Gefundenes Fressen #12: Über Geschmack lässt sich bekanntlich streiten

Bild: Daisuke Akita

Hier schreiben Sonja Stummerer und Martin Hablesreiter über Essen als essentielles politisches und kulturelles Thema. Teil 12. 

Sie haben aber bestimmt guten Geschmack, oder? Jeder Mensch geht davon aus, Geschmack zu haben. Andererseits ist die Auswahl dessen, was wir in den Mund stecken, ganz stark von unserem sozialen Umwelt dominiert und primär erlernt. Wir essen nicht, was uns schmeckt, sondern was uns zu schmecken hat!

Ja, der Geschmack als Auswahlkriterium dafür, was wir in den Mund stecken und hinunterschlucken, ist ein wesentlicher Parameter unserer Persönlichkeit. Unser Geschmack definiert ja auch die physische Beschaffenheit unserer selbst. Die Reise eines Bissens von der ersten Berührung auf den Lippen bis zur Zersetzung durch die Magensäure ist nicht nur sinnlich sondern auch geistig eine zutiefst persönliche Körpererfahrung: wir werden zu dem, was wir essen. Aber genau deswegen unterliegt das Essen auch so vielen Regeln und Ritualen, die gesellschaftlich und kulturell geprägt sind und dem Einzelnen erlauben, sich innerhalb einer Gruppe quasi „selbst zu erschaffen.“ Er beruft sich dabei auf kulturelle Sitten und Moralvorstellungen, die ihm eine Legitimation dafür liefern, was zu schmecken hat, was nicht – und warum. Der deutsche Philosoph Harald Lemke stellt dazu fest: „Das Essen ist moralisch, ob’s einem schmeckt oder nicht.“ Geschmack ist also nur vermeintlich eine Frage des unvoreingenommenen Genießens sondern ein, wenn nicht das Instrument sozialer Organisation und Ordnung. Gesellschaftlich betrachtet fungiert Geschmack als Methode der Identitätsvermittlung, als Speicher tradierten Wissensvorrates, als Ideologieträger und in logischer Folge daraus auch als Mittel der sozialen Abgrenzung.

Geschmack ist nie absolut. Selbst extrem unangenehme Geschmackseindrücke wie bitterer Kaffee oder scharfer Chili, können kulturell positiv belegt und damit bei weiten Bevölkerungsschichten beliebt werden. Wie sonst ließe sich erklären, dass wir Bier trinken, Sauerkraut oder Quargel essen? Das Spektrum der als Nahrung akzeptierten Tiere und Pflanzen unterscheidet sich je nach Region, Sozialstatus, Ethnie etc. stark und ist zudem ständigen Veränderungen und Anpassungen unterworfen. Was wir essen – und was nicht, ist Ausdruck von Sozialisierung und gesellschaftlicher Zugehörigkeit. Es bildet „Teil eines gemeinsamen Bewusstseins“, welches „Völkern, sozialen und religiösen Gruppen das Gefühl einer Identität vermittelt“. Es gibt keinen logischen Grund dafür, dass wir in Mitteleuropa Shrimps essen, Heuschrecken in der Regel aber verabscheuen, oder Kaninchen braten, dieselbe Zubereitung eines Meerschweinchens jedoch abstoßend finden. Eine erfolgreich sozialisierte Person übergibt sich vielleicht sogar, wenn man ihr die „falsche“ Nahrung vorsetzt, also etwa beim Anblick eines Hundes im Kochtopf. Sollten wir in diesem Sinne lieber über den guten Ekel als über den guten Geschmack diskutieren?


Über Gefundenes Fressen:

Jeder Bissen ist ein politischer Akt. Was wir wann wie und warum essen, kann unwürdige Arbeitbedingungen, Bodenerosion in Zentralafrika oder brennende Amazonasflächen auslösen. Die Frage des täglichen Essens hat nichts mit Diäten, Rezepten oder Gourmetkritiken zu tun sondern mit CO2 Emissionen, Fracking oder Gentechnologie. Jeder Biss ist Kultur. Jedes Schlucken ist Politik. Sonja Stummerer und Martin Hablesreiter wollen in ihrem Blog das Essen als essentielles politisches Thema in der Mitte der Gesellschaft positionieren, weil die Aufnahme der alltäglichen Kalorien nicht nur eine Frage von Genuss und Geschmack sondern auch der Lebenseinstellung und Denkweise einer Gesellschaft ist. Erst das Fressen, dann die Moral? Nein.

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