Gefundenes Fressen #1

stilleben

Bild: Ulrike Koeb / honey&bunny / www.koeb.at

Hier schreiben Sonja Stummerer und Martin Hablesreiter über Essen als essentielles politisches und kulturelles Thema. Zum Ersten. 

Wann genau unsere Vorfahren begriffen, dass wir Natur (um)gestalten können ist unklar. Vermutlich kam der Homo Sapiens vor mindestens zehntausend Jahren auf die Idee, sich die Erde untertan zu machen. Die Zeitgenossen der sogenannten Neolithischen Revolution verwandelten Körner in Saatgut, Landschaft in Acker und Jagdbeute in Nutztiere. Damit wurde die Natur zu Kultur. Der Rest ist Geschichte.

Mit viel Erfindungsgeist, akribischem Zugang und Zeit designten die Seßhaften aus ein paar wildwachsenden Grasarten Weizen, Gerste oder Mais. Sie gestalteten das Leben um, indem sie aus kleinen, wilden Paarhufern jene riesigen Milch- und Fleischversorger züchteten, die wir heute Kühe nennen. Sie definierten Land- und Wasserflächen nach Nutzbarkeit, ebneten es ein, terrassierten, bewässerten, bebauten. Sie waren und sind Designer.

Gestaltung ist der bewusste Eingriff in die Umwelt, also auch in die Natur, mit dem Ziel, diese in eine bestimmte Richtung zu verändern. Das Resultat kann funktional, ästhetisch oder sinnlich sein, es beeinflusst aber in jedem Fall das Leben. Dabei kann man getroßt davon ausgehen, dass die Gestaltung von Essen, also FOOD DESIGN der Ursprung aller Kulturformen, allen Zusammenlebens und schließlich auch aller Kunst ist. Zuerst kommt das Fressen dann die Hütte und vielleicht irgendwann die Dekoration derselben.

Seit dem Anbeginn der Zivilisation steckt der Mensch allerlei Ideen in sein Futter um es schmackhafter, wohlriechender, klingender, transportabler, haltbarer, etc. zu machen. Wie hätten denn Städte entstehen können ohne das Design von Lebensmitteln für urbane Siedlungsstrukturen? Wie wären denn die Römischen Legionen über die Alpen gekommen ohne ihre wohldurchdachte Nahrungsversorgung? Wie wäre denn das, im Winter so unwirtliche, Österreich besiedelbar ohne Fermentation, ohne Salzen oder Räuchern? Ohne Food Design gäbe es diese Alpenrepublik gar nicht.

archimboldo

Bild: Ulrike Koeb / honey&bunny / www.koeb.at

Gegenwärtig designen WissenschaftlerInnen mit Hilfe von Genmanipulation (oder anderen Züchtungsmethoden) verschiedenste, essbare Hybridgetreide oder –Fruchtsorten. Aromen werden aus Kohlenstoffverbindungen (Erdöl) entwickelt und hergestellt. Das Design essbaren Materials ermöglichte die Massenproduktion von Lebensmitteln und es wird weiter daran geforscht, die Effizienz zu steigern. Ob das „gesund“ oder „ungesund“ ist wollen wir vorerst ExpertInnen überlassen. Betroffen ist er aber, unser menschlicher Körper. Keine Zelle im menschlichen Körper wird älter als sieben Jahre. Sie stirbt. Eine neue folgt nach und diese entsteht / besteht aus jenen Materialien, die wir im Vorfeld gegessen haben. Mit dem Essen, mit der Auswahlt unserer Kalorien und Esswaren gestalten wir unseren Körper. Essen ist kein Treibstoff, der energiespendend oben rein und unten raus geht. Jede verwertbare Zelle Ihrer Bratwurst wird für Jahre ein Teil von Ihnen sein. Wir sind also tatsächlich das Material, das wir essen. Sind wir demnach Industriedesign? In Anbetracht der Tatsache, dass wir beinahe täglich industriell hergestellte Teigmischungen in Brot oder Pasta, industriell gezüchtetes Fleisch, oder industriell produzierte Fertiggerichte verspeisen, trifft das wahrscheinlich zu. Wir verleiben uns Industriedesign ein. Industriedesign ist ein Teil von uns. Wir sind Industriedesign.

Der Lebensmittelmarkt Europas funktioniert nach sehr zentralistischen Prinzipien. Immer gleiche Distributionsstellen namens Supermarkt bieten an unzähligen Standorten in jeder Region zu jeder Uhrzeit jedes Tages, zu jeder Jahreszeit eine (fast) idente, designte Palette an Waren an. Diese (essbaren) Produkte werden täglich von Zentrallagern in die einzelnen Supermärkte geliefert. Sie sind immer gleich. Sie sind industrialisiert. Das Prinzip des Sortimentsupermarktes verlangt definitiv nach rationalisierten Massenproduktionen und logistischen Lösungen zur Belieferung aus allen Regionen der Welt. Das derzeitige System erlaubt saisonale, ökologische, faire, biodiverse, gesunde Produkte nur in sehr eingeschränktem Ausmaß. Ist das nun ein weiterer Aufruf, in den nächsten Biomarkt zu gehen? Nein! Es geht um mehr, als um individuelles Konsumverhalten! Es geht um die Frage, wie wir Veränderungen in unserem Essverhalten provozieren können. Essen ist fast immer mit moralischen Vorstellung verknüpft. Jede Gesellschaft, jede Kultur wählt ihre Nahrungsmittel nach moralischen Regeln aus und gestaltet ihre essbaren Produkte nach rituellen Ideen und Ordnungssystemen und verzehrt es nach definierten Regeln innerhalb ihrer Gemeinschaft.


Über Gefundenes Fressen: 

Jeder Bissen ist ein politischer Akt. Was wir wann wie und warum essen, kann unwürdige Arbeitbedingungen, Bodenerosion in Zentralafrika oder brennende Amazonasflächen auslösen. Die Frage des täglichen Essens hat nichts mit Diäten, Rezepten oder Gourmetkritiken zu tun sondern mit CO2 Emissionen, Fracking oder Gentechnologie. Jeder Biss ist Kultur. Jedes Schlucken ist Politik. Sonja Stummerer und Martin Hablesreiter wollen in ihrem Blog das Essen als essentielles politisches Thema in der Mitte der Gesellschaft positionieren, weil die Aufnahme der alltäglichen Kalorien nicht nur eine Frage von Genuss und Geschmack sondern auch der Lebenseinstellung und Denkweise einer Gesellschaft ist. Erst das Fressen, dann die Moral? Nein.

 

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