Milch: Weiß und unschuldig, nahrhaft und natürlich?

tausendfuessler

Tausendfüssler/ aus der Serie: Milchflüsse, 2008, ILLUSTRATION Barbara Anna Husar

Kuhglocken und Almrauschen im Einklang mit der Natur. Der Realität der Milchwirtschaft wird diese oft bemühte mediale Repräsentation aus ökologischer und tierethischer Sicht aber nicht gerecht. 

»Ich halte es für eine Illusion zu glauben, dass es eine Milchviehhaltung ohne Tierleid geben kann. Auch ohne menschliches Zutun können Tiere krank werden oder sich verletzen. Die Frage ist, welches Leid ist menschenverschuldet. Dafür müssen wir Verantwortung übernehmen«, sagt Herwig Grimm, Tierethiker am Messerli Forschungsinstitut an der Veterinärmedizinischen Universität in Wien. Ein Blick auf das Leben einer Milchkuh macht deutlich, dass sich im Bereich des menschenverschuldeten Leids einiges zum Besseren wenden ließe. Wenige Tage nach der Geburt werden die Kälber von ihren Müttern getrennt. Muttermilch erhalten sie meist nur in den ersten Tagen, das oft aus Nuckeleimern. Später werden sie mit Milchaustauscher, eine Art Milchersatz, gefüttert. Diese mutterlose Aufzucht der Kälber führt häufig zu Verhaltensstörungen. Bis zum Alter von zwei Wochen ist das Ausbrennen der Hornanalagen ohne Betäubung erlaubt. Die Enthornung spart Platz und reduziert das Verletzungsrisiko für Bauern und die restlichen Rinder. Stierkälber werden in Gruppen gehalten, gemästet und nach wenigen Monaten geschlachtet. Die weiblichen Kälber werden in der Regel zur Milchproduktion herangezogen. Sobald sie um das 18. Lebensmonat die Geschlechtsreife erlangen, werden sie besamt. Nach neunmonatiger Trächtigkeit kommt das Kalb zur Welt. Die Kuh wird dann zur Milchproduktion eingesetzt. Kühe müssen, um Milch geben zu können, Kälber gebären. Sie führen ein Leben in Trächtigkeit, das aber nicht allzu lang. Sie werden kaum älter als sechs Jahre. Viele werden aus gesundheitlichen Gründen geschlachtet. Mit der Milchleistung steigt auch die Anfälligkeit für Erkrankungen an Eutern und Klauen. Ihr Leben verbringen Milchkühe immer noch häufig in Anbindehaltung, Laufställe sind aber im Vormarsch. Die Weidehaltung, wie sie die mediale Repräsentation der Milchwirtschaft dominiert, ist dagegen die Ausnahme.

»Im Framework der Milchwirtschaft gibt die Kuh die Milch nicht für das Kalb, sondern für andere. Dabei richtet sich die landwirtschaftliche Praxis nicht selten am Produktionsparadigma und nicht an den Tieren aus. Dies zeigt sich auch daran, dass Tiere zu Produktionseinheiten werden und als solche behandelt werden«, konstatiert Herwig Grimm.

Effizienz geht vor

Es gilt, mit so wenig Kühen wie möglich so viel Milch wie möglich zu produzieren. Die intensiven Haltungssysteme, die sich aus dieser Prämisse ableiten, sind aus tierethischer Perspektive kritikwürdig. Für sie spricht die hohe Jahresmilchleistung. In Österreich liegt sie bei 6.500, in Deutschland bei 7.400 Kilogramm je Kuh – Spitzenleistungen liegen gar bei 14.000 Kilogramm. Da Kühe unabhängig von der Milchabgabe Futter zu sich nehmen und dieses auch wieder verdauen und damit Emissionen, allen voran das klimaschädliche Methan produzieren, hat eine hohe Milchleistung zwei positive Effekte. Aus betriebswirtschaftlicher Sicht verbessert sich das Verhältnis von Futter- zu Milchmenge und aus ökologischer jenes von Emissions- zu Milchmenge. Um solch hohe Milchmengen zu produzieren, müssen große Mengen Kraftfutter eingesetzt werden. Die Emissionsbilanz der Milchwirtschaft wächst so noch um jene Mengen, die bei Anbau, Transport und Lagerung dieser Futtermittel anfallen. Trotz Kraftfuttereinsatz kommen in Westeuropa auf einen Liter Milch 1–2 Kilogramm Treibhausgase gemessen in CO2-Äquivalenten. In Subsahara-Afrika, wo die Milchmengen besonders niedrig sind, liegt dieser Wert mehr als dreimal, in den sich entwickelnden Ländern mehr als doppelt so hoch.

Problematisch am Kraftfuttereinsatz ist die Tatsache, dass es sich um Nahrungsmittel handelt, die auch für den menschlichen Verzehr geeignet sind. »Das Tolle an Wiederkäuern ist, dass sie das Nahrungsangebot für den Menschen erweitern, indem sie Unverdauliches in Nahrung umwandeln – im Fall der Milchkuh: Gras zu Milch«, sagt Werner Zollitsch vom Institut für Nutztierwissenschaften der Universität für Bodenkultur in Wien. Bei Kraftfuttereinsatz wird dieser Vorteil deutlich abgeschwächt und es entsteht eine Situation der Nahrungsmittelkonkurrenz. Zollitsch weiter: »Für den österreichischen Durchschnitt wäre eine Leistung von 6.000 Kilogramm sinnvoll. Das ist eine Menge, die man bei gutem Boden ohne zusätzliches Kraftfutter hinkriegen könnte.« Aus betriebswirtschaftlicher Sicht sei diese Menge aber in vielen Fällen nicht ausreichend. Wie eine betriebswirtschaftlich rentable Nutztierhaltung mit einer möglichst guten Ökobilanz und daher einem möglichst geringen Impact für die Natur aussieht, lässt sich nicht allgemein bestimmen. Das ist an die konkreten Umwelt- und Fütterungsbedingungen gekoppelt: »Für Biobetriebe im Salzburger Flachgau haben wir in einem Betriebsmodell eine ideale Milchleistung im Bereich von 7.000 Kilogramm errechnet. Darüber steigen die Emissionen wegen zunehmendem Kraftfuttereinsatz wieder an«, erklärt Zollitsch.

Auf Milch verzichten?

Was aus der Realität der Milchwirtschaft deutlich wird: Milch- und Fleischproduktion sind untrennbar miteinander verbunden. Wer das Essen von Tieren ablehnt, müsste konsequenterweise auch auf Milchprodukte verzichten. Einer der Gründe, warum Kurt Schmidinger, Geophysiker, Lebensmittelwissenschaftler und Leiter der NGO Future Food, sich vegan ernährt: »Es gibt keine ethischen, gesundheitlichen oder umwelt- und ernährungsrelevanten Argumente dagegen. Im Gegenteil, es spricht alles dafür.« Es kommen zwar auch beim Anbau veganer Lebensmittel Tiere zu Schaden, doch das gilt genauso beim Anbau der Futtermittel für die Tiermast oder Milchwirtschaft. Eindeutig belegbar ist auch die bessere Ökobilanz veganer Ernährung. Sie geht mit den geringsten Emissionen und dem geringsten Ressourcenverbrauch einher.

Vegane Produkte sind mittlerweile auch deutlich vielfältiger als Sprühsahne aus der Dose, Margarine oder Analogkäse auf Fertigpizzas. Auch im normalen Verbrauchsalltag gibt es zusehends Alternativen aus Soja, Reis, Mandeln und Getreide. Ökologisch betrachtet ist Soja- der Kuhmilch überlegen. Im Schnitt verursacht die Herstellung von Sojamilch nur einen Bruchteil der Treibhausgasemissionen normaler Milch. Aus der Menge an Getreide oder Soja, die an Kühe verfüttert wird, um einen Liter Milch zu produzieren, lässt sich bereits selbst ein Liter Hafer- oder Sojamilch herstellen. Auch gesundheitlich betrachtet schneidet Soja besser ab. Beide Produkte enthalten in etwa gleich viel, gleich wertvolles Protein. Sojamilch enthält kein Cholesterin, dafür viele ungesättigte Fettsäuren und zeichnet sich durch einen höheren Vitamingehalt aus. Vitamin B12, das nur in tierischen Produkten enthalten ist, wird oft zusätzlich gemeinsam mit Kalzium zugesetzt. »Milch enthält zwar sehr viel Kalzium, vor allem aber die schwefelhältigen Aminosäuren in der Milch wirken im Körper sauer und entziehen ihm Kalzium zur Säureneutralisierung. Milch ist daher effektiv eher ein Kalziumräuber«, erklärt Schmidinger.

Auch auf andere Milchprodukte muss man nicht verzichten. Es gibt Joghurt und Rahm aus Soja, Hafer oder Reis, Topfen aus Sojafrischcreme oder zerdrücktem Tofu. Veganer Käse besteht zumeist aus Mischungen aus Soja- oder Erbsenprotein, Tofu, Kartoffel- oder Reisstärke und unterschiedlichen pflanzlichen Fetten. Mandelmilch, die in den USA bereits Soja überholt hat, ist aufgrund des wasserintensiven Anbaus in Kalifornien, woher vier Fünftel der Weltproduktion stammen, nicht zu empfehlen. Der Wasserverbrauch pro Mandel beträgt ca. vier Liter. Neuer Stern am Milchersatzhimmel ist Hanfsamenmilch – garantiert Laktose- und THC-frei.

Reduktion tierischer Proteine ist unumgänglich

»Es gibt eine gesellschaftliche Verantwortung und die heißt Tierschutz. Die wichtigste Baustelle sind nicht neue Ställe sondern die Köpfe«, sagt Grimm. Die gegenwärtige Debatte sieht er in einem »Zentimeter-Tierschutz« gefangen. Die Verhandlungen über einige wenige Zentimeter mehr oder weniger in Stallungssystemen führe auf allen Seiten zu Frustrationen. Nachhaltige Lösungen könne es nur geben, wenn man die Bäuerinnen und Bauern ins Boot hole und den Handel an seine Verantwortung bei der Gestaltung des Angebots erinnere. Mit der Idee, vollkommen auf Nutztierhaltung zu verzichten, kann er sich, anders als Schmidinger, nicht anfreunden: »Das kommt einer Bankrotterklärung gleich und heißt, dass wir es nicht geschafft haben, vertretbare Haltungssysteme zur Verfügung zu stellen. Das scheint mir eine zu harte Lösung zu sein«, sagt er.

Unstrittig ist aber, dass es eine drastische Reduktion tierischer Proteine in der Ernährung braucht. »Wir essen zumindest doppelt so viel tierisches Protein, wie aus ernährungswissenschaftlicher Sicht sinnvoll wäre. Das betrifft v.a. Fleisch und Milchprodukte«, erklärt Zollitsch. Abgesehen von gesundheitlichen würden sich massive ökologische Effekte einstellen: weniger Treibhausgasemissionen, weniger Flächenverbrauch für den Anbau von Tierfutter und die Nutztierhaltung selber, allgemein geringere Umweltbelastung durch Gülle und Antibiotika-Einsatz, wie sie intensive Tierhaltung mit sich bringt. Das dann niedrigere Niveau würde es auch erlauben, auf die tiergerechtere Weidehaltung zu setzen. Ein Bruch mit gängigen Konsummustern würde auch zu mehr Ressourcengerechtigkeit beitragen. »Die Ungleichheit der Ressourcennutzung kann nur durch Macht aufrechterhalten werden. Mir scheint es sinnvoller, durch Einsicht umzustellen, als durch Krisensituationen sozialer oder ökologischer Natur«, sagt Zollitsch.

Milchfakten

  • Die Milchwirtschaft ist für knapp drei, die gesamte Viehzucht für 18 Prozent aller menschenverursachter Treibhausgas-Emissionen verantwortlich. Davon macht Methan in etwa die Hälfte aus.
  • 85 Prozent der Milchproduktion entfallen auf Kühe. Sie sind die effizientesten Milchlieferanten. Bei Ziegen schlägt der hohe Kraftfuttereinsatz negativ zu Buche, bei Schafen das starke Wollwachstum.
  • Rund ein Viertel der 2012 weltweit produzierten 630 Mio. Tonnen Kuhmilch stammen aus der EU. Es folgen die USA, Indien, China, Russland und Brasilien. In Deutschland wurden ca. 31 Mio., in Österreich 3,4 Mio.Tonnen hergestellt.
  • Die EU-Mitgliedsstaaten produzieren mit ca. 23 Mio. Kühen mehr als doppelt so viel Milch wie Indien – mit fast 44 Mio. Tieren das kuhreichste Land der Welt.
  • Die Michleistung einer Kuh hängt stark von den Gegebenheiten ab. In Afghanistan, Bangladesch, Äthiopien und Nigeria liegt sie bei ca. 500 kg je Kuh und Jahr. Im Iran, Peru und Vietnam bei ca. 2.000. In Österreich liegt sie bei 6.500 und in Deutschland bei 7.400. Den höchsten Ertrag liefern Milchkühe in den USA mit fast 10.000 kg pro Jahr und Tier.
  • Unterschiede zwischen konventioneller und Bio-Produktion sind nicht allzu groß. Haltungsbedingungen und Umweltbilanz der Bio-Betriebe sind tendenziell besser, Anbindehaltung ist nur in Ausnahmefällen erlaubt, Kraftfuttereinsatz erlaubt. Die durchschnittliche Milchjahresleistung liegt um ca. zehn Prozent niedriger. Spitzenleistungen können aber auch bei Bio bis zu 10.000 kg erreichen.
  • Rund ein Viertel der Weltbevölkerung kann Laktose verdauen. In Europa sind etwa ein Achtel aller Erwachsenen laktoseintolerant. In Afrika und Südamerika sind es etwa zwei Drittel der Bevölkerung, in Südostasien sogar 95 Prozent. Bis 2030 wird sich dort der Konsum von Milchprodukten mehr als verdoppeln.

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