Mut zur Wut

Lutz Schulenberg (c) Ute Schendel

Lutz Schulenberg (c) Ute Schendel

Der Zorn auf den Kapitalismus und die Ohnmacht der Politiker geht um wie schon lange nicht. Die Edition Nautilus, ein Verlag für Politik, Kunst und Literatur aus Hamburg, liefert seit über 35 Jahren Theorien und Analysen zum Aufstand. 

Über ihr politisches Engagement sind Hanna Mittelstädt, Lutz Schulenburg und Pierre Gallissaires 1974 mehr zufällig als absichtsvoll als Herausgeber einer Zeitschrift und diverser Flugschriften in das Büchermachen hineingerutscht. Jahrzehntelang gelang das ohne finanzielle Absicherung, mit vielen kleineren und größeren Krisen. Seit dem überraschenden Erfolg des Krimi-Debüts »Tannöd« (über 1 Mio. verkaufte Exemplare) von Andrea Maria Schenkel vor fünf  Jahren ist das politische Engagement bei Nautilus nicht geringer, dafür aber wirtschaftlich entspannter geworden.  So wurde mit der Neu-Etablierung der Reihe »Flugschriften« nicht bloß ein Serientitel aus den Anfangstagen des Verlags wieder aufgenommen, dem Verleger Lutz Schulenburg geht es dabei auch um die bewusste Schärfung seiner ursprünglichen Intention, eingreifende Bücher herauszubringen. Die »Flugschriften« sollen Auswege aus der aktuellen Krise zeigen – und das sowohl mit aktuellen als auch historischen Veröffentlichungen.

BIORAMA: Der Nautilus Verlag steht seit den 70er Jahren für Bücher, die provozieren – ob Erinnerungen ehemaliger RAF-Terroristen oder Schriften von Anarchisten, Dadaisten, Surrealisten. Gibt es dafür immer noch eine Leserschaft?

Lutz Schulenberg: Klar doch! Würde es uns andernfalls überhaupt noch geben? Die gesellschaftlichen Fragen, die sich Menschen stellen – wie soll ich leben, wovon kann ich existieren, was will ich nicht mehr und was stattdessen? – sind doch immer virulent. Wir haben immer versucht, Bücher herauszubringen, die Antworten geben, die analysieren, die dazu ermutigen, die eigenen Wünsche ernstzunehmen.

Was, denken Sie, haben Sie mit der Herausgabe dieser Bücher bewirken können?

Aus Erfahrung bin ich bescheidener geworden, was die unmittelbare Wirkung anbetrifft. Aber gelegentlich wird man doch überrascht, wie durchschlagend ein Buch sein kann. Ich denke hier an das Pamphlet »Der kommende Aufstand«.

Mit diesem Titel haben sie auch die „Flugschriften“, eine Reihe aus den Anfangstagen des Verlags, neu gestartet. Ist es das neue Manifest einer gewaltbereiten Bewegung, die sich von Paris und Athen bald über ganz Europa erstrecken wird? 

Das hoffe ich! Besonders auch deswegen, weil die gegenwärtige kapitalistische Wirtschaftsweise zusammen mit dem Staat, der Bürokratie und ihrer Politik den Planeten ruinieren und die Zukunft der Menschheit düster erscheinen lassen. Als Individuen und als Gattungswesen sind wir herausgefordert, die Welt zu verändern, damit es auch weiterhin eine lebendige Erde gibt und nicht einen verseuchten Friedhof des Kapitals. Zum Aspekt der Gewalt: Auch wenn wir in einer Gesellschaft leben, die von Gewalt geprägt ist, die nicht hinterfragt wird, muss eine emanzipatorische Bewegung  ein kritisch reflektierendes Verhältnis bei der Wahl ihrer Mittel und Methoden haben. Schließlich ist die Kritik der kapitalistischen Gesellschaft eine Kritik der Gewalttätigkeit, die dem Menschen durch die Produktionsverhältnisse angetan wird.

Was wird noch in den „Flugschriften“ erscheinen? Auf wie viel Bände ist die Reihe ausgelegt?

Für die Reihe gibt es keine Begrenzung, weder zeitlich noch inhaltlich, sie soll ein kritisches Denken beflügeln. Erfahrungen, Analysen, Theorie vermitteln. So werden im nächsten Frühjahr vier Bände zu aktuellen Fragen erscheinen: zur Finanzkrise, zur russischen Situation, ein weiblicher Blick auf die  Zurichtung des Körpers und einer auf die Feinde der arabischen Revolutionen – also Beiträge zu brennenden Fragen unserer Gegenwart.

Sind wir mit „Occupy Wallstreet“ gerade Zeugen einer neuen Protestbewegung, die global etwas bewirken kann?

Es tut sich weltweit mehr, als den Herrschenden lieb ist. Die einfältige regierungsamtliche Losung »Weiter so wie bisher« steht im Widerspruch zu der Suche nach Alternativen und den schöpferischen Kräften, die diese Abkehr freisetzt. Und »Occupy« ist ein Teil der heilsamen Unruhe, die eine revolutionäre Praxis hervorbringt. Was ein Handeln emanzipatorisch und revolutionär macht, ist, die das Bewusstsein für die Freiheit der  Menschen zu schärfen, sie zu ermutigen, miteinander zu kooperieren statt der kapitalistischen Ökonomie zu gehorchen und gegeneinander zu konkurrieren. In einer freien Gesellschaft, in der die gegenseitige Hilfe vorherrscht, hört die Machtausübung über Menschen auf, und statt Menschen werden Dinge verwaltet werden. Diese neue Gesellschaft beginnt heute zu wachsen, in den Handlungen und im Denken aller.

Sie sind nicht nur Verleger und Herausgeber, sondern auch Archivar und Chronist der Geschichte der  Linken in Deutschland.  Ist der Blick zurück lustvoller als der auf die Gegenwart?

Überhaupt nicht. Der Blick zurück, das ist für mich die Verteidigung der Erinnerung. Das historische Bewusstsein erleichtert es, Vorgänge und Triebkräfte, die unsere Welt geformt haben, das Bestehende als etwas Gemachtes zu verstehen. Die Löschung des historischen Wissens ist zunächst vor allem ein Bemühen, mit dem die herrschenden Mächte ihre Ordnung verewigen möchten, als eine Art Naturzustand. Die Gegenwart sollte als Situation der Entscheidung verstanden werden, sie bietet uns die Möglichkeit, unsere Kräfte zu erproben und die herrschende Ordnung umzuwandeln. Gegenwart heißt für mich Praxis, also tun!

www.edition-nautilus.de

(Das Interview ist ursprünglich in BIORAMA #16 erschienen)

 

Raoul Vaneigem
»Handbuch der Lebenskunst für die jüngeren Generationen«

Ein Schlüsselwerk der aufständischen Geschichte von 1967-68, das die Parolen auf den Mauern und Plakaten des Mai 68 prägte. Poetisch, witzig, radikal: Die Perspektive der Macht, mit ihrer Hierarchie, Aufopferung und Arbeit, soll umgekehrt werden in eine Perspektive der Selbstbestimmung, Kreativität, Spontaneität und Poesie.

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Holger Strohm
»Friedlich in die Katastrophe. Ein Handbuch über Atomkraftwerke«

Bis heute gibt es kein vergleichbares Buch, das sich derart umfassend mit allen Aspekten der »friedlichen Nutzung« der Atomenergie auseinandersetzt. 1973 erstmals erschienen, ist die »Bibel der Anti-AKW-Bewegung« seither in mehreren Überarbeitungen unerlässliches Handwerkszeug für die Argumentation.

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Niels Boening
»Alles auf Null. Gebrauchsanweisung für die Wirklichkeit«

Wie sollen wir leben? Was können wir tun?  Der Wissenschaftsjournalist Niels Boening, 44, geht solchen Grundsatzfragen nach und erörtert sie in 99 Behauptungen nachdenklich bis kämpferisch, subjektiv bis imperativ. So wird durchgespielt, wo und wofür eine kritische, intellektuelle Generation heute – nach 68, nach 89 – steht.

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Unsichtbares Komitee
»Der kommende Aufstand« 

Eine Momentaufnahme des Ist-Zustands des modernen Menschen in der westlichen Welt, die die Befreiung aus der Misere in Form von Systemzerstörung und militanten Volksaufständen sieht. Das seit 2007 existierende Manifest eines anonymen französischen Autorenkollektivs plädiert für die Bildung von Kommunen sowie die Restrukturierung der Ökonomie in kleine, lokale Einheiten.

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