Süßer die Flocken

Flocken, Früchte, ein paar Nüsse, mehr brauchte ein Müsli früher nicht. Dann brachten Porridge, Crunchy und süße Riegel Wachstum, Vielfalt und Individualität. Über ein Lifestyle- und vielleicht das typische Bioprodukt.

Müslis wurden im Lauf der Jahre immer süßer: Der Zagler Müslibär süßt seine Honigmüslis ausschließlich mit Biohonig. Bild: Zagler.

Die Geschichte des Müslis beginnt mit einem Gesundheitsversprechen. Bereits um 1900 empfahl der Schweizer Arzt Maximilian Bircher-Benner seinen PatientInnen einen Haferbrei mit Äpfeln und Nüssen als ideale Diätspeise. Er hatte sich bereits früh mit bekömmlicher Ernährung befasst und gilt bis heute als Pionier der Vollwerternährung. Das typische »Bircher-Müsli« löffeln viele noch heute für einen ausgewogenen Start in den Tag. »Das Originalrezept besteht aus sehr wenigen Zutaten: Haferflocken, Kondensmilch, Zitronensaft, geriebener Apfel und Nüsse«, weiß die Ernährungswissenschafterin Katharina Bruner vom Verband der Ernährungswissenschafter Österreichs. Dass Bircher-Benners Erfindung anfangs als leichtes, schonendes Abendessen gedacht war, geriet irgendwann in Vergessenheit. An den gesundheitlichen Vorzügen ändert es aber ohnehin nichts, wann im Tagesverlauf ein Müsli gegessen wird. Der wichtigste Bestandteil – Getreideflocken – ist immer Vollkorn, weil für die Flocken ganze Körner gedämpft, gepresst und getrocknet werden. Das durchschnittliche Müsli enthält deshalb reichlich Vitamine, Mineral- und Ballaststoffe. Eine Obergrenze, wie viel Müsli gesund ist, gibt es nicht. »Eine Portion täglich mit einem Milchprodukt oder einer Milchalternative und ergänzt mit frischem Obst, Nüssen oder Saaten. Perfekt!«, schwärmt die in der Erwachsenenbildung tätige Ernährungswissenschafterin Andrea Fičala. Bei Fertigmischungen sollte aber die Nährwerttabelle geprüft werden. Denn mittlerweile kommen selbst eher klassische Fertigmüslis kaum ohne Zuckerzusatz aus.

Ein klassisches Müsli mit Getreideflocken, Milch, Früchten und Nüssen bzw. Kernen. Bild: Bohlsenmühle.

Besonders Gesundheitsbewusste kaufen ihre bevorzugten Müslibestandteile deshalb auch heute noch einzeln und mischen sie je nach Gusto. »Die Zielgruppe derer, die ihre Rohzutaten selbst mischen, wächst wieder«, berichtet Saskia Lackner von der Bohlsener Mühle. Über alle Moden hinweg hat das Ökopionierunternehmen sein Sortiment an »Monoflocken« nicht nur am Markt behalten, sondern zuletzt sogar ausgebaut. Hafer verarbeitet man in Bohlsen beispielsweise zu Groß-, Klein- und Zartblattflocken. Seit einiger Zeit gibt es auch Quinoaflocken, regionale Quinoaflocken. Für Letztere motivierte das norddeutsche Mühlenunternehmen vor ein paar Jahren experimentierfreudige Bioland-Betriebe, es auf ihren Feldern einmal mit Quinoa zu versuchen.

Max(imilian) Bircher-Benner
(1867-1939) engagierte sich als Arzt in der Ernährungsreform, prägte den Begriff Vollwertkost und entwickelte in der Schweiz das »Bircher-Müsli«. Ziemlich zeitgleich erfand in den USA der Mediziner John Harvey Kellogg (1852–1943) Cornflakes (und übrigens auch die Erdnussbutter).

Der Ursprung aller Ökoklischees

»Müsli ist ein Sinnbild für einen ökologischen und gesundheitsbewussten Lebensstil, hat etwas Puristisches und ist dennoch mit Genuss und Selbstfürsorge verbunden.«
– Marlies Gruber, Forum Ernährung Heute
Bild: Veronika Philipp.

Müslis gab es nie ausschließlich in Bioqualität. Was allein schon daran liegt, dass es zu Bircher-Benners Zeiten keine Biozertifizierung gab. Und mittlerweile führen auch konventionelle Diskonter Müslimischungen. Dennoch wird Müsli auch heute noch untrennbar mit der Biobewegung assoziiert. Für viele ist Müsli sogar das typische Bioprodukt. Das hat vor allem einen Grund: Im Vergleich zu anderen Rohstoffen war Getreide recht früh in Bioqualität verfügbar. Produkte, die aus purem Korn hergestellt werden können, schafften in der Biobranche deshalb früh Wertschöpfung durch Veredelung und Kreativität. Das galt einerseits für Brot – und andererseits für Müsli. Lange bevor es Bio auch in Supermärkten gab, hatte jeder kleine Bioladen deshalb seine eigene charakteristische Hausmischung. Weil Brot aber in jedem Haushalt gegessen wurde, zu Müslimischungen aber auffällig oft die alternativ anmutenden Ökos griffen, taugte das Müsli eher zum Differenzierungsmerkmal als etwa Vollkornbrot. Das Müsli geriet so zum Symbol für ein alternatives Lebensmittel und für manche auch für ein anderes Wirtschaftskonzept.

Das Müsliklischee der lustfeindlichen Selbstkasteiung »körnerfressender« Ökos war allerdings spätestens dann überholt, als in den 80er-Jahren gehäuft Müsliriegel angeboten wurden. Die Idee für die Riegel stammte – wie anfangs auch die aufwändig herzustellende Ware selbst – aus Kanada. Erst im Laufe der Jahre gelangte auch das Know-how nach Europa. Gedacht als praktischer Snack für unterwegs fungierte der Zuckersirup im Müsliriegel vor allem als Kleber, um die restlichen Zutaten in Form zu bringen. Bald wurde der Zuckerkick mit Ballaststofffüllung (und manchmal auch Schokohülle) aber zum Selbstzweck. Das Gesundheitsversprechen des Ausgangsprodukts war gebrochen. »Jede Rezeptur ist einzeln zu bewerten«, relativiert zwar Ernährungswissenschafterin Bruner. Doch: »Viele der Riegel, wie wir sie kaufen können, sind teilweise richtige Kalorienfallen mit wenig Nährstoffen. Sie enthalten viel Zucker oder Fett und sind daher auch eher den Süßigkeiten zuzurechnen als einer gesunden Zwischenmahlzeit.«

Das Know-how zur Herstellung von Müsliriegeln kam ursprünglich aus Kanada. Mittlerweile sind sie auch in Mitteleuropa beliebte Snacks und Energiespender. Bild: Riegelfabrik.

Anders als früher ist ein Müsli auch längst nicht mehr automatisch gesund; und bei den Zutaten alles möglich. Marlies Gruber vom »Forum Ernährung Heute« sieht »einen hohen Grad an Diversifikation, wodurch das Angebot breiter wird«. Das wäre prinzipiell eindeutig zu begrüßen, »denn Vielfalt fördert Abwechslung, kann individuelle Vorlieben bedienen und ermöglicht, neue Zielgruppen anzusprechen«, betont die Geschäftsführerin des Forums, das von Lebensmittelherstellern gegründet wurde und sich als » österreichisches Kompetenzzentrum für Ernährung, Gesundheit und Lebensstil« versteht. Viele Mischungen sind deshalb stark gezuckert, Schokonibs enthalten vielfach Zucker, Kokosraspeln naturgemäß Fett. Dem gegenüber steht Müsli als angereichertes Functional Food für LeistungssportlerInnen und der vor der Yogasession instagramgerecht zum Quellen eingeweichten Flockenmischung für die inszenierte Achtsamkeit. Das Müsli-Spektrum ist bunt und breit. Oder, wie Marlies Gruber sagt: »Müsli ist ein Sinnbild für einen ökologischen und gesundheitsbewussten Lebensstil, hat etwas Puristisches und ist dennoch mit Genuss und Selbstfürsorge verbunden.«

Zwei Trends sind in den Müsliregalen zuletzt zu großen, auch wirtschaftlich bedeutenden Produktsegmenten geworden: Crunchy beziehungsweise Knuspermüsli auf der einen Seite. Und Porridge auf der anderen.

Nährwert von A bis E
Seit November 2020 gibt es in Deutschland den »Nutri Score«, eine visuell leicht fassbare Lebensmittelampel zur freiwilligen Kennzeichnung des Nährwerts von Lebensmitteln.
 
A ist zu bevorzugen, E zu vermeiden. Obst, Nüsse und Ballaststoffe verbessern den algorithmisch ermittelten »Nutri Score«, Zucker und Fettbeigaben verschlechtern ihn. In Österreich fordert u. a. die NGO Food Watch die Einführung dieses Systems.

Porridge – der Schleim, der entspannt

Porridge wurde früher auch einfach warmer Haferbrei oder Haferschleim genannt. Auswärts am Frühstücksbuffet taucht er manchmal auch unter der Bezeichnung »Oat Meal« auf; oder als »Overnight Oats«, über Nacht eingeweichte und in der Früh gekochte Haferflocken oder Hafermehl. Porridge gilt als besonders bekömmlich. Das liegt an den besonderen Ballaststoffen des Hafers (aber auch der Gerste) – den Beta-Glucanen –, die beim Erhitzen schleimig werden und sich besonders gut verdauen lassen. »Viele kennen das noch aus ihrer Kindheit, als sie bei Magen-Darm-Problemen eine Hafer- oder Gerstenschleimsuppe bekommen haben«, erklärt Andrea Fičala. »Porridge ist auch für empfindliche Mägen gut geeignet. Die Beta-Glucane helfen außerdem, den Cholesterinspiegel im Blut normal zu halten, und lassen den Blutzucker nur langsam ansteigen.« Ob Porridge warm oder abgekühlt gegessen wird, ändert nichts an seiner Wirkung. Er beruhigt den Magen. Der entstandene Schleim bildet eine Schutzschicht für die Magenschleimhaut vor reizenden Stoffen wie Säuren, Koffein und Nikotin oder scharfen Gewürzen. Das besondere Wohlbefinden, das viele beim Essen von warmem Porridge empfinden, rührt aber vermutlich nicht allein von der Temperatur her, sondern ergibt sich auch durch die dafür erforderliche Zeit. Stichwort: Selfcare. »Ein warmes Frühstück ist schon einmal eine gute Selbstversorgung, bevor der Alltagsstress losgeht«, sagt Fičala. Dass das hilft, den körpereigenen Akku aufzuladen, werde niemand anzweifeln. Wie hoch die messbare Energiedichte ist, hängt allerdings von den Zutaten ab: von Früchten, Nüssen, Zucker – und ob die Haferflocken mit Wasser, Milch oder Obers (Sahne) aufgekocht werden.

Crunchy – knusprige Flockenbällchen

»In meiner Beobachtung spielen Müslis und Porridge vor allem bei vegan, vegetarisch oder bewusst flexitarisch lebenden Menschen eine Rolle.«
-Katharina Bruner, VEÖ
Bild: Wilke.

Der Boom an sogenannten Crunchy-Müslis steht definitiv im Widerspruch zum Gesundheitsversprechen, für das Müsli einmal stand. »Crunchy« ist zwar eigentlich englisch für knusprig, bedeutet in der Praxis aber gebacken. »Damit das Müsli den extra Biss bekommt, braucht es neben Getreideflocken Fett und Zucker. Gemeinsam geschmolzen und gebacken, ballen sich die Flocken zu den crispy Stückchen zusammen«, erklärt Ernährungswissenschafterin Katharina Bruner. »Wir legen großen Wert auf schöne Krunchy-Cluster, wie wir die zusammengebackenen, knusprigen Bällchen nennen«, sagt Andreas Bentlage, Produktmanager beim Naturproduktehersteller Barnhouse. »Mit schönen Clustern ist so ein Crunchy gleich viel appetitlicher und verlockender – das Auge isst ja mit!« Wichtig sei neben dem Anblick aber auch der Biss. Weder zu fest noch zu weich und »kauig« dürfen die Bällchen sein.

Dass sich Crunchy-Müslis großer Beliebtheit erfreuen, zeigt allein schon die Riesenauswahl in Bioläden oder im Supermarkt. Laut »Lebensmittelzeitung« betrug der Anteil von Knuspermüslis in Deutschland 2018 sogar 38 Prozent. Wobei Knuspermüsli alles, was irgendwie knuspert, umfasst; also weit über Crunchy-Müslis hinausgeht. Das Marktforschungsunternehmen Biovista kommt im Juli 2021 im deutschen Biofachhandel auf einen Crunchy-Anteil von 16 Prozent in der Kategorie »Frühstückscerealien«, die aber alles von Flocken über Toppings bis Porridge umfasst.

Marlies Gruber vom Forum Ernährung Heute betont, dass durch das Rösten zwar mehr Fett verwendet werde als in reinen Flockenmischungen, »ob das der Gesundheit weniger zuträglich ist, hängt aber mit der Portionsgröße, individuellen Essmustern und dem persönlichen Bewegungspensum zusammen«. Die ernährungsphysiologischen Vorteile von Haferflocken gingen durch das Rösten jedenfalls nicht verloren.

Was durch die starke Nachfrage nach crunchy gebackenen Flocken zumindest etwas zurückging, ist das Angebot an Müsliriegeln. Einige traditionelle Müslihersteller haben sich deshalb ganz aus dem Riegelsegment verabschiedet und sich auf die mit weniger Aufwand herzustellenden Knuspermüslis konzentriert. »Unsere Krunchy-Riegel waren ein großer Erfolg und sehr beliebt, aber sehr aufwändig in der Herstellung«, erinnert sich Andreas Bentlage von Barnhouse. »Nachdem unsere Produktionsanlagen durch die steigende Krunchy-Nachfrage immer stärker an ihre Kapazitätsgrenzen stießen, mussten wir unsere fünf Riegel schweren Herzens sukzessive aus dem Sortiment nehmen.« Immer sei aber klar gewesen, dass sie nur vorübergehend verschwinden sollten. Im Moment ist man in Mühldorf am Inn dabei, eine eigene Riegel-Backstraße fertigzustellen.

Vom Müsli zum Riegel: »Bis er die Produktion verlässt, haben wir jeden Müsliriegel vier bis fünf Mal in unseren Händen«, sagt Tina Dobetsberger von der True-Love-Riegelfabrik. Bild: Riegelfabrik.

Unzufrieden mit dem bestehenden Angebot an Riegeln war Tina Dobetsberger, Geschäftsführerin des Unternehmens Riegelfabrik. Alles, was die Mutter im Supermarkt an handelsüblichen Müsliriegeln fand, erschien ihr zu ungesund und aus zu vielen Zutaten unklarer Herkunft zu bestehen, als dass sie es ihren Kindern als Schuljause hätte mitgeben wollen. Das Angebot war groß. Doch: »Immer wieder standen wir vor den Produkten mit erhöhtem Zuckeranteil, Palmöl und Geschmacksverstärkern und mussten den Kids erklären, dass die nicht gesund sind.« Deshalb stellte sich die Oberösterreicherin in die Küche, um selbst gesunde Snacks herzustellen. Daraus wurde vor fünf Jahren eine Riegelfabrik, die mittlerweile von Kremsmünster aus Schulbuffets und Kantinen beliefert und Automaten mit ihren »True Love«-Biomüsliriegeln bestückt. Auch der Biogroßhandel gehört bereits zu Dobetsbergers Abnehmern. Der Auftritt in der Fernseh-Start-up-Show »2 Minuten 2 Millionen« brachte zwar nicht das erhoffte Investment. Dafür ist es der Riegelfabrik dadurch gelungen, ihre handwerklichen Müsliriegel zum überwiegenden Teil übers Internet zu vertreiben – an KundInnen, die sich durch Biozutaten und den völligen Verzicht auf Zuckerzusätze und Geschmacksverstärker beides versprechen: Genuss und Gesundheit.

BIORAMA #77

Dieser Artikel ist im BIORAMA #77 erschienen

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