„Was ist nachhaltiger, als das Richtige zu tun?“ – Helge Timmerberg im Interview

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Helge Timmerberg © Christian Mayr Hofer, 2015

Helge Timmerberg, Pionier des deutschsprachigen New Journalism und Autor, hat schon die ganze Welt bereist und jetzt in Wien eine Schreibstube eingerichtet. Auf der BIORAMA Fair Fair 2015 wird er sein neues Projekt – die literarischen „Wiener Flaschengeister“ – präsentieren. Wir haben mit ihm vorab über seine Geisterpoesie, Wien und das Thema Nachhaltigkeit gesprochen. 

Sie werden Ihr neues Projekt „Wiener Flaschengeister“ auf der BIORAMA Fair Fair präsentieren. Um was genau geht es bei den Flaschengeistern? Was ist das Konzept?

Erstens ist es ein großer Spaß, denn die Geister sind sehr lustig. Zweitens ist es der Versuch, Geschichten auf Beipackzetteln zu erzählen. Jeder Flaschengeist ist ein Märchen. Und drittens geht es um die Liebe zu dieser Stadt. Es sind Wiener Flaschengeister.

Was lieben Sie an Wien?

Ich liebe Wien wegen den Wienerinnen, wegen der Sommerabende am Donaukanal, wegen der unaufgeregten Schönheit der inneren Bezirke außerhalb der Touristen-Attraktionen, wegen dem für deutsche Ohren komplett politisch unkorrektem Wiener Schmäh, wegen den vielen Juden, wegen dieser selbstverständlichen Liebe zu Kunst und Kultur, wegen der „Passt schon“-Mentalität, wegen der Leitungswasser–Qualität, wegen der Scharnigärten, Parks und innerstädtischen Wäldern, wegen dem guten Leben. Und weil Nostradamus prophezeit hat, dass Wien die letzte Stadt sein wird, die beim Weltuntergang noch steht.

Wie sind Sie auf die Flaschengeister gekommen? Hat Sie ein bestimmtes Reiseziel dazu inspiriert?

Es war ein Zufall, eine spontane Idee. In der Sonnenfelsgasse 3a, im 1. Bezirk, hat sich eine Künstler-Community etabliert. Galerien, Ateliers, auch mir hat man dort eine Schreibstube zur Verfügung gestellt, die ich nutzen kann, wenn ich in der Stadt bin. Das Haus ist fast 1.000 Jahre alt. Es brannte zwar im Laufe seiner Geschichte einige Male ab und wurde wieder neu aufgebaut, zum letzten Mal im 17. Jahrhundert, aber die Grundmauern stammen noch aus dem 11. Jahrhundert. Mich wundert es deshalb nicht, dass mir hier die Flaschengeister einfielen. Sie kamen einfach und nötigten mich, sie aufzuschreiben.

Welcher ist Ihr persönlicher Lieblingsflaschengeist?

Deeps, der Geist gegen unnötiges Bremsen im Straßenverkehr, Geschlechtsverkehr und Geschäftsverkehr.

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Die Flaschengeister © Markus Morianz

Welche Zielgruppe möchten Sie mit Ihrem neuesten Projekt ansprechen? Wie sieht ein typischer Flaschengeist-Besitzer aus?

In dem Haus in der Sonnenfelsgasse haben wir einen kleinen Laden, in dem wir die Flaschengeister schon seit einiger Zeit verkaufen. Unsere Kunden sind die Kreativen aller Branchen, aber auch Mütter, deren Kinder Angst vor einem bösen Geist in ihrer Toilette hatten und deshalb Sumsini Mef brauchten – unseren Geist gegen den bösen Geist. Und der hat den Job gemacht. Nur einen Tag später hatte das siebenjährige Mädchen keine Angst mehr, auf die Toilette zu gehen. Das funktioniert natürlich nur bei Kindern. Die von uns anvisierten Flaschengeist-Käufer sind keine Spiritisten, sondern Leute, die gute Idee lieben. Ich würde mal sagen, 80 Prozent unserer bisherigen Kunden sahen in den Flaschengeistern eine super Geschenkidee. Statt Blumen oder Pralinen oder was man sonst noch so für rund 20 Euro verschenken kann. Auch für Touristen sind die Wiener Flaschengeister ein überzeugendes Souvenir.

Was können sich Besucher auf der BIORAMA Fair Fair von Ihnen erwarten?

Ich werde Beipackzettel verlesen und ein bisschen über die Geister erzählen.

Sie sind Ihr Leben lang gereist und haben dabei weite Strecken zurück gelegt. Achten Sie dabei auch auf Faktoren wie Nachhaltigkeit? Vermeiden Sie zum Beispiel zu fliegen?

Meine erste große Reise machte ich mit 17 durchs Land nach Indien. Damals hat zwar noch niemand groß an Nachhaltigkeit beim Fliegen gedacht, aber die Flüge waren einfach noch zu teuer. Mittlerweile sind sie billig, aber nun hasse ich fliegen. Aus anderen Gründen zwar als die des Umweltschutzes, aber unterm Strich kommt Nachhaltigkeit dabei heraus. Lassen Sie es mich so formulieren: Wenn ich reise, möchte ich einen nachhaltigen Eindruck von dem Land und den Leuten haben. Das ist mein Job. Auch die Flaschengeister gehören dazu. Sie sind sehr nachhaltig in ihrer Weisheit.

Inwiefern sind die Geister nachhaltig?

Bewusst eingesetzt bewahren uns die Flaschengeister nicht nur vor kleinen, sondern auch vor großen Fehlern. Und was ist nachhaltiger, als das Richtige zu tun?

Mit Ihren letzten Buchprojekten haben Sie sich immer mehr von Printmedien und einzelnen Reiseberichten darin abgewendet. Wo denken Sie, wird sich der Reisejournalismus hin entwickeln? Wie stellen Sie sich ihn in 10 Jahren vor?

Im Internet. Online–Reisemagazine, Blogs. Die technische Revolution, die wir seit einigen Jahren erleben, ist, was die Medien angeht, vergleichbar mit der Erfindung des Buchdrucks oder der Erfindung des Papiers. Es wird schon weiter gehen. Aber dass ich nur noch wenig Reisejournalismus mache, hat mit den Problemen, die uns die neuen Medien machen, nicht so viel zu tun. Eher schon wieder mit Nachhaltigkeit. Bücher leben länger als Reportagen.

Vielen Dank, wir freuen uns schon auf die Lesung auf der BIORAMA Fair Fair 2015!

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