Soulfood aus der Steinzeit
Ob direkt vom Hof oder als süße Creme aus dem Glas: Die Haselnuss schmeckt wie ein Gruß aus dem ...
Leise rieseln die Nüsse. Heftig und warm bläst der Wind. Und Christoph Böckl hofft, dass es jetzt im September oder Anfang Oktober nicht noch einmal richtig feucht wird. Nebel und Herbstnässe, wenn die Haselnüsse reif von den Sträuchern fallen, das wäre »furchtbar«, sagt der Biobauer. Dann sind die Nüsse schmutzig, schimmelgefährdet, lassen sich schlecht ernten. Alles schon erlebt, seitdem Böckl 2015 zweieinhalbtausend Haseln gesetzt hat. Neun Hektar, auf seinen besten Äckern, alle fünf Meter eine Pflanze; eingezäunt zum Schutz vor Reh und Feldhase; die Baumreihen weit genug auseinander, sodass er bequem mit dem Traktor hindurchfahren, den Bewuchs kurz halten und rechtzeitig flämmen kann, um schließlich mit der Kehrmaschine die Nüsse einzusammeln. Der warme Wind ist gut. Er trocknet den Tau und entsorgt die Blätter. Das erleichtert auch seinen wichtigsten Mitarbeitern die Arbeit, von denen nur ein paar tiefe Löcher im staubigen Marchfelder Boden und breite Sitzstangen über der Umzäunung zeugen. »Die Füchse darf mir in der Gegend niemand anrühren«, sagt Böckl. Zwei Fuchsbauten gibt es in seiner Plantage. Auch über jeden Greifvogel freut sich der leidenschaftliche Jäger. Alle paar Zaunstangen hat er für sie eine Sitzstange montiert. So können sie bestmöglich nach Feldmäusen (Nussdieben) und Wühlmäusen (Wurzelfressern) Ausschau halten.
2024 hatte er die erste nennenswerte Ernte seiner »Marchfeldnuss«. 800 Kilo Haselnüsse pro Hektar, »in der Schale«, relativiert er, »60 Prozent des Gewichts machen die Schalen aus«. Im Vollertrag sind seine Bäumchen noch lange nicht. »Ich bin ein alter Mann, bis das rennt«, sagt er, »das dauert ewig. Zum Glück habe ich die Haselnüsse ausgesetzt, bevor ich 40 war.« Bestenfalls werden die Bäume irgendwann 2500 Kilo pro Hektar abwerfen. Mittelfristig rechnet er mit 1500 bis 2000 Kilo. Ohne Schale sind das maximal 7200 Kilogramm im Jahresschnitt – vorausgesetzt, Wind und Wetter passen und Fuchs und Mäusebussard halten die Schädlinge in Schach.

Gefragt wie nie
Christoph Böckl hat viel in seine Haselplantage investiert. Auf 90 Prozent der von ihm bewirtschafteten Felder ist er immer noch ein klassischer Ackerbauer, baut Soja, Mais, Getreide an. Freude bereitet ihm aber vor allem die Haselnuss. »Ich würde am liebsten nur Haselnuss machen«, sagt er. Das liege vor allem an der Wertschätzung, die er mit der Nuss erfährt. »Die Haselnuss ist beliebt, du wirst als Bauer dafür geachtet und der Preis passt«, sagt er. »Wenn du Getreide anbaust, wirst du manchmal behandelt wie der letzte Dreck, da wird dir das Gefühl gegeben, dass du froh sein musst, dass dir das überhaupt jemand abnimmt.«
»Deutschland ist mit Importen von über 69.000 Tonnen im Jahr 2023 weltweit einer der größten Abnehmer von Haselnüssen, wobei mehr als zwei Drittel aus der Türkei stammen«
– Bayerische Landesanstalt für Wein- und Gartenbau (LWG), 2024
Das dürfte nicht nur im Marchfeld so sein, zumindest sind Haselnüsse weltweit gefragt wie nie. Ihre Hauptanbauregion ist die Schwarzmeerküste. Allein die Türkei, wo in manchen Jahren bis zu 75 Prozent der weltweiten Produktion passiert, hat ihre Anbaufläche von 440.000 Hektar (im Jahr 2010) auf mehr als 700.000 Hektar (2023) binnen weniger Jahre nahezu verdoppelt. Für 2025 rechnet das türkische Statistikamt – nach Nachtfrösten im April – mit einer schlechten Ernte von 520.000 Tonnen. Womit der Ertrag witterungsbedingt um ein Drittel zurückgegangen wäre. Italien produziert 85.000 Tonnen (2023), ebenso die USA. Für Deutschland und Österreich gibt es keine Ertragszahlen, nur Flächenangaben. In Deutschland werden auf 300 Hektar Haselnüsse kultiviert, in Österreich auf 220 Hektar (wovon 82 % biologisch bewirtschaftet werden). Damit lässt sich da wie dort nur ein Bruchteil des Bedarfs decken. »Deutschland ist mit Importen von über 69.000 Tonnen im Jahr 2023 weltweit einer der größten Abnehmer von Haselnüssen, wobei mehr als zwei Drittel aus der Türkei stammen«, heißt es in der »Kulturanleitung für den ökologischen Haselnussanbau in Deutschland«, einem 2024 erschienenen Leitfaden der Bayerischen Landesanstalt für Wein- und Gartenbau (LWG). Eine flächendeckende Selbstversorgung in Mitteleuropa anzustreben, wäre utopisch. Doch während Haselnussanbau früher vor allem der bäuerlichen Selbstversorgung diente und zwischenzeitlich weitgehend verschwunden war, erlebte der Haselnussanbau zuletzt eine Renaissance, insbesondere in den klimatisch günstigen Regionen Süddeutschlands und Österreichs. »Vor allem in den südlichen (deutschen, Anm.) Bundesländern wie Baden-Württemberg und Bayern entwickelte sich der Haselnussanbau in einzelnen kleinen Betrieben zu einem bedeutenden landwirtschaftlichen Erwerbszweig«, so der LWG-Leitfaden. In die Kulturanleitung flossen auch Ergebnisse eines 2017 abgeschlossenen elfjährigen Haselnussforschungsprojekts ein, das vom Bayerischen Ministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten gefördert worden war.

Feldversuch und Irrtum
Haben sie genügend Licht (das Birkengewächs gilt als besonders lichthungrig), dann wachsen wilde Haseln fast überall. Ertragreich kultivieren lassen sich Haselnussstauden aber nicht überall. Entscheidend ist es, die richtige Sorte für die Region zu finden. Weltweit stehen beinahe 500 Sorten zur Verfügung. Auch bedarf der Anbau der Haselnuss eines langen Atems und Experimentierfreude – weshalb einige erfolglose Bäuerinnen und Bauern ihre Plantagen auch wieder gerodet haben. Bereits 2005 setzte Helga Kindsmüller im bayerischen Obersüßbach erste Haseln aus. Die Pflanzen dafür – teils unbekannter Sorte – importierte sie damals aus Frankreich. »Mittlerweile wachsen auf 3,6 Hektar Haselnüsse mehrerer Sorten und 2024 haben wir erstmals richtig geerntet«, sagt die Naturland-Bäuerin. Mit 2,3 Tonnen Nüssen in der Schale von 1,8 Hektar ist sie zufrieden (»Der Rest der Flächen ist noch nicht im Ertrag.«). Herausfordernd bleibe das Kultivieren der Haselnuss aber – trotz des andauernden Austauschs mit den ObstbauexpertInnen der Universität Weihenstephan. Viele Erfahrungen aus anderen Weltgegenden ließen sich nicht eins zu eins auf ihre Heimat umlegen, sagt sie: »Gerade beschäftigt uns, dass die nordeuropäischen Sorten so spät in die Reife kommen, dass wir sie bei schlechtem Herbstwetter nicht ernten können.« Nicht geklappt habe auch die Direktvermarktung, so Kindsmüller: »Ich habe das versucht. Die Resonanz war gleich null.« Über die Erzeugerorganisation Haselnuss wurde sie ihre Ernte trotzdem problemlos los. Die Nüsse seien sortiert, geknackt und geröstet in den Filialen großer Handelsketten gelandet, mehr weiß sie nicht. »Mittlerweile gibt es auch Anfragen von Leuten, die direkt kaufen wollen«, sagt sie, »aber ich kann nicht ein Jahr so machen und das andere so«.
Gelingt die Direktvermarktung, dann passt – wie bei Christoph Böckls »Marchfeldnuss« – nicht nur die Wertschätzung, sondern auch die Wertschöpfung. Der Biobauer, aus dessen Plantagen im Verkehrsdunst die Wiener Skyline zu sehen ist, verkauft seine Nüsse ausschließlich direkt: geknackt und geröstet als Öl oder – nicht biozertifiziert – als Rum. Er wolle nicht von Großen abhängig sein, sagt der Biobauer: »Ich habe keinerlei Werbung gemacht, weil ich anfangs eh zu wenig Ware hatte. Aber ich verkaufe den allergrößten Teil privat an die Durchschnittshausfrau, die zwei- bis dreimal vor Weihnachten backt.« In der warmen Jahreszeit bezieht ein Eisgeschäft aus der Gegend jede Woche ein paar Kilo Nüsse. Die Nachfrage, sagt Böckl, sei größer als seine Ernte.
Auch die Entwicklung hin zu stärker pflanzenbasierter Kost macht die Haselnuss immer gefragter. »VegetarierInnen sowie VeganerInnen sind immer mehr daran interessiert, ihren Eiweißbedarf nicht nur über Soja zu decken, sondern eben auch Nüsse dafür herzunehmen«, weiß Carola Nitsch vom Amt für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten in Fürth, die von 2006 bis 2017 das bayerische Haselnussprojekt begleitete.

Signature-Produkt der Biobranche
Der allergrößte Teil der globalen Haselnussernte wird freilich am Weltmarkt gehandelt. Kontrollierter Bioanbau mit strengen Auflagen bei Spritzmitteln, Gifteinsatz und Düngung ist bei den Großabnehmern bislang kein Thema. Allein der italienische Konzern Ferrero kauft für seine Markenprodukte (Nutella, Rocher, Duplo) bis zu 100.000 Tonnen Haselnüsse im Jahr. In manchen Jahren ist das bis zu ein Viertel der globalen Ernte. Genaue Zahlen zum Bioanteil der weltweiten Haselnussproduktion gibt es keine. Er wächst zwar, dürfte aber überschaubar sein. Zum Vergleich: Der deutsche Biopionier Rapunzel verarbeitet mittlerweile »je nach Jahr um die 1200 Tonnen Kerne, also nicht in der Schale«, sagt Barbara Altmann, die bei dem Unternehmen für Sustainable Supply Chain Management zuständig ist. »60 Prozent dieser Nüsse kommen aus unserem Haselnussprojekt in der Türkei, der Rest aus Aserbaidschan und Italien.« Verarbeitet werden die Nüsse zwar in einer Vielzahl von Produkten. Das wichtigste davon ist allerdings die – untrennbar mit der Firmengeschichte und der Entwicklung der Biobewegung verbundene – Schoko-Nuss-Creme »Samba«. Damit schrieb Rapunzel ab 1990 Biogeschichte. Die damals noch überschaubare und kulinarisch eher karg und basic orientierte Biobranche kümmerte sich bis dahin vor allem um die Produktion von Grundnahrungsmitteln. Die Entwicklung eines zuckersüßen, aber ökologisch vertretbaren »Nutella-Ersatzes« in Bioqualität teilt die Geschichte der Biobranche in eine Zeit vor und eine Zeit nach »Samba«. Das Produkt symbolisiert die Abkehr der Ökobewegung von der Askese. Bio und Genuss, ja, sogar Hedonismus sind seither keine Widersprüche mehr.
Mittlerweile gibt es die Kultcreme in mehreren Ausführungen und Verarbeitungen (von einer veganen Cremeversion in Dark oder Kokos bis zu Dinkelwaffeln, Schokokugeln bis zum Schnittensnack). Mit einer bereits 2009 entwickelten Weiterentwicklung – der veganen Creme »Bionella« – verdrängte Rapunzel Ende 2024 im 50. Jahr seiner Firmengeschichte sogar Nutella aus den Bordbistros und Restaurants der Deutschen Bahn. Das wichtigste Haselnuss- und Signature-Produkt von Rapunzel bleibt trotzdem die klassische »Samba«-Creme. »Mit 45 Prozent Haselnuss-Anteil hat keine andere Schoko-Nuss-Creme am Markt einen höheren Haselnussanteil«, sagt Barbara Altmann, »da haut der Haselnusspreis gnadenlos rein«. Zum Vergleich: Bei Nutella (dessen Rezeptur in unterschiedlichen Weltgegenden variiert) beträgt er 13 Prozent. In Deutschland machen den größten Teil der Inhaltsstoffe Zucker und Fett (in Form von konventionellem Palmöl) aus.
Auch in der Ende 2022 eröffneten »Rapunzel Welt« am Firmenstandort in Legau im Allgäu wird »Samba« entsprechend Raum gegeben. Eine der Attraktionen der Erlebniswelt: eine neun Meter lange Kugelbahn als interaktive Wandinstallation. Eine ganze Wand entlang lässt sich damit der Weg von Haselnüssen (Kugeln) vom Bioanbau an der türkischen Schwarzmeerküste bis ins Samba-Glas steuern und handfest nachvollziehen. Die Reise reicht von der händischen Haselnussernte am Strauch über die Trocknung und Sortierung, den Transport zur Knackanlage und den Transport nach Deutschland, wo im Labor die Qualitätskontrolle passiert, die Kerne geröstet, mit anderen Zutaten gemischt und gemahlen werden, bis zum Abfüllen, Verschließen und Etikettieren der Gläser. Auch den Außenbereich der Erlebniswelt prägt eine riesige Haselnuss aus Holz – als Klettergerüst und Teil der Rutsche am Spielplatz.

Weit genug zurückgedacht, lässt sich die ikonische Riesenhaselnuss sogar als Würdigung ihrer Verdienste um die Besiedelung Europas verstehen. Denn der etwa fünf Meter hohe Haselstrauch war »eines der ersten Gehölze, die dem Menschen nach den letzten Eiszeiten in Europa reichlich länger haltbare Nahrung bot«, schreibt der Schweizer Landschaftsplaner und Stadtökologe Jonas Frei in seinem Haselnussbuch. Und »eine der wenigen Obstarten, die seit den Eiszeiten von sich aus in Europa heimisch wurde und heute noch kultiviert wird.« Denn die Pflanzen, auf denen Apfel, Marille/Aprikose, Weintraube, Walnuss oder Pflaume und Zwetschge wachsen, wurden alle aktiv vom Menschen eingeführt und verbreitet, die Walnuss sogar erst im Römischen Reich. Menschheitsgeschichtlich spricht man sogar von einer Hasel-Zeit. Von 8500 bis 7000 vor Christus prägte die Hasel als Pionierpflanze die nacheiszeitliche europäische Landschaft. Der Großstrauch (botanisch ein Birkengewächs) bildete flächendeckend Gebüsche und niedrige Wälder. Die vermutlich in Hülle und Fülle verfügbaren Nüsse – eine fettreiche und gut lagerbare Winternahrung – waren eine wichtige Energiequelle für die mitteleuropäischen Clans des frühen mittelsteinzeitlichen Homo sapiens. Die Archäologin Daniela Holst prägte in ihren Arbeiten über die Funde am Duvenseer Moor (bei Hamburg) gar den Begriff der »Haselnussökonomie« als Basis der frühen Besiedelung Nordeuropas. Auch in südschwedischen Fundstellen aus dieser Zeit sind zahllose Haselnusschalenreste erhalten. AgrarhistorikerInnen vermuten sogar, dass die Hasel eine der ersten landwirtschaftlich genutzten Pflanzen gewesen sein könnte. Vor der schleichenden Sesshaftwerdung des Menschen und der Rückkehr der großen dominanten Schattenbaumarten in den Jahrtausenden nach der Eiszeit waren Haselnüsse jedenfalls ein wichtiges Sammelgut der JägerInnen und SammlerInnen.
Gesammelt – beziehungsweise gestohlen – werden Nüsse auch heute noch. Christoph Böckl hat seine »Marchfeldnuss«-Plantagen deshalb seit einigen Jahren nicht nur eingezäunt, sondern auch abgesperrt und videoüberwacht. »Ich hätte es nicht für möglich gehalten, aber mir wurden immer wieder im großen Stil Nüsse gestohlen. Einmal waren über Nacht plötzlich zwei ganze Baumreihen völlig abgeerntet«, sagt der Biobauer. Besonders bitter, nachdem ein nennenswerter Ertrag der süßen Nüsse jahrelang auf sich warten hatte lassen. Seither hat Christoph Böckl seine Stauden von seinem Hof aus rund um die Uhr im Blick.

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