Frau im Wolfspelz

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BILD Karin Wasner

An den Wänden hängen Bilder von Indianern, Wölfen und Vorfahren. Auf dem Sofa sitzt Käthe Recheis, die Autorin, zu deren Leben das alles gehört. Ein Besuch wie eine Reise.

BIORAMA: Der indianisch-amerikanische Autor Joseph Bruchac hat Ihnen den indianischen Namen Molse-Mawa gegeben. Was bedeutet dieser Name und vor allem: Was bedeutet er Ihnen?

Käthe Recheis: Er bedeutet mir sehr viel. Man kann ihn übersetzen mit dem Wort Wolfspelz. Dieser Pelz umhüllt den Wolf, schützt ihn. Im übertragenen Sinn bedeutet das also „Beschützerin der Wölfe“. Ich hab eine ganz besondere Beziehung zu Wölfen. Als ich ein Kind war, hatten wir einen Schäferhundmischling, dessen Großvater ein Wolf war und weil ich die Jüngste in der Familie war, hat er mich behandelt, wie seinen Welpen. Zupfen und Zerren, auf ihm herumtollen und herumsteigen – ich konnte alles mit ihm machen. Und wenn er bei mir war, wusste ich, dass mir nichts passiert. Er war ein intelligenter und in vieler Hinsicht begabter Hund, ein herrliches Tier. Damals war der Wolf noch ausschließlich das böse Raubtier, aber mir haben diese Tiere schon immer etwas bedeutet. In einigen meiner Bücher, „Der Weiße Wolf“ oder die „Wolfssaga“, kommen sie dann auch vor.

Nachdem Wölfe lange Zeit als ausgerottet galten, erobern sie jetzt immer mehr Gebiete zurück. Freut Sie das dann besonders?

Ja, freilich! Die Angst vor dem Wolf ist ja übertrieben. Der Wolf ist eigentlich ein sehr scheues Tier und meidet den Kontakt mit Menschen. Man muss ja mehr als Glück haben, wenn man überhaupt einen sichtet.

Der Kanon ihrer Kinder- und Jugendbücher ist voll von indianischen Figuren, Tieren, Wölfen, indianischer Mythologie. Woher kommt das Interesse an dieser naturverbundenen Kultur?

Ich muss gestehen: Der liebe Karl May mit seinem Winnetou ist Schuld. Nur bin ich relativ bald draufgekommen, dass er ein geschwätziger Plauderer ist und von Indianern eigentlich nichts versteht. Das ist natürlich verzeihbar, weil er die Möglichkeiten, die man heute hat, damals nicht hatte. Ich habe dann begonnen, mich mit dem Thema auseinanderzusetzen und zu recherchieren. Die respektvolle Einstellung gegenüber der Natur war mir nicht fremd, auch wenn sie aus einer anderen Quelle kam. Ich hatte das Glück, als Kind eine Religion kennenzulernen, die nicht etwas Düsterer, Strafendes war sondern vielmehr die Ehrfurcht vor der Natur als Mittelpunkt hatte. Wir haben als Kinder gelernt: In eine blühende Wiese läuft man nicht rein, weil man sonst die Blumen und Gräser zerstört und das ganze Leben da drinnen durcheinander bringt. Wir haben gelernt, dass man im Wald still sein soll. Dieser Respekt vor der Natur ist bei mir nahtlos ins indianische Denken übergegangen. Leider ist uns der Respekt gegenüber der Natur vielerorts abhandengekommen.

Sie schreiben seit über 50 Jahren Kinder- und Jugendliteratur, Bücher für Generationen von Lesern, die in ganz unterschiedlichen Welten aufgewachsen sind. Glauben Sie, hat sich der Stellenwert des Lesens in den letzten 50 Jahren verändert?

In den letzten 50 Jahren ist ungemein viel geschehen, aber das Lesen wird weiterhin einen wichtigen Stellenwert haben. Man kann die Neuen Medien nicht ablehnen, sie bringen viel Positives mit sich. Ich denke, man muss sie danach beurteilen, wie man sie verwendet. Aber das Lesen, die Kunst, diese abstrakten Zeichen in Wörter umzuwandeln, das wird weiterhin notwendig sein. Der Reichtum der Sprache wird nur im Buch bewahrt. Im Alltag verwenden wir einen Bruchteil unseres Sprachschatzes. Das Lesen wird also weiterhin eine Bedeutung haben, aber sicher im Zusammenhang mit anderen Medien.

Nutzen Sie diese anderen Medien? Haben Sie einen Facebook-Account?

Nein, aber ich hab eine Website! Und natürlich suche ich im Internet oft etwas. Ich erinnere mich: Die erste technische Innovation, die ich mit angeschafft habe, war ein Kopierer. Es war ja furchtbar die vielen Durchschläge auf der Schreibmaschine zu machen. Jetzt nehme ich mir aber das Privileg des Alters heraus: Die Dinge, die ich brauche, nutze ich. Die Dinge, die ich nicht brauche, nutze ich nicht.

Wie vielen Kindern und Jugendlichen, glauben Sie, haben ihre Bücher und vor allem das Buch „Lena – Unser Dorf und der Krieg“ geholfen, die Vergangenheit zu verstehen?

Es sind wohl gar nicht so wenige gewesen. Ich habe – vor allem natürlich aus Österreich – unzählige Anfragen von Schulen bekommen, Briefe von Schülern und Schülerinnen, die geschrieben haben, dass sie jetzt, nachdem sie das Buch gelesen haben, diese Zeit erst richtig verstehen. Also ich glaube ein bisschen… zwei, drei werden’s schon gewesen sein. (lacht)

„Lena“ erzählt von einem zehnjährigen Mädchen, das den Anschluss Österreichs an Nazi-Deutschland erlebt, und wie sich ihr Alltag und das Dorfleben damit verändern. Der Krieg ist heute nicht mehr klar etwas, das Oma oder Opa noch miterlebt haben. Wie können wir in dieser Umbruchphase, in der uns die Zeitzeugen „abhandenkommen“, eine Kultur des Erinnerns aufrecht erhalten?

Das Wichtigste ist: Wir müssen uns erinnern. Die Erinnerungen muss bewahrt werden, um zu wissen, was eine Diktatur bedeutet. Es wurde oft der Vorwurf laut, dass nach 1945 nicht darüber gesprochen wurde. Ich kann das bis zu einem gewissen Punkt nachvollziehen, denn es hat ja fast niemanden gegeben, dessen Haus nicht zerbombt worden war, in dessen Familie nicht jemanden umgekommen ist und es war für viele Menschen schlimm, zu erkennen, dass sie an einen Verbrecher geglaubt hatten. Ich hätte „Lena“ nicht direkt nach 1945 schreiben können, weil ich viel zu glücklich und froh war, dass diese Zeit endlich vorbei war. Dieser Krieg und die Diktatur waren eine große Wunde und wenn eine Wunde anfängt zu heilen, dann nimmt man nicht ein Messer und schneidet rein.

„Lena“ ist dann 1987 veröffentlicht worden.

Es gab einen Punkt, da habe ich gewusst, dass ich diese Geschichte den nachkommenden Generationen erzählen muss. Das war der Grund, warum ich „Lena“ geschrieben habe. Ich glaube, und darüber bin ich sehr glücklich, dass es mir gut gelungen ist, das, was ich erzählen wollte, auch zu vermitteln. Die Arbeit an „Lena“ war eine schlimme Zeit, denn ich konnte natürlich nicht distanziert darüber schreiben. In dem Augenblick, als ich mich an die Schreibmaschine setzte, musste die Realität des Krieges die momentane Realität werden. Der Krieg ist ein Trauma und ich habe damals wieder zu leiden begonnen. Am Ende war ich froh, dass das Buch fertig war. Ich habe es geschrieben, damit die jetzige Generation die Zeit versteht. Den Menschen, die in einer Demokratie aufgewachsen sind und leben, kann so etwas ja sonst nicht bewusst werden.

Im Buch beschreiben Sie eine Situation, in der die Dorfgemeinschaft ein Bauernmädchen schützt, das einen Verstoß gegen die Rassengesetze begangen hat, weil sie ein Kind von einem polnischen Zwangsarbeiter bekommt. Dieser Schutz durch das Kollektiv, der da beschrieben wird, das gemeinsame für etwas einstehen – haben sie das persönlich in ihrem Leben auch erfahren?

Schwere Zeiten bringen einen positiven Zusammenhalt, aber auch das Gegenteil, nämlich dass der Nachbar plötzlich zum Feind werden kann. Diese Szene im Buch ist sicher eines der positiven Beispiele. „Lena“ ist ein Mosaik aus meinen Erinnerungen, denen der Familie und der Menschen im Dorf. Der damalige Dorf-Polizist hat mir bei meinen Recherchen zum Beispiel erzählt, dass er jeden Tag mit Bauchweh in sein Büro gegangen ist und gehofft hat, dass nicht wieder eine anonyme Anzeige eines Spitzels gegen jemanden vorliegt. Es ist nie etwas Schwarz oder Weiß, es gibt immer beides und die Grauzone dazwischen.

Sie haben in ihren Werken zwei Dinge vereint: Einerseits die Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit und Realität, andererseits die Liebe für fantastische Begegnungen, die in ganz anderen, fremden Welten stattfinden. Würden Sie sich selber eher als realistischen Menschen oder als Fantastin bezeichnen?

Beides existiert sehr gut nebeneinander. Die fantastische Literatur ist ja eine Möglichkeit, Themen in eine andere Welt zu übersetzen, damit sie zeitlos werden. „Lena“ war ein Buch, das ich über diese eine Diktatur geschrieben habe. Aber es gibt ja nicht nur eine Diktatur, es gibt ja leider viele. Wenn man die Geschichte in ein erdachtes Land setzt, wird sie zeitlos. Beides benütze ich.

Sie haben einmal über sich selber gesagt, dass Sie Kinder- und Jugendbücher schreiben, weil sie daran glauben, dass es eine der prägendsten Form der Literatur ist, und weil sie so vielfältig ist, dass Sie, solange Sie schreiben können, nie an eine Grenze stoßen werden. Woran arbeiten Sie gerade?

Jetzt bin ich sehr schaumgebremst. Schreiben ist ja furchtbar anstrengend. (lacht) Es macht sich kein Mensch einen Vorstellung, unter welcher Belastung man steht, wenn man an einem Manuskript arbeitet. Man schreibt es ja nicht nur einmal, sondern x-mal bis man selber damit einverstanden ist. Irgendwie bin ich erleichtert, dass dieser Stress jetzt vorbei ist und dass ich jetzt einfach entspannen kann.

Welches Buch lesen Sie selber gerade?

Ah! Meinen verehrten… (Käthe Recheis fasst rechts neben ihr Sofa und holt ein Buch hervor: „Atlas eines ängstlichen Mannes“ des österreichischen Schriftstellers Christoph Ransmayr) Den Christoph Ransmayr verehre ich unheimlich. Er ist ein Sprachkünstler. Manchmal sind mir moderne Autoren deshalb so fremd, weil sie so eine abgehobene Einstellung zu den Menschen haben, bei der ich einfach mit mitkann. Aber wenn ich Ransmayr lese, macht sich Wohlgefallen, von meinem Kopf bis zu den Zehen runter, breit.

 

Ad Personam

Käthe Recheis, 1928 in Oberösterreich geboren, hat als Autorin und Übersetzerin an die 80 Bücher für Kinder und Erwachsene veröffentlicht, unter ihnen Klassiker der österreichischen Kinder- und Jugendliteratur.

Einer der Schwerpunkte in Käthe Recheis Leben und Schaffen ist die Auseinandersetzung mit den Indianervölkern Nordamerikas, die Vermittlung und Förderung ihrer vielfältigen Kultur. Sie lebt in Wien und Oberösterreich. „Lena – Unser Dorf und der Krieg“ ist soeben als Hörbuch im Mono Verlag erschienen.

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