Stadtfarm Berlin: Wels im Glashaus

Ausgerechnet der Afrikanische Raubwels ermöglicht es Berlinern im Stadtteil Lichtenberg, sich von lokal produziertem Salat und Kräutern, Süßkartoffeln und Räucherfisch zu ernähren. Vermarktet wird mit dem Lastenrad. Nun soll das Start-up – als Fisch-Franchise – auch andernorts die Selbstversorgung sichern.

Wie alle Lebewesen ist Clarias gariepinus ein Wunder der Schöpfung. Kein Genetiker hätte am Reißbrett eine bessere Kreatur schaffen können als es die extremen Witterungsbedingungen in Südafrika hervorgebracht haben. Zumindest aus Sicht der Stadtfarmer in Berlin-Lichtenberg. Für sie ist der Afrikanische Raubwels das ideale Nutztier, trotz seines stark ausgeprägten kannibalistischen Verhaltens. Denn während der Wels in den Flüssen Afrikas allein durch die Fluten zieht und sich keine Beute entgehen lässt, ist er genetisch darauf programmiert, in Dürrezeiten in den letzten Pfützen zusammenzurücken. Plötzlich toleriert er seine Artgenossen ganz ohne Stress auf engstem Raum. Damit hat ihn die Evolution zum idealen Geschöpf für die artgerechte Massentierhaltung und Aquakultur gemacht.

Fruchtbare DDR-Gewächshäuser
»Wir haben den Anspruch, hier lokal ein globales Ernährungsproblem zu lösen«, erklärt Anne-Kathrin Kuhlemann, während sie die Abdeckung des Vier-Kubikmeter-Beckens hebt. Darunter dunkles, warmes Wasser – kein Brodeln, aber doch deutlich Bewegung, immer wieder tauchen Flossen, Barteln und Mäuler aus der Oberfläche. 2.000 Raubfische tummeln sich im Becken vor uns, ganz ihrer Natur entsprechend, weil sie sich in einer Trockenperiode wähnen – während ringsum in den drei Glashäusern der Stadtfarm Gemüse, Obst und Kräuter sprießen.
Wo zu DDR-Zeiten Schnittblumen für den Westexport wuchsen, hat Kuhlemann mit ihren drei Mitgründern das Prinzip Aquaponik weitergedacht. Weitergedacht deshalb, weil man herkömmliche Aquaponikanlagen – mit ihrer kombinierten Produktion von Fisch und Gemüse in einem Nährstoffkreislauf – wegen des hohen Wasserverbrauchs als nicht wirklich ökologisch erachtet. Der Grundgedanke ist gleich geblieben, doch bei der Berliner Aquaterraponik-Anlage ist auch Erde (»terra«) Teil des Kreislaufs.
Damit produziert man verhältnismäßig naturnah: Die Ausscheidungen der Fische werden von Bakterien in Dünger umgewandelt. Das Wasser fließt im Anschluss durch Becken mit Erde, wo Regenwürmer ihren Beitrag leisten. Die Pflanzen wiederum nehmen die Nährstoffe auf. Damit reinigen sie das Wasser, welches schließlich wieder zu den Fischen gelangt. Nur das Fischfutter und verdunstetes Wasser muss dem Kreislauf von außen zugeführt werden.
Sowohl WWF als auch Greenpeace führen in ihren Einkaufsratgebern den Wels aus Kreislaufanlagen als eine der wenigen Fischarten an, die man noch guten Gewissens essen kann. Denn Clarias gariepinus – der hier in Lichtenberg unter seinem Kosenamen »Clara« vermarktet wird – schmeckt nicht nur köstlich und hat einen angenehmen Eigengeschmack, »auch ökologisch ist der Fisch ein Traum«, schwärmt die Betriebswirtin während wir ins Gewächshaus nebenan gehen. »Die Futterverwertung funktioniert 1:1, das heißt aus einem Kilo Futter wird ein Kilo frischer Fisch.«
Den Gutteil des Futters macht Soja aus Deutschland aus, ein Drittel Fischmehl. Noch. Denn bald soll der Raubwels ganz auf rein pflanzliche Kost umsteigen. Auch das kein Problem, denn in »Notzeiten« macht das gefräßige Tier zwar vor seinen Artgenossen halt, sonst ist er aber nicht wählerisch.

Die erste Stadtfarm der Stadt liegt im Osten Berlins, inmitten des Landschaftsparks Herzberge, der von der Deutschen Bahn auch als ökologische Kompensationsfläche gepflegt wird. (Foto: Julia Schmidt)

Fischkonserven aus dem Osten Berlins
Die Jungfische bezieht die Stadtfarm mit einem Gewicht von 10 Gramm aus einer Zucht aus Rostock. In nur sechs Monaten erreichen sie dann ihr Schlachtgewicht von 1,5 Kilo. Zum Vergleich: Forellen brauchen, je nachdem wie intensiv sie gemästet oder ob sie biozertifiziert gefüttert werden, ein bis zwei Jahre bis zur Schlachtreife. Ein ökologisch besonders empfehlenswerter Bio-Karpfen kommt erst nach drei bis vier Sommern auf ein Gewicht von 2,5 Kilo.
Nach der ersten Saison hat die Stadtfarm Ende 2017 ihre Ökobilanz errechnet. Ihre Aquaterraponik-Anlage produziert jährlich 50 Tonnen Fisch, 30 Tonnen Obst und Gemüse – und spart gegenüber konventioneller Erzeugung 80 Prozent des Wasserbedarfs, 80 Prozent des Flächenverbrauchs und 85 Prozent des CO2-Ausstoßes. Solch beeindruckende Zahlen kommen auch dadurch zustande, dass vor Ort Produziertes gleich vor Ort veredelt wird: etwa zu Salaten und Suppen als Mittagsmenüs, zu Pestos, Räucherfisch, Fischbratwurst und Fischkonserven. Und weil mittlerweile konsequent lokal vermarktet wird.

»Im Verhältnis zur Qualität sind unsere Produkte sehr fair im Preis – viele Kunden kaufen jede Woche bei uns ein.« – Anne-Kathrin Kuhlemann, Stadtfarm-Gründerin

Ob das in einem ehemaligen Ostbezirk wie Lichtenberg wirklich funktionieren würde, stellte man anfangs noch in Frage: »Wir waren unsicher, ob wir zum Verkaufen nicht eventuell auf Märkte in anderen Gegenden gehen müssen«, gesteht Anne-Kathrin Kuhlemann. Doch die Erzeugnisse wurden rasch, im unmittelbaren Umkreis und »von ganz normalen Leuten« gut angenommen, nicht nur im Hofladen. Im Umkreis von fünf Kilometern – »da leben immerhin 300.000 Menschen« – wird mit dem Fahrrad ausgeliefert; an Privatpersonen, Büros Restaurants und Cateringbetriebe. Einmal im Monat lockt der Markttag an die tausend Besucher aufs Areal – und mittlerweile auch andere lokale Produzenten, die die Plattform dankbar nutzen. Trotz des Erfolgs: in den hippen Kiezen der Stadt kennt man die Stadtfarm mitunter gar nicht. Was sich nun ändern soll.

Salaternte in der Stadtfarm, die auch mit Exoten experimentiert, etwa Avocado, Bananen und Zitrusfrüchten. (Foto: Julia Schmidt)

Fisch aus der Franchise-Farm
Der Radius der Stadtfarm soll sich vergrößern. Anne-Kathrin Kuhlemann ist schließlich Betriebswirtin – und das Stadtfarm-Konzept skalierbar. Derzeit führt man dutzende Gespräche mit potenziellen Stadtfarm-Betreibern in Deutschland, einige davon auch direkt in Berlin und Brandenburg. »Wir sprechen mit Partnern, die lokal produzieren und den Verkauf verantworten, gehen aber selbst auch als Gesellschafter mit in die Unternehmen – denn bis die ersten zehn, zwanzig Anlagen stehen, bleibt das ein Lernprozess.«, so Kuhlemann. »Jede mittelgroße Stadt verträgt eine Stadtfarm«, heißt es im Promotionvideo auf der Website. Jede neue Stadtfarm koste eine Million Euro und würde nach einem Jahr den operativen Breakeven erreichen. Teil des Franchise-Konzepts ist es, neuen Anlagen Know-how zur Verfügung zu stellen.

Tomaten aus Berlin, die von der Stadtfarm lokal vermarktet und mit dem Lastenrad ausgeführt werden. (Foto: Julia Schmidt)

Pop-up im Biosupermarkt
Seit kurzem ist die Stadtfarm in Berlin mit Pop-up-Stores in Biosupermärkten vertreten. Das bringt nicht nur neue Kundschaft, sondern ist auch durchaus brisant. Regulär gelistet werden dürfen Stadtfarm-Produkte dort nämlich nicht. Denn auch Aquaterraponik fällt unter die Aquaponikrichtlinien der Europäischen Union – und kann deshalb nicht bio-zertifiziert werden. Um ein Bio-Siegel zu erhalten darf Fisch, anders als in den USA, nicht aus der Tonne, sondern muss aus dem Teich stammen. Gemüse darf nicht auf Nährstofflösungen, sondern muss auf Boden kultiviert werden. »Es gibt derzeit zwar seitens des Naturland Verbands eine große Initiative, ob Biokriterien für Aquaponik nicht vielleicht doch sinnvoll wären«, sagt Kuhlemann. »Aber wir brauchen nicht zwingend eine Biozertifizierung. Und das ist ohnehin eine EU-Frage, weshalb ich mich keinen Illusionen hingebe, dass sich da übermorgen etwas ändert.« Erste Biosupermärkte reagieren darauf erst einmal kreativ – und haben der Stadtfarm temporäre Pop-up-Fläche angeboten, »um uns zu unterstützen«.

 

Wer der Berliner Stadtfarm selbst einen Besuch abstatten möchte, kann das bei den regelmäßig stattfindenden Führungen oder im Rahmen der Markttage tun. Weiterführende Infos hier.  

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