Balkontraste

Bild: Flickr, Metro Centric, CC BY 2.0

Bild: Flickr, Metro Centric, CC BY 2.0

Die eine Stadt ist umgeben von Sand und Monokulturen. Die andere von Wäldern, Bergen und Flüssen. Balkonkultur hat nur eine von beiden. Wien und Berlin im Vergleich.

Neben der Frage, ob man hier jetzt eigentlich noch rauchen dürfe, war die Frage, ob Berlin oder Wien die tollere Stadt sei, das meistgeführte und zugleich zielloseste Bargespräch des jungen 21.Jahrhunderts, zumindest in Wien. Diese Frage hat sich in den letzten Jahren weitestgehend von selbst erledigt. So nennt sich mittlerweile auch in Wien die Bedienung im Kaffeehaus lieber Barista, das Kaffehaus selbst ist ein Coffeeshop, und das Schnitzel kommt faschiert, liegt in der Semmel und heißt jetzt »Burger«. Andererseits hat sich die Arbeitsmarktlage zwischen den Städten umgedreht. Seit Anfang 2015 ist die Arbeitslosenquote selbst in Berlin niedriger als in Wien. Das hat in den letzten Jahren aber auch wiederum dazu geführt, dass eine Mietwohnung am Prenzlberg mittlerweile teurer ist als am Spittelberg. Berlin und Wien unterscheiden sich im Grunde strukturell nur noch an … hmm, zum Beispiel an ihrem Zugang zu Natur. Das spiegelt sich in ihren Balkonen.

Wien, die dicht bebaute Stadt der Gründerzeit, liegt zwischen Alpen und Karpaten in fast konkurrenzlos schöner Landschaft. Bei soviel Pracht entschieden sich die Bewohner, lieber nicht zu viel Natur in ihre Stadt hineinzulassen. Die Eiswinde im Wiener Becken töten pro Überquerung des Stephansplatzes sicher mehr Gehirnzellen als das Nasezuhalten beim Niesen. Wiener und Skandinavier sollen ein  mutual understanding on a deeper level  haben. Wiens Gassen sind so eng, dass sie im Winter monatelang kein direktes Sonnenlicht trifft – vielleicht darum. Wien überheizt im Winter jeden Innenraum um fünf bis acht Grad. Wien liegt im Sommer klimatisch näher an der russischen Steppe als an der Burgunder Pforte. Wiener haben andere Probleme als ein Frühstück in der Sonne.

Eine seltene Option, die Wien nur den auserwähltesten seiner Kinder anbietet: ein Balkon. Es gibt sie einfach nicht. Also praktisch gar keine. Nicht mal im Fernsehen. Nicht einmal in der TV-Werbung. Mit Balkonen zu werben wäre zum Beispiel für Wien Energie, als ob man mit der Wiener Mittelmeerküste werben würde. Wiener Studenten verbringen zahllose milde Sommerabende schmusend auf Wiener Dächern, auf die sie sich über Baugerüste, Kräne, oder mit Postschlüsseln schleichen – aber eine WG-Party auf dem Balkon? Wer hat das je erlebt?

Durch Balkonlosigkeit zermürbt

Nun ja, mittlerweile drücken sich Dachlofts wie Schwammerl aus der angegriffenen Wiener Bausubstanz, aber echte, ernstzunehmende Wohnungen haben nach wie vor keine Balkone. Im Grunde logisch. Gassen, in denen sich 30 Meter hohe Altbauten keine zehn Meter gegenüberstehen, lassen schlicht keine Balkone zu.
2014 hat die rot-grüne Stadtregierung in Wien das Baurecht für Balkone gelockert. Was aber blieb war die Notwendigkeit, dass alle Parteien eines Hauses einem Balkonbau zustimmen müssen. Was das für eine Stadtpopulation bedeutet, die durch Jahrhunderte der Balkonlosigkeit zermürbt ist, war abzusehen: keine Balkone. Wien ist vermutlich die balkonloseste Stadt Österreichs (»wahrscheinlich Europas« – um einen regionaltypischen Vergleichsmaßstab zu bemühen).

Was der Wiener nicht weiß: Ein Balkon ist ein ganz gewöhnlicher Nutzteil einer Mietwohnung – wie eine Badewanne oder ein Gasherd, evtl. ein wenig geschmäcklerisch, aber keineswegs ungewöhnlich für einen großen Teil der Bevölkerung anderer Metropolen. Beispielsweise in Berlin. Berlin ist trotz schwindender Brachflächen immer noch ein weites Feld im märkischen Sand. Wie soll man hier Wochen ohne Urlaub in der Innenstadt überstehen? Ohne Balkon können nur Menschen leben, die nie einen hatten (zum Beispiel Wiener). Balkone, das sind einige Quadratmeter Freiluft, Sonne, Natur, Sternenhimmel, Kräutergarten, Obst- und Gemüse-Experimentierflächen im Betondschungel. Der Nutzbalkon – er geht von der Küche oder dem Wohnzimmer weg – ist der Ort, an dem man im Sommer frühstückt bzw. auf dem die Tomaten und der Basilikum wachsen (wo auch sonst). Der Freizeitbalkon, von jedem anderen Zimmer aus, ist der Ort, auf den man in klaren Nächten das Bett schiebt, weil man sonst ja den Sternenhimmel nicht sehen kann – eh klar. Ohne Badewanne kein Bad, ohne Gasherd kein ordentliches Kochen, ohne Balkon keine Balkon-Teenage-Romance am Rande elterlicher Neujahrsfeiern, keine Beziehungskrisen auf WG-Balkonen, keine Nachbarschaftskonflikte über die Straße hinweg. Keine Kinder, die Passanten mit Papierfliegern beschießen. Keine glücklosen Kiwi-Züchtungen, keine geglückten Rosmarinkreuzungen.

Bild: Flickr, Thomas Quine, CC BY 2.0

Bild: Flickr, Thomas Quine, CC BY 2.0

Der Blick in die Balkongeschichte

Vielleicht ist die Wien-Berlin-Balkondifferenz aber mehr als eine Mentalitätsfrage, sie könnte vor allem historische Gründe haben. In Berlin gibt es drei wichtige historische Balkon-Ereignisse. Am 30. Juli und 1. August 1914 hielt Kaiser Wilhelm der II. vom Berliner Schloss aus zwei bedeutende »Balkonreden«. In diesen Ansprachen setzte er die Bevölkerung über die Mobilmachung Russlands ins Bild und schwor auf den drohenden Krieg ein. Am 30. September1989 hielt Hans-Dietrich Genscher seine Balkonrede von der deutschen Botschaft in Prag aus, in der er rund 3.000 Flüchtlingen aus der DDR eröffnete, dass ihre Ausreise in die BRD ausverhandelt worden sei. »Ich bin heute zu Ihnen gekommen, um Ihnen zu sagen …«

Am 19. November 2002 hielt Michael Jackson seinen Sohn vom Balkon des Berliner Hotel Adlon. Gut, das dritte Datum war etwas weniger bedeutend als die ersten beiden, aber der beste Beweis dafür, dass Balkone in Berlin zu einem gewachsenen Symbol überschwenglicher Euphorie geworden waren.

Von Balkonen wird jedenfalls Geschichte in kollektive Gedächtnisse eingraviert. Nicht so im kollektiven Wiener Gedächtnis. Ganz allgemein besteht das Wiener kollektive Gedächtnis vor allem aus weißen Flecken und Erinnerungslücken. Im Besonderen ist das bezüglich historischer Balkonereignisse ausgeprägt. Historische Wiener Balkondaten beschränken sich weitgehend auf den 15. März 1938 am Wiener Heldenplatz – Erinnerungslücke (der Zweite Weltkrieg begann erst 1939). Das zweite Balkondatum ist, im Versuch der Auslöschung des ersten Datums, auf den 5. Mai 1955 gefallen. Damals hat Leopold Figl vom Balkon des Belvedere gerufen: »Österreich ist frei!«. Naja, wie wir eigentlich wissen, sind diese Worte so nie von diesem Balkon aus gefallen. Alles ein Mythos.

Den historischen, österreichischen Bezug zu Balkonen könnte man in diesem Sinn also wahlweise als etwas unaufrichtig oder schlicht als »unerfahren« bezeichnen. Aber im Grunde ist alles nur eine Frage der Zeit. In der Globalisierung gehen gute und unerwünschte Neuerungen immer Hand in Hand. In Berlin darf man jetzt guten Kaffee trinken, in Wien schlechten. Die Berliner werden mehr Arbeit haben, die Wiener mehr Freizeit. Berlin ist voll von Wiener Künstlern und die Wiener Bundestheater sind so pleite wie ein Berliner. Und Balkone bekommt Wien in den nächsten zehn Jahren sicherlich auch.

 

VERWANDTE ARTIKEL