»Die Kugel ist ja schneller als der Schall.«

Was der Kugelschuss in der Praxis bedeutet, berichtet Gerd Kämmer, Naturschützer und Rinderhalter von »Bunde Wischen«.

Große Nähe, sichere Auflage, präziser Schuss: Von diesem Hochstand aus fällt der Schuss. In 99 von 100 Fällen, sagt Gerd Kämmer, ist das anvisierte Tier sofort tot. Bild: Bunde Wischen.

In Bunde Wischen (plattdeutsch für »Bunte Wiesen«) ist der Weideschuss bereits seit 2010 gängige Praxis. Der genossenschaftlich organisierte Bioland-Betrieb ist aus einer Naturschutzinitiative hervorgegangen. Um eine von der Verbuschung bedrohte Orchideenwiese zu erhalten, hatte man am Ostseefjord Schlei in Schleswig 1986 mit der Beweidung durch Rinder begonnen. Heute erhält der Verein 1700 Hektar Land, das extensiv von über 1000 Rindern freigehalten wird. Die Tiere kommen ganz ohne Zufütterung aus. Die Direktvermarktung ihres Fleischs erhält die artenreiche Landschaft. 200 Tiere werden jedes Jahr mit der Kugel erlegt. Damit ist Bunde Wischen, wie Vorstand und Gründer Gerd Kämmer vermutet, »wahrscheinlich in ganz Europa der Betrieb mit den meisten Kugelschüssen auf der Weide«. Drei Mal jährlich gibt Kämmer sein Know-how auch als Ausbildner im Kugelschuss-Sachkundelehrgang weiter. Denn auch wenn diese Schlachtmethode derzeit in der Nische stattfindet: Die Nachfrage steigt.

Ihre 1000 Rinder leben auf 1700 Hektar ganzjährig im Freien. Das Argument, dass das Einfangen und der Transport in den Schlachthof stressig wären und Tiere und Fleischqualität leiden würden, klingt plausibel. Gilt das auch für Betriebe mit wenigen, weniger wilden Tieren?

Gerd Kämmer: Unsere Tiere sind umgänglich, wir achten auf ruhige, nicht zu wilde Mutterkühe. Es führen ja auch Wanderwege durch unsere Naturschutzflächen. Aber wir wollen aus Prinzip nicht, dass die Tiere lebend zum Schlachthof kommen! Selbst für streichelzahme Tiere, die ans Gehen am Halfter gewöhnt sind, bedeuten die heutigen Industrieschlachthöfe Stress und Leid. Deshalb schlachten wir seit 2010 mit dem Kugelschuss – also mit dem Gewehr – auf der Weide. Seit 2021 ist diese Methode auch EU-weit geregelt. Wir wollen, dass unsere Tiere nie ein Schlachthaus von innen sehen. All das geht natürlich nur, wenn KundInnen bereit sind, das mitzutragen, und den entsprechend höheren Fleischpreis bezahlen.

Braucht es immer noch für jeden einzelnen Schuss eine Genehmigung?

An manchen Stellen ja. Wir haben eine Genehmigung immer fürs laufende Jahr – angelehnt an das sogenannte Jagdjahr, das vom 1. April bis zum 31. März läuft. Dort haben wir pauschal den Abschuss für 250 Rinder geregelt. Im Schnitt schlachten wir 200 Tiere, somit haben wir etwas Puffer. Wir sind wahrscheinlich in ganz Europa der Betrieb mit den meisten Kugelschüssen auf der Weide.

200 Tiere. Heißt das, dass es auf den Bunten Wiesen jeden zweiten Tag knallt?

Wir kommen geblockt auf vier Tiere an einem Tag in der Woche. Zu Weihnachten sind es ein paar mehr.

Wie reagiert denn die Herde, wenn ein Tier erlegt wird?

Das haben wir ab 2010 mit der Universität Witzenhausen, einer Öko-Außenstelle der Uni Kassel, genau erforscht. Die Herde reagiert interessanterweise gar nicht. Entscheidend ist, dass ein Tier aus der Gruppe heraus geschossen wird. Eine Vereinzelung vorab würde für ein Herdentier Stress bedeuten. Es würde durchdrehen und panisch seine Artgenossen suchen. Das Tier, das beschossen wird, schreit nicht, zappelt nicht. Die Kugel ist ja schneller als der Schall. Wenn der Schuss zu hören ist, fällt das Tier bereits zu Boden. Wir merken in der Herde keinerlei Reaktion.

Wie viele Tiere wurden denn bei Ihnen schon auf der Weide geschossen?

Zehn Jahre, na 2000, würde ich sagen, wenn nicht deutlich mehr.

Und gab es jemals Fehlschüsse?

Fehlschüsse gibt es, das ist richtig. Wir haben eine Fehlerquote von etwa einem Prozent. Bei einem Schuss von 100 bricht das Tier nicht zusammen. Wir schießen ja direkt ins Gehirn. Die Stelle ist ein bisschen größer als ein 2-Euro-Stück. Wenn sich das Tier plötzlich dreht, geht der Schuss daneben. Aber Panik bei einem Tier hatten wir noch nie. Spätestens 30 Sekunden später sitzt ein zweiter Schuss und alles ist erledigt. Die Fehlerquote ist jedenfalls viel geringer als beim Bolzenschuss im Schlachthaus. Da gibt es ja wilde Zahlen von teilweise 20 Prozent Fehlbetäubungsquote, wo jedes fünfte Tier bei vollem Bewusstsein abgestochen wird.

Der Ursprung Ihres Betriebs liegt im Naturschutz. Alles begann mit einer Orchideenwiese, die durch Beweidung erhalten werden sollte. Warum brauchen Orchideen Weiderinder?

Weil ihnen irgendjemand die Vegetation rundherum vom Leib halten muss. Ich bin ja eigentlich Botaniker und komme von den Orchideen. Lange dachte man auch im Naturschutz, Orchideenwiesen müssen gemäht werden. Aber ich dachte: Orchideenwiesen mähen wir Menschen seit ein paar Hundert Jahren. Orchideen gibt es aber bereits ein paar Millionen Jahre. Also sind sie als Art evolutionär an Beweidungsprozesse angepasst. Die Beweidung hat dem Gefleckten Knabenkraut – um diese Orchideenart ging es – übrigens sehr gutgetan. Es breitet sich aus. Erst die Trittsiegel der Rinder schaffen Struktur, die das ermöglicht. Viel besser, als wenn einfach nur gemäht würde.

Bei Ihnen weiden Galloway und Hochlandrinder, also Rinderrassen von den Britischen Inseln, um eine artenreiche Kulturlandschaft zu erhalten. Haben Sie nie daran gedacht, die Arbeit von alten Landrassen aus dem Norden Deutschlands erledigen zu lassen?

Tatsächlich haben wir gerade damit begonnen. Versuche gab es schon länger. Das Problem war bislang, dass die alten Landrassen im Norden Schleswig-Holsteins traditionell Milchvieh sind, die im Winter nie draußen waren. Für die Ganzjahresweide im Naturschutz sind sie somit nur bedingt geeignet. Wir haben es mit dem Angler Rind versucht. Das sind schöne, einfarbig rotbraune Tiere, die traditionell hier vorkommen. Aber für Mutterkühe dieser auch historisch eher auf Milchleistung gezüchteten Rasse ist die Futterqualität bei uns nicht ausreichend. Seit 2021 gibt es in der Gegend nun aber zwei Bioland-Meiereien, die ihren Bauernhöfen die Milch nur mehr dann abnehmen, wenn sie auch die männlichen Kälber am Hof behalten. Kälber, besonders die männlichen Tiere, werden in der Milchwirtschaft ja oft gleich verkauft. Nun müssen sie in der sogenannten kuhgebundenen Kälberaufzucht am Hof bleiben. Dafür bekommen die Bäuerinnen und Bauern 70 statt 50 Cent pro Liter Milch. Sie tun das gern, wissen aber nach ein paar Monaten nicht, wohin mit den Tieren. Wir nehmen diese Kälber vom Angler Rind und wollen eventuell eine neue Marke um sie herum kreieren. Ende 2023 werden die ersten Tiere schlachtreif sein. Wir haben schon jetzt mehr Betriebe, die uns ihre männlichen Kälber bringen möchten, als wir auf unseren Flächen Tiere halten können.

Der Diplombiologe Gerd Kämmer gründete vor 35 Jahren die Genossenschaft Bunde Wischen, um durch Beweidung eine Orchideenwiese zu erhalten. So wurde er als Biobauer zum Weideschusspionier und unterrichtet am Bildungszentrum Echem in Niedersachsen den fachgerechten Kugelschuss. Bild: Bunde Wischen.

BIORAMA #78

Dieser Artikel ist im BIORAMA #78 erschienen

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