Ein guter Tag hat 100 Punkte – Martin Strele und Axel Steinberger im Interview

Wir leben alle auf Pump, das hat sich herumgesprochen. Doch was hilft es zu wissen, dass jeder von uns maximal 6,8 Kilo CO2 am Tag verbrauchen darf? – „Ein guter Tag hat 100 Punkte“ propagiert deshalb eine Open-Source-Kampagne. Das System ist wissenschaftlich fundiert und alltagstauglich.

Einleitung

Im Anfang war eine freundliche Einladung. Das Land Vorarlberg bat das renommierte Zürcher Designbüro Integral Ruedi Baur, sich eine Kampagne zu überlegen. Diese sollte der Bevölkerung alltagstaugliche Ansätze bieten, Ressourcen zu schonen. Und zwar nicht als Alibiaktion, sondern möglichst eindrücklich und wirksam. Aus Zürich wandte man sich deshalb an alte Bekannte im nahen Bregenz – das Team von Kairos, einer gemeinnützigen Firma für Wirkungsforschung.

Auf eigenes Risiko hatte Kairos in Vorarlberg bereits das Feld für den flächendeckenden Einsatz von Elektroautos bereitet und die „Vlotte“ später dem regionalen Energieversorger VKW überantwortet. Auch die 500 E-Bikes, die Kairos ankaufte und unter dem Namen „Landrad“ vergünstigt weiterverkaufte, wirken weiter: Durch die Auswertung der Nutzungsdaten eines ganzen Jahres wurde das Potenzial des elektronisch verstärkten Fahrradverkehrs im ländlichen Raum gewonnen. 21 Prozent der Teilnehmer an der Feldstudie hatten ihr Verkehrsverhalten grundlegend verändert.

Das mit Integral entwickelte Konzept – die Kampagne „Ein guter Tag“ – kam in Vorarlberg zwar nicht offiziell zum Einsatz. Doch da wie dort, in Zürich wie in Bregenz, war man überzeugt vom Sinn der Sache. So starteten Integral und Kairos die Kampagne schließlich ohne Auftrag- und Geldgeber auf Basis wissenschaftlichen Berechnungen des Ökoinstituts Freiburg  und des Forschungsinstitut für biologischen Landbau (FiBL) in Wien.

Im Interview schildern die beiden Initiatoren, wie es gelang, ein hochkomplexes Thema möglichst alltagstauglich aufzubereiten.

Weitere Information unter www.eingutertag.org

Die Menschen hinter der Kampagne

Axel Steinberger (im Bild rechts) ist Geschäftsführer der Zürcher Niederlassung des Design-Büros Integral Ruedi Baur.

Martin Strele (in der Mitte aufs Fahrrad gestützt) ist einer der beiden Geschäftsführer von Kairos, einer gemeinnützigen Agentur für Wirkungsforschung mit Sitz in Bregenz, Vorarlberg.

„Größenordnungen statt Kommastellen“

Warum lebt ein Porsche-Fahrer im Passivhaus womöglich nachhaltiger als ein Bus-Pendler im schlecht isolierten Altbau? Und wieso hat ein guter Tag 100 Punkte? Martin Strele und Axel Steinberger, die Initiatoren der Open-Source-Kampagne „Ein guter Tag“, im Interview.

Ihr stellt in eurer Kampagne die Frage, welche Ressourcen ein Mensch tagtäglich verbrauchen darf, damit genug für alle da ist. Eure Antwort lautet: Ein guter Tag hat 100 Punkte. Wie kommt ihr zu dieser Zahl?

Ein Indikator für unseren Lebensstil ist der CO2-Ausstoss bzw. der Ausstoß von Treibhausgasen. Er zeigt unseren Verbrauch an Energie aus nicht erneuerbaren Quellen aber indirekt auch die Produktionsweise unserer Produkte, die regionale Wertschöpfung, die mit dem Produkt zusammenhängenden Transportintensität und ganz generell die Klimawirksamkeit von Produkten an. Folgt man der aktuellen Klimadiskussion, könnte man als grobe Schätzung festhalten, dass jeder Mensch jeden Tag 6,8 kg CO2 bzw. das CO2-Äquivalent an Treibhausgasen ausstoßen kann, um die Welt und unser Klima im Gleichgewicht zu halten. Das entspricht dem Wert von 2,5 Tonnen pro Jahr, den der wissenschaftliche Beirat der Deutschen Bundesregierung in einem Sondergutachten von 2009 empfiehlt. Langfristig muss dieser Wert vermutlich auf ca. 1 Tonne pro Person reduziert werden. Die Zahlenwerte sind zu abstrakt und geben nur sehr schwer eine Vorstellung von der tatsächlichen Bedeutung. Daher haben wir nach einem einfacheren, begreifbareren System gesucht und den Wert für die globale Tragfähigkeit in 100 Punkte übersetzt. Jeder Mensch hat jeden Tag ein Budget von 100 Punkten zur Verfügung. Wir Mitteleuropäer liegen derzeit im Mittel weit darüber.

Da wir in unseren Breiten fast alle über unsere Verhältnisse leben, ist ein guter Tag derzeit wohl eher die Ausnahme, richtig?

Das ist genau der Trick: eigentlich nicht! Wir alle verleben relativ viele „100-Punkte-Tage“. Dazwischen aber eben auch „1000-Punkte-Tage“ und häufig auch noch mehr. Uns geht es darum mit einfachen Mitteln Aufmerksamkeit für unser Handeln im Alltag zu erzielen. Einmal begonnen beginnt man fast automatisch die Idee spielerisch und als eine Art Herausforderung zu begreifen. Dabei stellt man auch fest, dass die Tage mit wenig Punkten meist entspannter und damit eigentlich auch erstrebenswerter sind. Uns geht es nicht so sehr darum, auf die letzte Kommastelle zu bilanzieren – dafür gibt es zahlreiche CO2-Rechner. Wir wollen Größenordnungen sichtbar machen.

Ganz ehrlich: Wie viele Tage die Woche sind bei euch selbst gute Tage?

Mehr als man denkt. Meist sind es auch genau die Tage, die bei uns abends ein gutes Gefühl hinterlassen. Manchmal haben wir auch eine ganze Wochen lang nur gute Tage. Es gibt natürlich auch etliche Tage, an denen liegen wir weit über unserem Budget. Ab und zu schaffen wir es auch unsere Bilanz auszugleichen. Das interessante an unserem System ist, dass wir vermeintliche Einschränkungen in unserem Leben positiv und als Erfolg wahrnehmen können.

Wisst ihr auch, auf wie viele Punkte ein durchschnittlicher Mitteleuropäer am Tag kommt?

Wir brauchen im Moment im Schnitt täglich 450 Punkte für unseren Lebensstil. Damit leben wir ordentlich auf Kredit. Auch wenn wir in unseren Breiten bislang nur wenig davon merken, die Auswirkungen unseres Lebensstils haben in anderen Regionen auf der Welt bereits verheerende Spuren hinterlassen.

Die Datenbank auf eurer Website verrät mir, dass der Konsum von 0,5 Liter offenem Bier 2 Punkte verbraucht, der eines halben Liters Dosenbier aber 8 Punkte. Tatsächlich habe ich mir beim Überlegen der Fragen für dieses Interview 0,33 Liter regionales Pils, gebraut aus Bregenzerwälder Bergwasser und abgefüllt in Pfandflaschen schmecken lassen. Wie lässt sich denn die Vielfalt des Angebots halbwegs in einem System wie eurem erfassen?

Das ist nicht ganz einfach. Wie erwähnt wollen wir vor allem Größenordnungen zeigen und Aufmerksamkeit im Alltag erzielen. Wo liegen wirklich die großen Unterschiede, etwa bei der Bio-Produktion im Gegensatz zum konventionellen Anbau; aber auch die richtig großen Fische aufzuzeigen. Ob das Bier schließlich 1 oder 2 Punkte ausmacht, ändert am Trinkverhalten nicht viel. Wenn aber die Autofahrt ins Lokal schon 50 Punkte verbraucht hat, ist das der lohnendere Hebel. Das System ist bewusst offen, erweiterbar und vor allem unabhängig von z.B. wirtschaftlichen Interessen angelegt. Die Liste der bewerteten Produkte ist ein Anfang. Wer Produkte auf der Seite sucht und nicht findet, kann sich melden. Dann versuchen wir, dazu Daten zu finden.

Die Über-Kapitel auf eurer Website sind Mobilität, Strom, Wärme, Konsum und Ernährung. Lässt sich verallgemeinert sagen, wofür die meisten von uns am meisten Punkte verbrauchen?

Nicht wirklich. Bus-Pendler in schlecht isoliertem Altbau schauen da ganz anders aus als Porsche-Fahrer im Passivhaus. Unser Ziel ist es nicht zu urteilen oder moralisch zu werden. Jeder muss sein Leben selbst gestalten. Mit dem Projekt wollen wir dazu beitragen, dass wir ein paar zusätzliche Informationen zu den Wirkungen und Nebenwirkungen unseres Handelns ergänzen.

Ihr habt für eure Kampagne eine Million Aufkleber mit Punkten produzieren lassen, damit die Menschen tolle Dinge, die wenig Energie verbrauchen, aber auch alltägliche „Punktefresser“ kennzeichnen können. Welche Alltagsgegenstände lassen sich denn sinnvoll kennzeichnen?

Die Aufkleber sind ein erster Versuch, die Idee viral zu verbreiten. Plakate oder Werbespots können wir nicht finanzieren. Bisher tragen wir die Kosten für die Initiative selbst. Die Idee der Aufkleber eignet sich da, wo in einem abgegrenzten Gebiet – sei es in einer Schule, in einer Gemeinde, in einer Firma viele unterschiedliche Dinge gekennzeichnet werden. Daneben gibt es viele andere Möglichkeiten, Produkte oder Handlungen zu markieren. Da sind wir auf die Ideen von anderen Interessierten angewiesen. Wir stellen die Idee, die grafische Sprache und ein wenig Know-how zur Verfügung.

Ihr regt auf eurer Website etwa an, Speisekarten mit Punkten zu versehen, um anderen Gästen eines Restaurants eventuell die Auswahl zu erleichtern. Gab es bereits subversive Aktionen, die auf eurem 100-Punkte-System basieren?

Wie gesagt, anregen wollen wir nur dazu, selbst aktiv zu werden. Und dann gute Beispiele durch das Hochladen von Bildern auf unserer Website anderen zu zeigen. Gute Beispiele gab es schon, wie z.B. in einer Schule in Zürich, in der Schüler den Aufzug, den nur Lehrpersonen benutzen dürfen, mit Punkten markiert haben. Wir sind da noch ganz am Anfang. Die Seite ist erst seit Juli online.

Warum wisst ihr denn so sicher, dass ich auf einer Zugfahrt mit den ÖBB weniger Punkte verbrauche als ein Passagier der Deutschen Bahn?

Die Herkunft des Stroms ist bei ÖBB und DB unterschiedlich. Diese Zahlen geben meist die Unternehmen selbst bekannt.

Nun hat dieser Tage die Deutsche Bahn bekannt gegeben, dass sie in Zukunft verstärkt Strom aus Wasserkraft nutzen wird. Wie schafft ihr es denn, eure Datenbank halbwegs aktuell zu halten? Ihr berechnet den CO2- und Ressourcen-Verbrauch ja nicht selbst.

Das ist richtig. Wir bauen meist auf bestehenden Quellen auf, die auf der Webseite auch angegeben sind. Wenn es neuere oder bessere Quellen gibt, Können wir das leicht nachführen. Auch hier sind wir auf die Mithilfe von Interessenten angewiesen: Wem dazu was auffällt, bitte melden. Wir wollen nicht mehr warten, bis wir alle CO2 Werte akribisch berechnen können. Wir halten es für wichtiger, Größenordnungen zu kommuniziert und begreifbar zu machen.

Der öffentliche Verkehr ist offensichtlich ein Vorreiter in Sachen Transparenz. In welchen Bereichen ist es denn am schwersten, an aussagekräftige Daten über den Ressourcenverbrauch von Produkten und Dienstleistungen zu gelangen?

Bei Konsumartikeln ist das am schwersten. Wir können meist sehr genau die Nutzung eines Produktes bepunkten, das Produkt selbst ist oft schwer zu kalkulieren. Die Daten sind hierfür nicht so einfach zu bekommen. Aber es werden immer mehr. Und der Aufwand ist überschaubar, um ein neues Produkt online zu stellen.

Gar nicht so wenig weist ihr auch mit 0 Punkten aus. Fahrradfahren zum Beispiel verbraucht 0 Punkte. Dabei ist die Produktion eines Leichtmetall-High-Tech-Mountainbikes durchaus ressourcenintensiv.

Das ist gut beobachtet und in unserem System auch berücksichtigt. Kaufe ich in Fahrrad so ist das Produkt unter „Konsum“ eingeordnet und wird dort mit der abgeschätzten Lebens- oder Nutzungsdauer auf einen Tag heruntergerechnet. Ein Moped beispielsweise, das ich nur 2 Jahre nutze, schlägt jeden Tag mit 8 Punkten zu Buche. Ob ich es nun fahre, oder nicht. Das Fahren selbst ist davon zu unterscheiden. Das gehört zum Kapitel „Mobilität“. Das lässt sich natürlich nicht bei allen Produkten so einfach trennen. Beim öffentlichen Verkehr ist der Aufwand für Produktion und Entsorgung bereits anteilig in die Kilometer eingerechnet.

Das Punktesystem von „Ein guter Tag“ ist via Creative Commons lizenziert. Das heißt, es darf für unkommerzielle Zwecke übernommen werden, oder?

Ja. Grundsätzlich stellen wir die Idee und das Know-how zur Verfügung. In diesem Sinn ist das Projekt als Open Source zu verstehen. Uns ist jedoch wichtig, dass die grafische Sprache durchgängig bleibt, um ein Wiedererkennen zu ermöglichen und die Zugehörigkeit zu erkennen. Das ist zunächst etwas widersprüchlich, erscheint uns aber der richtige Weg. Es wäre wünschenswert, wenn das System Anklang findet und es möglichst viele Anwendungen gäbe.

Habt ihr schon überlegt, die Daten für unterwegs in eine Smartphone-App zu packen?

Auch diese Überlegungen gibt es schon. Bis jetzt mussten wir uns auf Grundlagen und das Wesentlichen konzentrieren. Allmählich können wir über solche Erweiterungen nachdenken. Da wir diese Anwendungen aber nicht selber erstellen können, benötigen wir hierzu Hilfe. Im Moment fehlen uns allerdings die nötigen Mittel. Wer uns für die Entwicklung eines solchen Tools unterstützen möchte, ist herzlich willkommen. Wir haben in der kurzen Zeit, in der das Projekt online ist, schon einige tolle Kooperationen erlebt. Euer Interesse von BIORAMA ist eines dieser Beispiele.

 www.eingutertag.org

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