Free From … Genuss und Freude

Illustration: Katharina Hüttler/agentazur.com

Illustration: Katharina Hüttler/agentazur.com

Was soll drinnen sein, was gehört nicht in meine Lebensmittel? Konsumenten sind zunehmend verunsichert und tendieren oft zum Verzicht – leider auch auf den Genuss!

Ich kann mich noch gut erinnern, als die meisten Lebensmittel mit den gewissen Extras geworben haben. Die Extraportion Milch oder auch wichtige Vitamine. Man hat ausgelobt, was drinnen war. Wann genau sich das gedreht hat, weiß ich nicht mehr, aber in meiner Wahrnehmung loben Verpackungen mittlerweile eher das aus, was nicht mehr enthalten ist. Als Qualitätsmerkmale gelten nun »ohne künstliche Aromen«, »frei von Geschmacksverstärkern« oder »zuckerfrei«. Nachdem man Sonnenblumenöl schon als »ohne Cholesterin« und Käse als »laktosefrei« anpreist, erwarte ich bald das erste Mineralwasser, das mit großen Lettern »alkoholfrei« am Etikett verspricht.

Natürlich hat das in vielen Fällen Unverträglichkeiten als Hintergrund. Umwelteinflüsse, einseitige Ernährung oder chemische Zusätze führten vermehrt zu Krankheiten und Allergien. Für diese Zielgruppe werden nun Lebensmittel entwickelt, die frei von Gluten, Laktose, Fruktose oder Ähnlichem sind.

Diagnose: Orthorexie

Nahrungsmittelmessen wie die Grüne Woche in Berlin wurden um Teilausstellungen erweitert, die das Angebot für Vegetarier/Veganer oder Allergiker abdecken. Auf der Biofach in Nürnberg gilt das Free-From-Segment, das dort als »unbeschwerter Genuss für sensible Esser« beschrieben wird, als Trendkategorie. Die Zielgruppe der hyperkritischen und hochsensiblen Esser wird auch für die Lebensmittelindustrie immer interessanter und zählt neben Biolebensmitteln zu den Segmenten mit dem größten Wachstum.

Gut, die fleischfreie Diät und die vegane Lebensform wollen Konsumenten ethisch begründen. Etwas bedenklicher wird das Verhalten der trendbedingten Nachahmer: Man hört, dass Victoria Beckham, Miley Cyrus oder Lady Gaga komplett auf Gluten verzichten und folgt den Idolen auf ihrem Weg. Die Tatsache, dass viele Firmen mit dem Aufdruck»glutenfrei« auf den Verpackungen werben, macht viele Konsumenten mittlerweile auch glauben, dass diese natürlichen Bestandteile unserer Nahrung ungesund wären, was für über 97% der Menschen jedoch nicht zutrifft. Orthorexie nennt man das Verhalten von Konsumenten, die besessen und fanatisch einer angeblich gesunden Ernährungsform nacheifern. Klingt aber auch äußerst unentspannt. Der britische Psychopharmakologe David Warburton wird im Nachrichten-Magazin /Spiegel/ zum sogenannten Nocebo-Effekt zitiert: »Die ständige Sorge, ob wir uns richtig ernähren, schlägt wahrscheinlich mehr auf die Gesundheit als Cholesterin, Fett, Alkohol, Koffein oder Nikotin.« Orientierung im Dschungel der Ernährungsphilosophien versucht die Foodtrend-Expertin Hanni Rützler gemeinsam mit dem Kulturwissenschaftler Wolfgang Reiter im Buch »Muss denn Essen Sünde sein« zu geben. Bevor die Frage im Titel des Buches beantwortet wird, findet man zahlreiche Plädoyers für den Genuss mit teils sehr wissenschaftlichen Ansätzen. Gutes Leben, so startet man ins erste Kapitel, ist eine pragmatische Balance zwischen Ethik, Gesundheit und Genießen – ein Buch, das für mich genau zur richtigen Zeit erscheint!

 

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