Zucker aus? Frag nebenan!

Bild: fragnebenan

Mirjam, Stefan, Valentin, Andreas & Mathias von fragnebenan / Bild: fragnebenan

Gemeinsam den Alltag erleichtern – die Plattform Frag nebenan will Nachbarinnen und Nachbarn miteinander vernetzen, um so eine gute Gemeinschaft zu schaffen. BIORAMA hat sich mit Stefan und Valentin von Frag nebenan unterhalten, warum man heute dafür eine Plattform braucht.

Valentin (Kundenservice und Communitymanager), Stefan (Initiator und Geschäftsführer), Mathias (Entwickler und Technicker) und Andreas (Designer) haben seit ein paar Monaten ein gemeinsames Projekt: die Plattform fragnebenan.at. Zehn Wiener Gemeindebezirke – 2, 5, 6, 7, 8, 14, 15, 16, 17, 20 –  können bereits mitmachen. Die Vorbereitungen für andere Bezirke und Städte sind am laufen.

BIORAMA: Wann ist denn das Nebenan-fragen (um eine Tasse Zucker etc.) aus der Mode gekommen und warum?

Stefan: Ich glaube es ist so, dass es sich in modernen Städten eingebürgert hat, sich nicht mehr so miteinander zu beschäftigen wie früher. Die Wohnqualität ist gestiegen und man hat alles in der Wohnung, wie zum Beispiel fließendes Wasser – Stichwort: Bassena. Das gibt es jetzt nicht mehr, dass man sich beim Wasserholen trifft und ins Gespräch kommt. Wahrscheinlich spielt es auch eine Rolle, dass es heutzutage viel mehr Single-Haushälte gibt. Die Menschen arbeiten mehr und sind ohnehin weniger zuhause und benützen die Wohnungen nur mehr zum Schlafen. Wenn ich in der Früh außer Haus gehe und erst am Abend wieder zurückkomme, besteht wenig Gelegenheit für Kontakt.

Valentin: In den letzten Jahren und Jahrzehnten kann man einen gesellschaftlichen Wandel beobachten. Die Sozialstruktur innerhalb der Gebäude verändert sich. Wir haben mehr Wohnungen, in denen Einzelpersonen leben und klassische Familienstrukturen lösen sich innerhalb der Häuser auf und vermischen sich. Einige baulichen Strukturen fallen komplett weg oder neue kommen hinzu: Es gibt auf einmal einen Lift anstatt eines großen Stiegenhauses, oder auch die Klos am Gang fallen sukzessive weg. Mit diesen baulichen Veränderungen steigt die Anonymität.

Wie helft ihr konkret mit der Plattform? Wieso geht es nicht ohne?

Valentin: Die Idee ist, durch die Plattform einen Raum (im Internet) zu geben, der die zeitlichen und örtlichen Hürden des Alltags überwindet und den Nutzer und die Nutzerin so unabhängiger macht. Da sie 24 Stunden auf der Plattform kommunizieren können, versuchen wir, diese Kontakte wieder herzustellen und die Kommunikation auch offline in Gang zu bringen.

Stefan: Wenn ich beim Nachbarn am Abend anklopfe, könnte es sein, dass ich ihn störe. Zufällige Begegnungen werden weniger. Frag nebenan ist ein Gemeinschaftsraum, der immer da ist und der in Häusern zur Verfügung steht, in denen keine Gemeinschaftsräume angeboten werden. Man hat jederzeit Zugriff darauf und kann viele Leute ganz bequem erreichen.

Stefan Thießbacher / Bild: Martin Pabis

Stefan Theißbacher / Bild: Martin Pabis

Ihr schreibt auf der Website: „… denn wir kennen uns nicht, wir grüßen uns nur. Und das ist nicht nur schade, sondern ein echtes Problem.“.Wie definiert ihr ein „echtes Problem“?

Stefan: Das Problem, das man in modernen Städten hat, ist, dass Phänomene wie Segregation und Isolation auftreten. Segregation, weil Gruppen nicht miteinander in Kontakt kommen, sondern abgeschottet für sich selbst leben. Isolation tritt auf, weil sehr viele Menschen alleine in Wohnungen ziehen – teilweise weil sie es auch wollen. Die Anonymität in der Stadt ist ein Grundrecht und Bedürfnis, warum sehr viele Menschen auch in die Stadt ziehen. Auf der anderen Seite gibt es aber viele Leute, die sich genau deshalb alleine gelassen fühlen und wenige Möglichkeiten für Austausch haben. Das sind Dinge, die die Lebensqualität von Menschen spürbar verschlechtern. Das andere Problem ist, dass das riesige Potenzial an Ressourcen nicht genützt wird. Mein Wohnhaus hat Wissen, das ich anzapfen kann und es hat jede Menge Dinge, die man gemeinsam nützen könnte. Zum Beispiel die Bohrmaschine, der Klassiker. Wenn man den Zweck der Gemeinschaft begriffen hat, auch wenn es nur eine Zweckgemeinschaft ist, lässt sich der Alltag um vieles leichter machen.

Hat so etwas wie eine Hausgemeinschaft in der urbanen Lebenswelt noch Platz?

Stefan: Ich denke schon, dass es das Bedürfnis gibt, die Menschen in seiner Umgebung zu kennen. Man sieht das auch an den Baugruppen, die immer populärer werden. Im Rahmen des Urbanize Festival wurde auf eine Studie des Marktforschungsinstituts Gallup verwiesen, die besagt, dass sich 34% der Leute in Wien vorstellen könnten, in einer Baugruppe zu wohnen oder einer Baugruppe anzugehören. Ich glaube, Anonymität in einer Stadt ist wichtig, aber wenn sie zu weit geht, dann fühlt man sich verloren. Ich glaube auch, dass generell mehr Platz für eine Hausgemeinschaft ist, gerade weil man im selben Haus wohnt, wäre es sehr einfach, sich gegenseitig etwas zu unterstützen. Dennoch verstehen wir uns nicht als Plattform der Sharing-Community, wo man irgendwelche Dienstleistungen verkaufen möchte oder Geld damit verdienen will, indem man sich gegenseitig Dinge verleiht. Bei uns geht es darum, Nachbarschaftshilfe im Alltag zu leben, sich gegenseitig einen Gefallen zu tun und auszuhelfen. Es geht nicht um einen Austasuch Zug-um-Zug, sondern man vernetzt Menschen und zeigt dadurch, dass man einander helfen kann und will.

Wen spricht die Plattform am meisten an? Wie reagieren alteingesessene Mieter auf dieses Angebot?

Stefan: Es ist unterschiedlich. Du musst dich mit deiner richtigen Adresse und mit deinem richtigen Namen registrieren, damit man sicherstellen kann, dass es echte Nachbarn sind. Da wird Datensparsamkeit großgeschrieben. Uns geht es nicht darum, Daten zu sammeln und diese dann zu verwerten, deshalb haben wir bisher nur ein Gefühl dafür, welche Menschen sich bei Frag nebenan angemeldet haben. Aber das Gefühl sagt mir, dass es mehr Frauen sind als Männer, das kann man mit der Anrede Frau/Herr ablesen. Vom Alter hätte ich bis vor kurzem gesagt, dass die meisten User um die 30 sind, aber bei den Verifizierungen habe ich gesehen, dass auch einige um 1950 herum geboren sind, womit ich nicht so gerechnet habe. Eine wirkliche Statistik haben wir noch nicht.

Valentin: Bei Gesprächen oder Zugriffszahlen sieht man jedoch, dass Frag nebenan sehr gut ankommt. Wir versuchen die Plattform sehr neutral zu gestalten, damit sie für jeden benützbar ist. Wir versuchen auch bestehende Nachbarschaftsgemeinden zu integrieren. Dort, wo in großen Häusern bereits eine Gemeinschaft vorhanden ist, möchten wir diese unterstützen, indem sie der Plattform beitreten. In meinem Haus zum Beispiel ist es so, dass sich Familien mit Kleinkindern regelmäßig am Spielplatz treffen und eine sehr gute Gemeinschaft bilden. Personen, die jedoch keine Kinder haben, haben keine Chance, bei diesen Gruppen dabei zu sein. Denn auch in diesen Mütter-Gruppen tauschen sie sich zu Themen aus, die nicht nur den Themenbereich Kinder abdecken.

Was ist euch wichtig in puncto Datenschutz?

Stefan: Schon bei der Entwicklung haben wir Datenschutzexperten hinzugezogen, um Privacy-by-design weiterzuentwickeln und versuchen das auf allen Ebenen durchzuziehen. Unsere Server sind in Deutschland, wo europäisches Datenschutzrecht zur Geltung kommt. Wir versuchen datensparsam zu sein und nur Dinge abzufragen, die für die Plattform notwendig sind. Wenn du dein Konto löschen möchtest, dann kannst du das sehr einfach tun und das Konto ist dann auch wirklich gelöscht. Beschäftigst du dich nicht mit Datenschutz, sind die Grundeinstellung, deine Privatsphäre, extrem stark geschützt. Wenn du aber willst, kannst du natürlich mehr Daten an deine Nachbarn freigeben. Auch die Privateinstellungen sind so übersichtlich wie möglich gestaltet, weil wir es den Menschen so einfach wie möglich machen wollen.

Valentin: Wir versuchen wenige Daten zu bekommen, aber gleichzeitig zu garantieren, dass nur die Nutzer und Nutzerinnen miteinander diskutieren, die wirklich im Haus sind. Daher haben wir auch den Verifizierungsprozess, um genau diese Dinge zu beweisen. Diesen Spagat zwischen wenigen Daten und Verifizierung wollen wir streng durchziehen. Wir wüssten ohnehin nicht, was wir mit den ganzen Daten machen sollten.

Valentin Schmiedleitner / Bild: Martin Pabis

Valentin Schmiedleitner / Bild: Martin Pabis

Euer Ziel ist vorerst Wien umzusetzen, wie geht es danach weiter? Bzw. warum gibt es derzeit nur ein paar Bezirke?

Valentin: Wir wollen mit Frag nebenan eher den lokalen Aspekt fördern und haben daher beschlossen, das auch in unsere Entwicklungen miteinzubeziehen. Wir haben mit dem 7. Bezirk gestartet, weil wir hier unser Büro haben. In diesem Bezirk versuchen wir zu lernen, mithilfe der Plattform eine Gemeinschaft aufzubauen. Es macht wenig Sinn ein Haus im 20. Bezirk, eines im 2. und ein weiteres im 15. zu haben, welche geografisch sehr weit auseinander liegen, weil dadurch keine Interaktion entstehen kann. Für die Nutzer und Nutzerinnen macht es mehr Sinn, wenn die Community langsam wächst.

Stefan: Wir wollten auch so früh wie möglich online gehen, um dann mit dem Feedback der Nutzer und Nutzerinnen die Plattform weiterzuentwickeln. Daher haben wir mit sehr wenigen Funktionen gestartet und erweitern diese nun laufend. Im kleinen Raum wollten wir ausprobieren, ob es grundsätzlich technisch funktioniert, ob es die Leute verstehen und nutzen, so wie wir dachten. Mit dem Feedback sehen wir, wie es weitergehen soll. Sehr schnell wurden die Anfragen aber mehr und seither versuchen wir die Community auszuweiten. Beschränkt sind wir dennoch mit den Ressourcen, da wir das Projekt bisher mit unserem eigenen Geld finanziert haben – mittlerweile mit einer Förderung. Wir könnten es uns gar nicht leisten, ganz Wien auf einmal freizuschalten. Ziel ist es, Anfang nächsten Jahres in ganz Wien verfügbar zu sein. Es wird auch davon abhängig sein, wie sich die nächsten Monate entwickeln. Langfristig wollen wir Frag nebenan natürlich auch in andere Städte bringen. Nachdem unser Designer in Graz wohnt, werden wir dort weitermachen. Ab dann wollen wir auch nach Deutschland in große Städte.

Valentin: Wir hatten auch schon Anfragen aus dem Südburgenland oder aus Villach, also aus ländlicheren Gebieten mit einer geringeren Einwohnerdichte. Das war für uns eine sehr interessante und spannende Beobachtung, dass auch dort Interesse an Frag nebenan besteht.

Als ich zum ersten Mal nach Wien gezogen bin zum Studieren, da bin ich in ein Studentenwohnheim gezogen. Ich habe mich auf viele nette, junge Leute gefreut und dann nach dem ersten Monat bald festgestellt, dass hier jeder sehr verschlossen ist. Hätte es damals schon Frag nebenan gegeben, hätte ich bestimmt einen Versuch gestartet. Wie würdet ihr auf so ein Problem eingehen bzw. hattet ihr schon Sonderfälle?

Stefan: Rein technisch würde es schon funktionieren, aber bisher hatten wir noch kein Studentenheim. Rein gefühlsmäßig denke ich, dass wir für Menschen, die schon wissen, wo sie wohnen, mehr Sinn machen. Als ich nach Wien gekommen bin, war ich sehr froh, dass mich keiner kennt. Erst, als ich mich entschlossen habe, in der Stadt zu bleiben, habe ich bemerkt, dass es eigentlich fein wäre, die Leute rund um mich herum etwas mehr zu kennen und nicht nur meine Freunde zu haben, die irgendwo in der Stadt verteilt sind.

Valentin: Ich habe zum Beispiel als Student in der Pfeilgasse gelebt und da hat sich baulich seit den 60er-Jahren nichts verändert. Das heißt, wir haben immer noch die Gemeinschaftsküche gehabt. Gerade in moderneren Studenheimen gibt es schon zwei Zimmer, die sich eine Küche miteinander teilen. Auch dort steigt die Anonymität. Von der technischen Seite spricht überhaupt nichts dagegen, dass auch hier Frag nebenan genützt wird. Es ist ja auch ein interessantes Instrument, die Umgebung kennenzulernen.

Mathias Müller / Bild: Martin Pabis

Mathias Müller / Bild: Martin Pabis

Frag nebenan gibt es jetzt schon eine Weile. Wie ist das Feedback bisher und was hat sich verändert bzw. weiterentwickelt?

Valentin: Bisher haben wir nur positives Feedback bekommen und es wird sehr gut angenommen.

Stefan: Es waren mehr so kleine Fehlerchen und Bugs, die aufgetaucht sind. Selbst kommt man nicht immer auf alles drauf und da ist die Hilfe der User sehr wichtig. Das waren eben mehr so Wünsche, wie den Text vom Aushang, das pdf, das wir zur Verfügung stellen, etwas zu ändern bzw. anders zu formulieren. Dann kam noch ein Wunsch, dass man auch Fotos hochladen kann, was wir bald umsetzen werden. Wir haben auch beobachtet, dass es generell große Bereitschaft gibt, sich gegenseitig zu helfen. Wir sind seit drei, vier Monate online und haben gesehen, dass es erstmal etwas gedauert hat, bis die ersten Fragen gestellt worden sind. Aber jetzt ist schon etwas mehr los auf der Seite. Wenn jemand etwas gefragt hat auf der Plattform, dann haben die Nachbarn und Nachbarinnen sehr schnell reagiert und geantwortet. Eine junge Frau hatte mal nach einem guten Hausarzt im Bezirk gefragt und darauf fünf Antworten bekommen. Das finde ich sehr schön zu beobachten. Wenn gefragt wird, wird auch geantwortet. Mittlerweile melden sich auch innerhalb der Häuser mehr Personen an. Wir haben noch einen weiten Weg zu gehen, damit wir dort ankommen, wo wir hin wollen, aber man sieht, dass eine gewisse Bereitschaft da ist, sich miteinander zu beschäftigen.

Andreas Förster / Bild: Martin Pabis

Andreas Förster / Bild: Martin Pabis

Habt ihr eine witzige Nachbarschaftsgeschichte auf Lager?

Valentin: Von einer Liebesgeschichte können wir leider bisher noch nicht berichten …

Stefan: Ich habe eine, die aber nur teilweise mit Frag nebenan zu tun hat: Vor dem Projekt kannte ich keinen im meinem Wohnhaus, außer meinen Mitbewohner. Im Zuge der Vorbereitung auf das Projekt habe ich dann ein paar Leute kennengelernt. Kurz nachdem wir online gegangen sind, habe ich ein paar Teammitglieder zum Essen eingeladen und bekocht. Dann bin ich draufgekommen, dass die Kartoffeln nicht mehr gut waren. Da bin ich zu den Nachbarn und habe nach Kartoffeln gebeten und dann auch welche bekommen. Das war für mich witzig, weil ich vorher niemanden gekannt habe, und jetzt habe ich schon ein paar Mal mit ihm geredet. Jetzt ist es kein Problem mehr, bei ihm zu läuten und nach Essen zu fragen.

(v.l.n.r.) Thomas Kuwatsch (Beratung in der Startphase), Stefan Theißbacher, Andreas Förster, Valentin Schmiedleitner & Mathias Müller / Bild: Martin Pabis

(v.l.n.r.) Thomas Kuwatsch (Beratung in der Startphase), Stefan Theißbacher, Andreas Förster, Valentin Schmiedleitner & Mathias Müller / Bild: Martin Pabis

www.fragnebenan.com

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