Was Frauenfiguren erzählen

Ulli Lust widmet sich in ihrem neuen Comic-Essay Frauenrollen in der Menschheitsgeschichte – anhand von prähistorischen Statuetten. 

Eine Illustration zeigt die älteste Menschensskulptur der Welt. Beschriftungen geben weitere Informationen dazu wie die Größe und das Alter.
Die Venus vom Hohefels. Bild: Reprodukt.

Dass das Patriarchat und eine Vormachtstellung von Männern ein Irrweg sind, der viele Nachteile mit sich bringt, zeigt der Alltag. Dass dieses aber auch erst vergleichsweise spät in der Menschheitsgeschichte – vor grob 5000 Jahren – einsetzt und auch insofern keineswegs naturgegeben ist, ist eine der Einsichten, die man beim Lesen von Ulli Lusts neuem Werk »Die Frau als Mensch« quasi nebenbei mitnehmen kann. Solche Aussagen werden von der Comicautorin und -zeichnerin angedeutet, aber nicht explizit formuliert. Eine Herangehensweise, die schon Ulli Lusts wahrscheinlich bekannteste Werke »Heute ist der letzte Tag vom Rest deines Lebens« und »Wie ich versuchte, ein guter Mensch zu sein« prägte. »Diese zwei dicken Bücher, die Autobiografien sind, sind persönliche Geschichten, weil zufällig in meinem eigenen Leben etwas Interessantes passiert ist. Etwas, das es wert ist, dass man es als Comic zeichnet. Ansonsten bin ich jetzt nicht so eine autobiografische Erzählerin«, erklärt Ulli Lust anlässlich der Veröffentlichung von »Die Frau als Mensch« im Interview. In »Heute ist der letzte Tag vom Rest deines Lebens« (Avant, 2009) erzählt sie eine Episode aus ihrer Jugend, als sie 1984 als 17-Jährige mit einer Freundin ohne Geld nach Italien gereist ist und dort Abenteuer, aber auch Kriminalität, Belästigung und Vergewaltigung erlebt hat. Sie erzählt davon mit einnehmender Offenheit, ohne Beschönigung, aber auch ohne Lehren oder gar eine Warnung daraus abzuleiten. In »Wie ich versuchte, ein guter Mensch zu sein« (Suhrkamp, 2017) erzählt sie ebenso offen von einer Dreiecksgeschichte, in der sie sich neben ihrer Beziehung mit einem Liebhaber aus Nigeria einlässt. Der Versuch einer »utopischen Liebe, die in Besitzanspruch und Gewalt umschlägt, eine Geschichte der sexuellen Obsession, der Geschlechterkonflikte und der Selbstbefreiung«, wie der Verlag treffsicher zusammenfasst.

Urzeit

Als Prähistorie wird die Frühzeit der Menschheitsgeschichte, aus der keine schriftlichen Überlieferungen vorliegen, bezeichnet. Sie wird anhand von Artefakten und anderen Funden beforscht.

Statuetten und ihre Geschichte(n)

Ulli Lust hat seit Anfang der 1990er-Jahre viel mehr veröffentlicht. »Die Frau als Mensch« ist nun ein essayistischer Comicband mit rund 250 Seiten inklusive einer Menge Fußnoten zu Studien, Büchern und Forschungsseiten. Ein chronologischer kulturgeschichtlicher Abriss, erzählt anhand von Statuetten und archäologischen Funden. »Auf diese Frauenstatuetten bin ich erstmals 1998 gestoßen und ich habe das Thema seitdem verfolgt«, sagt Ulli Lust über ihre Faszination. »Die Figuren geben Einblick in rund 30.000 Jahre Geschichte – ein Kunstschatz mit vielen interessanten Aspekten. Und sie lassen sich als Figuren natürlich auch gut zeichnen.«

Eine Illustration zeigt verschiedene menschliche Skulpturen über die Jahrtausende.
Statuen und andere Funde sind eine der wenigen Quellen für die Erforschung von Zeiten aus denen keine schriftlichen Quellen existieren. Bild: Reprodukt.

Die detektivische Herangehensweise macht ihr Freude und ähnelt jener von HistorikerInnen und ArchäologInnen, die aus Funden und Untersuchungen Theorien entwickeln und verwerfen. Vereinzelt zitiert sie in dem Buch auch veraltete Theorien, die wohl einem allzu männlichen Blick auf die Geschichte entsprungen waren, oder zitiert Forscher, die in Vorträgen erklären, dass »Männer wichtiger waren als Frauen«. Großteils verzichtet sie aber auf diese »Pointen und darauf, diese irrsinnigen Theorien« nachzuerzählen, sondern erzählt anhand der Figuren und anderer Funde aus feministischer Sicht darüber, was man heute über diese Phase der Menschheitsgeschichte sagen kann. Im Zentrum stehen dabei BewohnerInnen rund um den Ort Pavlov, nomadisch lebend auf dem Gebiet des heutigen Tschechiens, die später bis nach Willendorf gezogen sind. Eine Gegend, in der die in Wien geborene Ulli Lust einen Teil ihrer Kindheit verbracht hat. Andere Teile des Buches beschäftigen sich mit Funden aus Asien und auch den Khoisan – einem Stamm aus dem Gebiet des heutigen Botswana.

Venus von Dolní Věstonice

Eine Venusfigur aus Keramik – ihr Alter wird auf 25.000 bis 29.000 Jahre geschätzt. Ihre Entdeckung widerlegte die Annahme, dass Keramik im Paläolithikum noch nicht bekannt war. 
Neben der Venus von Dolní Věstonice wurden am Hang der Pollauer Berge, etwa bei Pavlov (Pollau) in Tschechien, zahlreiche kleine Figuren aus gebranntem Lösslehm gefunden.

Empathie in der Evolution

Der großartige Titel »Die Frau als Mensch« spielt natürlich damit, dass allzu oft Menschen und Männer gleichgesetzt werden. Nicht nur in geschichtlichen Betrachtungen, aber gerade da. Eines der Themen in dem Buch ist naheliegend immer wieder auf verschiedene Weise die Rolle der Frauen in früheren Gesellschaften und was sich darüber aus den Figuren und Funden ablesen lässt. Über die allzu oft tradierte und so nicht richtige Erzählung der männlichen Jäger und weiblichen Sammlerinnen, aber auch darüber, wie mit Nacktheit oder auch der Menstruationsblutung umgegangen wurde – und dass diese keineswegs mit Scham besetzt waren. Oder darüber, dass es so scheint, als hätten gerade Personen mit körperlichen Besonderheiten abseits der Normen oder auch Transgenderpersonen in Gesellschaften besondere Rollen übernommen und zugeschrieben bekommen, etwa indem sie SchamanInnen wurden. Eine Rolle spielen auch Vorformen von Religionen, mystischen Annahmen und magischen Praktiken – etwa wenn alle Dinge und Lebewesen als in einem Kreislauf befindlich und wiederkehrend angesehen werden und diesen eine hohe Wertschätzung entgegengebracht wird und sie nicht als konsumierbare Ressource betrachtet werden.

Bonobos

Menschenaffen mit auffälligem Sozialverhalten. Im Kampf um Rangordnungen kommt es sowohl bei Männchen als auch Weibchen zu aggressiven Interaktionen – aber von deutlich geringerer Intensität als bei Schimpansen. 
Innerhalb der Großgruppe bilden die Weibchen den Kern und übernehmen auch die Führungsrolle. Bei der Aggressionskontrolle kommt sexuellen Interaktionen eine wichtige Rolle zu. Dies dürfte der Reduktion von Spannungen dienen und wird unabhängig von Alter, Geschlecht oder Rangstufe ausgeübt.

Eine für die Überlegungen in »Die Frau als Mensch« wichtige Forscherin ist die US-amerikanische Anthropologin, Verhaltensforscherin und Primatologin Sarah Blaffer Hrdy. In »Mütter und Andere«, anderen Werken und ihrer Forschung betont sie, wie entscheidend für uns als Mensch beziehungsweise unser Überleben und unsere Evolution nicht Selektion durch Aggression und Kampf waren, sondern die Fähigkeit zu Empathie und »hypersozialem Verhalten«. So wie in der Geschichte der Menschheit die Fähigkeit, zu teilen und aufeinander zu achten, wichtiger war als Besitz und Konkurrenz. Und es wäre vielleicht nicht Ulli Lust, wenn es nicht auch immer wieder um Sexualität ginge. Etwa um die Bonobos, mit den Schimpansen verwandte Menschenaffen, die – und das ist auch unter Affen in dieser Form einzigartig –, weniger auf Aggression zur Lösung von Konflikten setzt, sondern auf vielfältige sexuelle Handlungen und deren entspannende und angenehme Wirkung. Wenige AutorInnen können sich diesen Aspekten so humorvoll, offen und voller Interesse und Verständnis widmen wie Ulli Lust. Sie berichtet in Bild und Text von Funden und Interpretationen, formuliert aber keine Lehren. Und freut sich, wenn sie LeserInnen zu eigenen Gedanken animieren konnte. Anstöße gibt es davon auch in »Die Frau als Mensch« viele. 

Das Cover von »Die Frau als Mensch«

»Die Frau als Mensch: Am Anfang der Geschichte« von Ulli Lust, Reprodukt, 2025.
Nachdem unsere reichhaltige Geschichte viel Stoff ergibt und es viel Interessantes zu erzählen gibt, ist »Die Frau als Mensch« der erste Band, dessen Fortsetzung 2026 erscheinen soll.

Ulli Lust

1967 in Wien geboren, studierte an der Kunsthochschule Berlin Weißensee. Sie zeichnet Comics heute in erster Linie in Berlin und unterrichtet Zeichnung und Comic an der Hochschule Hannover. Zu ihren zahlreichen Auszeichnungen zählt der LA Times Book Award 2014 für »Heute ist der letzte Tag vom Rest deines Lebens«.

Ein Porträtfoto von Ulli Lust.

Historische Mythen über Frauen und ihre Körper(funktionen) gibt es so einige – etwa im Hinblick auf die Menstruation.

BIORAMA #95

Dieser Artikel ist im BIORAMA #95 erschienen

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