigen Kapitalismus von heute zu entwickeln. Die neoliberale Lesart der Befreiung des Selbst führt von der analogen Suchmaschine /Whole Earth Catalog/ zu Microsoft, Google und Facebook. Deren Gründer verstehen sich ja letztlich auch alle als Rebellen gegen ein muffiges System.

Heute sind die antiautoritären Garagencyberpunks von einst selbst die Player, die in Billiglohnländern moderne Sklaven ihre Gadgets zusammenschrauben lassen und im Verbund mit den Geheimdiensten wie der NSA alles und alle ausspähen. Daran sieht man: Ja, wir sitzen im selben Boot. Aber das heißt noch lange nicht, dass wir in die gleiche Richtung rudern.

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Stewart Brand (Hrsg.): Whole Earth Catalog.
Access to Tools, Herbst 1968 (Cover)

 

TIMELINE
ANTHROPOZÄN: Making-of eines neuen Erdzeitalters

60.000 v. Chr: Der Homo Sapiens bewaffnet sich und beginnt seinen Siegeszug in der Welt.

9.640 v. Chr.: Beginn des Holozän, das mit einer abrupten Klimaerwärmung am Ende des Pleistozän datiert wird.

1800: Beginn des Anthropozän nach Paul J. Crutzen und Eugene F. Stoermer. Das Anthropozän ist mit der Industriellen Revolution in England verknüpft.

1873: Der italienische Geologe Antonio Stoppani bezeichnet die menschlichen Kräfte als »große tellurische Kraft«. Er nennt diese neue Periode die »anthropozoische Ära«.

1945: Die ersten Kernwaffentests führen zu radioaktivem Niederschlag, der sich in der Biosphäre nachweisen lässt.

1950: Periode der Great Acceleration nach Paul J Crutzen. Verzeichnet wird unter anderem der dramatische Anstieg des Artensterbens, der Temperatur, der CO2-Konzentration und der Bevölkerung.

1970: Der erster Earth Day in den USA wird von 20 Millionen Menschen gefeiert.

2000: Paul J. Crutzen und Eugene F. Stoermer prägen in einem Aufsatz den Begriff Anthropozän.

2013-2014: Das Berliner Haus der Kulturen der Welt lotet in einem zweijährigen Projekt die Bedeutung des Begriffs Anthropozän als neues Weltbild aus. 2013 findet die von Diedrich Diederichsen und Anselm Franke kuratierte Ausstellung »The Whole Earth« statt.

 

Songs der Sorge

Fünf essenzielle Musikstücke zur Mutter Erde und dem Für und Wider der kalifornischen Hippiekultur:

The Doors – When The Music Is Over (1967)

Jefferson Airplane – We Can Be Together (1969)

David Bowie – Space Oddity (1969)

Jello Biafra – California Über Alles (1978)

Public Enemy – Fear Of A Black Planet (1994)

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