Von Aristoteles bis Zitrusfrucht

Fairness

Fair Trade, Fair Play, Fair Use, Fair Value. Was ein Fairness-Siegel trägt, gilt als anständig und vertretbar. Ein Blick auf die Moralgeschichte vom alten Griechenland bis zum Orangensaft vom Discounter.

Dem Begriff Fairness begegnen wir heute – außer im Sport – vor allem beim Einkauf. Dafür sorgt seit 30 Jahren das Fairtrade-Siegel. Fairtrade ist mehr als ein PR-Label für den gutmenschlichen Kühlschrank im Besserverdiener-Haushalt. Hinter Fairtrade steckt eine Menge europäischer Philosophie. Von der Tugendlehre der griechischen Antike über christliche Moralvorstellungen und die klassische Moralphilosophie der europäischen Aufklärung bis ins Supermarktregal hat das Konzept der Fairness einen weiten ideengeschichtlichen Weg hinter sich gebracht.

Kann man Fairness überhaupt universell definieren? Der englische Begriff Fairness bezeichnet eher individuelle Vorstellungen von Gerechtigkeit oder Rechtmäßigkeit. So lässt sich trefflich darüber streiten, was man als fair oder unfair empfindet. Im Lauf der Geschichte des Denkens gab es eine Reihe unterschiedlicher Vorstellungen von Fairness, doch die Geschichte des heutigen Fairness-Verständnisses reicht weit zurück.

Die Wurzeln der Fairness

Wer tief in der europäischen Geschichte gräbt, der stößt auf Sokrates, Aristoteles und andere Vertreter der antiken Tugendethik. Diese Ethik klassifizierte bestimmte menschliche Eigenschaften als gut und böse. Auf die Frage, wie man gut und glücklich leben soll, antworteten die frühen abendländischen Denker: Ja eben tugendhaft. Die Philosophen der Aufklärung griffen diese ethischen Vorstellungen im 18. Jahrhundert auf. Doch in der langen Periode dazwischen wurden vor allem christliche Konzeptionen von Moral in Europa bedeutend. Schon die Bibel enthält das Gebot, andere so zu behandeln, wie man selbst behandelt werden möchte. Die wichtigsten christlichen Moralvorstellungen kennt man als die angeblich in Stein gemeißelten Zehn Gebote. Die von den christlichen Kirchen vermittelten Wertevorstellungen haben bis heute eine große Bedeutung, auch wenn sich in Europa nur noch wenige per Beichte von Sünden zu befreien versuchen und der Rat des Pfarrers nicht mehr als das Non plus ultra in Sachen Moral angesehen wird.

Seit dem 18. Jahrhundert gilt eher die Vernunft als maßgebliches Kriterium beim Aufstellen moralischer Grundsätze. Adam Smith, der vielen als Begründer der modernen Ökonomie gilt, stellte 1759 die »Theorie der ethischen Gefühle« auf und sah die Moral emotional begründet. Ihm galten solche Entscheidungen als moralisch, bei denen man als unbeteiligter Beobachter zur gleichen Entscheidung gekommen wäre.  Immanuel Kant ersann mit seinem »Kategorischen Imperativ« von 1785 den Grundsatz, stets so zu handeln, dass man aus seinem persönlichen Handeln ein allgemeines Gesetz ableiten könnte.

Nur kurze Zeit später waren es die Vertreter des Utilitarismus, die weniger pauschale Regeln für moralisches Handeln aufstellten. Jeremy Bentham vertrat das Prinzip, Entscheidungen nach ihren sozialen Folgen zu bewerten. Danach gelten Handlungen als dann moralisch richtig, wenn sie einer größtmöglichen Anzahl von Menschen nützlich sind. Da nach diesem »Greatest Happiness Principle« von 1789 erst die weitreichenden Konsequenzen von Entscheidungen moralisch zu bewerten sind, spricht man bei dieser Form der Ethik vom Konsequentialismus. Jeremy Bentham gilt übrigens auch als einer der ersten Verfechter von Tierrechten, die er aus der Fähigkeit von Tieren, Schmerz und Leid zu empfinden, herleitete. Auch die Legalisierung von Homosexualität und allgemeine Wahlen gehörten zu den Forderungen, die er aus seinem Gerechtigkeitsempfinden ableitete. Im 19. Jahrhundert entwickelte John Stuart Mill die utilitaristische Theorie weiter. Für ihn galten Entscheidungen dann als moralisch richtig, wenn sie Glück verursachten, und als falsch, wenn sie eher Leid beförderten. Darüber hinaus vertrat Mill feministische Positionen und sah Geschlechterunterschiede vor allem als eine Frage von Erziehung und sozialen Strukturen. Im 19. Jahrhundert war er, wie auch Bentham, seiner Zeit damit weit voraus.

Ein bedeutender Moralphilosoph der jüngeren Vergangenheit war John Rawls. Der Harvard-Professor konstruierte eine Gerechtigkeitsmodell, bei dem er auch begrifflich die direkte Verbindung zwischen Gerechtigkeit und Fairness herstellte: Er verpasste seiner Theorie 2001 den Titel »Gerechtigkeit als Fairness«. Zur Herleitung der Theorie entwickelte Rawls das Gedankenexperiment eines Urzustands, in dem eine Gruppe von Gleichen eine zukünftige Gesellschaftsordnung schafft. Da in diesem Urzustand alle gleichermaßen unter einem sogenannten »Schleier des Nichtwissens« stecken und nicht wissen, an welcher Stelle der zu schaffenden Gesellschaftsordnung sie einmal stehen werden, sind alle Menschen im Urzustand auf Fairness als grundlegendes Kriterium sozialer Ordnung angewiesen.

Was ist nun die Verbindung zwischen den Moralphilosophen der Antike, christlichen Werten, den Vordenkern des Liberalismus und dem Fairtrade-Siegel auf Fruchtsaft, Kaffee oder Schokolade?

Ethischer Konsum oder Ethik als Konsumgut

Seit jeher ist die Wirtschaft ein prädestinierter Austragungsort von Konflikten um Gerechtigkeit und Fairness. Die Integration unterschiedlicher Erdteile in einen gemeinsamen Weltmarkt fördert dabei Konkurrenz und Konflikte. Sich als Konsument auch nur halbwegs moralisch und fair zu verhalten, ist in einem solch komplexen System leichter gesagt als getan.

Doch trotz der schwindenden Bedeutung religiös basierter Werte haben viele Menschen ein Bedürfnis danach, moralische Werte aufrecht zu erhalten und bewusst danach zu leben. Daran ändert auch eine von vielen als neoliberal kritisierte globale Wirtschaftsordnung nichts, die soziale Bindungen in den westlichen Gesellschaften auflöst und unter dem begründeten Verdacht steht, egoistisches Handeln zu fördern. Da Konsumenten eine nicht unbeträchtliche Marktmacht ausüben, eröffnet der Konsum die Möglichkeit, für moralische Werte durch bewusstes Verhalten im Supermarkt einzutreten. Klassische moralische Grundsätze beim Einkaufen zu befolgen ist allerdings schwierig, da man die Herkunft der verschiedenen Bestandteile von Lebensmitteln und Gebrauchsartikeln meist nicht nachvollziehen kann. Und dennoch würden sich viele Menschen im Supermarkt gerne klassische moralische Fragen stellen. Möchte ich mit dem Kauf eines Artikels die Benachteiligung von Menschen an einem anderen Ort, Raubbau an der Natur oder Kinderarbeit fördern? Würde ich selbst gerne meine Arbeit zu den gleichen Bedingungen wie die Produzenten eines Produktes verrichten? Kann ich es verantworten, zur Befriedigung meines eigenen kurzfristigen Bedürfnisses die Bedürfnisse anderer zu ignorieren?

Wer sich mit moralphilosophischen Fragen eingehend auseinandersetzen möchte, nimmt sich damit eine Menge Arbeit vor. Das Ergebnis im Alltag umzusetzen und sich stets moralisch richtig und gut, sprich: fair, zu verhalten, überfordert fast zwangsläufig. Fairtrade nimmt Konsumenten die komplexe ethische Analyse ein Stück weit ab. So wie in vergangenen Zeiten die Kirche bestimmten Entscheidungen ihren Segen erteilte, tun dies heute in moderner Form Fairness-Labels. Sie sind somit Gütesiegel im klassischen Wortsinn, auch wenn einige dabei zynisch feststellen, die Labels würden eine moderne Form des Ablasshandels darstellen, käufliche Gewissensbereinigung sozusagen.

Fairtrade-Produkte erleichtern es, moralische Werte in Kaufentscheidungen einzubeziehen. Politisch betrachtet, ermöglichen sie die Abstimmung über diese Werte an der Supermarktkasse. Damit sind sie eine idealistische Orientierungshilfe im moralischen Labyrinth der Weltwirtschaft, selbst wenn ihr Nutzen im Zweifelsfall nur darin besteht, daran zu erinnern, dass neben fair gehandelten Produkten auch immer unfair gehandelte im Regal stehen.

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