Achtung vor Biodiversität

Jede zehnte Tier- und Pflanzenart lebt im südlichen Amazonasbecken. Das gehört größtenteils zu Brasilien.

»Unsere Natur stirbt« lautet ein Buchtitel von Michael Schrödl. Der Biologe an der Ludwig-Maximilians-Universität in München leitet die Weichtiersektion der Zoologischen Staatssammlung. Schon in dreißig Jahren werde die Erde eine Wüste sein, wenn Artensterben und Klimawandel ungebremst fortlaufen wie bisher, prognostiziert der Meereszoologe. Seine These: Der gigantische Verlust an Arten, der sich im Aussterben vieler Tiere, Pflanzen und Mikroorganismen zeigt, beschleunigt den menschengemachten Klimawandel drastisch. Wenn wir so weitermachen wie bisher, kollabiert bis spätestens 2050 die Biosphäre. Schrödls Biokalypse – eine Fiktion?

Im vergangenen Jahr sind in Brasilien 4,8 Millionen Familien land- und heimatlos geworden, eine Milliarde Kilogramm Pestizide wurde von der Agrarindustrie ausgebracht, geschätzt zwei Millionen Menschen erlitten dadurch Vergiftungen. Die Rodungen des brasilianischen Regenwalds – meist durch Brandstiftung – nahmen um 90 Prozent zu. Inzwischen sind 19 Prozent des brasilianischen Regenwalds vernichtet. Unzählige Tier- und Pflanzenarten sind im Land mit der weltweit größten Biodiversität unwiederbringlich verloren. Wie hoch die Verluste genau sind, dazu gibt es noch keine Zahlen, weil die brasilianische Regierung unter Präsident Jair Bolsonaro 80 Prozent der Gelder für die Regenwaldforschung gestrichen hat. Brasilianische WissenschaftlerInnen verlassen ihr Land, wie auch Professor Antônio Andrioli. Seit vielen Jahren setzt er sich für eine gentechnikfreie Landwirtschaft ein, momentan forscht der Träger des Bayerischen Naturschutzpreises am Rachel Carson Center in München zu den ökologischen und sozioökonomischen Auswirkungen von Gentechnik und Pestiziden.

Trotz großer politischer Widerstände in Brasilien wird er nicht müde, die Umweltzerstörung, den Pestizideinsatz sowie die Vertreibung der Kleinbäuerinnen und Kleinbauern anzuprangern und sich für die Umsetzung einer nachhaltigen Agrarökologie einzusetzen. Andrioli ist Professor an der UFFS, einer staatlichen Universität im ländlichen Raum für nachhaltige Entwicklung, die er selbst mitgründete. Die indigene Bevölkerung trug mit ihren Agroforst-Methoden und anderen nachhaltigen Nutzungsarten zum Erhalt des Regenwalds bei, bis man sie ihrer Lebensgrundlage beraubte und ihren natürlichen Lebensraum in eine Gensoja-Einöde verwandelte oder in Viehweiden oder andere gentechnisch veränderte Monokulturen wie Zuckerrohr, Baumwolle, Eukalyptus. Allein auf 35 Millionen Hektar Land wird in Brasilien Soja angebaut, eine Fläche so groß wie Deutschland. 95 Prozent davon sind Gensoja, das in Brasilien seit 2004 zugelassen ist und seitdem eine Verdreifachung des Pestizideinsatzes erforderte. 

In Europa gibt es so etwas nicht!

Wer denkt, dass wir in Deutschland und Österreich nichts mit dem Desaster in Brasilien zu tun haben, täuscht sich. Die Bundesregierung unterstützt das EU-Mercosur-Abkommen, das unter anderem den freien Handel von Fleisch und Autos fördern soll. Andrioli fordert, das Mercosur-Abkommen sofort zu stoppen, weil die Abholzung des Regenwalds durch den Vertrag weiter voranschreiten wird. Deutsche Chemieunternehmen wie Bayer und BASF profitieren vom Absatz ihrer Pestizide in das südamerikanische Land. Drei von zehn der meistverkauften Pestizide sind in Europa nicht zugelassen, dürfen aber an die BrasilianerInnen verkauft werden. Gentechnisch verändertes Futtermittel kommt nach Deutschland, ohne dass das Fleisch von Tieren, die damit gefüttert wurden, einer Kennzeichnungspflicht unterliegt. Soja aus Brasilien sollte nicht mehr importiert werden dürfen, solange der Anbau mit Umweltzerstörung und Menschenrechtsverletzungen einhergeht, fordert Andrioli.

Neuralgisch für Arten- UND Klimaschutz

Wie viele seiner WissenschaftskollegInnen erwartet er einen ökologischen Kollaps, sollte mehr als ein Viertel dieses Regenwalds verloren gehen, der die weltweit größte Biodiversität an Flora und Fauna umschließt, und das im größten zusammenhängenden Regenwaldgebiet und dem größten Süßwasserreservoir der Erde. Er umfasst mehr als sieben Millionen Quadratkilometer und erstreckt sich über acht Anrainerstaaten. Doch die Schatzkammer der Artenvielfalt wird den Gewinnen von Konzernen geopfert. Dabei ist der Amazonas als Lunge der Erde entscheidend, um der Klimakrise entgegenzuwirken. Jede zehnte Tier- und Pflanzenart lebt hier. »Diese Tropenwälder funktionieren als Wasserpumpe für den ganzen Kontinent«, erklärt Biologe Schrödl. Wenn Wasser verdampft, kühlt es den Boden und gibt diese Energie als Wolke wieder ab. Das lässt einen Sog entstehen, der feuchte Luft vom Atlantik ansaugt und in der Folge zu Regen führt. »Gibt es also weniger Bäume, gibt es weniger Regen und damit noch einmal weniger Bäume – üppige Regenwälder verdorren«, warnt Schrödl. Ganze Nationen würden dann unter Dürren leiden. Vom Anstieg der Klimagase CO2 und Methan, die nicht mehr gebunden werden können, ganz zu schweigen.

Immer wieder: Abholzung für Monokulturen

Die Hauptschuld daran tragen die industrialisierte Landwirtschaft, die Zulassung der Gentechnik und die damit einhergehende Monokultur mit dem entsprechenden Sortenverlust. Die politisch einflussreiche Agrarlobby, die im brasilianischen Parlament sitzt, drängt erfolgreich auf eine Ausweitung von Weideflächen sowie Anbauflächen für Produkte wie Soja und Zuckerrohr. Die von Professor Andrioli dokumentierte Folge: Der immer weiter steigende Pestizideinsatz zerstört die Bodenstruktur und jegliches Leben im Boden und darum herum. 

Eine zusätzliche Bedrohung der Biodiversität in Lateinamerika stellen Ölbohrungen und Bergbauaktivitäten dar, die von den jeweiligen Regierungen unterstützt werden und an denen internationale Firmen gut verdienen. Auch hier wird das Recht der indigenen Bevölkerung mit Füßen getreten und die Umwelt nachhaltig geschädigt. Der Tagebergbau von Metallen wie Gold und Silber zerstört riesige Flächen, verändert die Lebensadern der Wassereinzugsgebiete, schädigt die Böden, Flora und Fauna, vernichtet Wälder und führt zur Vertreibung und Zerstörung von Hunderten von Dorfgemeinschaften. Zudem wird eine Unmenge an Wasser verbraucht und das Grundwasserreservoir geschädigt.

Bisher weltweit zu wenig

»Der Zustand der Natur und die gerechte Verteilung der Nutzen der Natur für die Menschen verschlechtern sich weiterhin«, konstatiert der jüngste Bericht des Weltbiodiversitätsrates IPBES (Intergovernmental Science-Policy Platform on Biodiversity and Ecosystem Services). Die ForscherInnen fordern die »sofortige Transformation der globalen Wirtschafts- und Betriebsabläufe, um die Natur, wie wir sie kennen und nutzen, auch in Zukunft sicher zu erhalten. Obwohl in der Vergangenheit viel Naturschutz betrieben wurde, nehmen unsere natürliche Umwelt und ihre Qualität bisher weiter ab.«

Davi Kopenawa , Träger des sogenannten Alternativen Nobelpreises 2019, und seine Mitstreiter kämpfen für den Erhalt des Amazonas Regenwalds. Aber Klimaschutz braucht Menschenrechte, und den Schutz kultureller Vielfalt. Nicht nur Arten, auch Kulturen sind bedroht.

Naturschutz, der Natur schützt

Im Herbst will die Staatengemeinschaft auf der 15. Vertragsstaatenkonferenz der UN-Konvention über die Biologische Vielfalt (CBD COP 15) im chinesischen Kunming darüber beraten, wie Arten und Ökosysteme effektiv geschützt und nachhaltig sowie gerecht genutzt werden können. International forderten im März 2020 Umweltverbände, darunter auch Nabu und BUND, dass die Weltgemeinschaft ein globales Abkommen verabschiedet, das den Verlust der biologischen Vielfalt bis 2030 stoppt und eine Trendumkehr erreicht, sodass sich die Natur langfristig wieder erholen kann. Dazu sollten auf mindestens 30 Prozent der Land- und Meeresfläche hochwertige Schutzgebiete entstehen. Zerstörte Ökosysteme wie Moore, Wälder und artenreiche Wiesen müssten wiederhergestellt werden. Reiche Länder wie Deutschland sollen das notwendige Geld bereitstellen. Und ihre Hausaufgaben machen: Die intensive Landwirtschaft, der Haupttreiber des Artensterbens in Europa, muss naturverträglich werden. Ganz im Sinne der alten indigenen Kulturen in Lateinamerika, in denen der Respekt vor der Natur eine zentrale Rolle spielte. Die Hochachtung vor dem Boden, den Pflanzen, den mit uns lebenden Tieren bietet eine Chance, auch in Kulturlandschaften die natürlichen Lebensgrundlagen zu bewahren. Nur so verwandelt sich Biodiversität nicht in Biodiversitot.

Die Indigenen des Regenwalds engagieren sich für uns

Glücklicherweise wehren sich Menschen in Brasilien gegen das brutale und gesetzeswidrige Vorgehen nationaler wie internationaler Unternehmen – und der eigenen Regierung – in diesem für die ganze Welt so bedeutungsvollen Naturgebiet mit seinen indigenen BewohnerInnen. Davi Kopenawa, der Träger des sogenannten Alternativen Nobelpreises (»Right Livelihood Award«) 2019, ist einer der prominentesten.

»Wir verteidigen den Wald, weil wir ihn lieben!«

– Davi Kopenawa

Der Häuptling der Yanomami kämpft für den Erhalt des Lebensraums seines Indianervolks im Grenzgebiet zwischen Venezuela und Brasilien – und somit für den des Regenwalds. Was man tun kann, um die Yanomami zu unterstützen? Einschlägige NGOs, etwa Survival International, unterstützen und deren Empfehlungen folgen, sich für die Handelspolitik der EU interessieren und entsprechende Handlungen von seinen Abgeordneten verlangen, oder eben auch: beim Lebensmitteleinkauf drauf achten, dass kein Importsoja (aus Brasilien, oder gleich gar keines) verarbeitet oder als Futtermittel eingesetzt wurde. 

Von den geschätzt acht Millionen Tier- und Pflanzenarten weltweit – die meisten sind noch unentdeckt und unerforscht – sind in den nächsten Jahrzehnten bis zu eine Million Arten vom Aussterben bedroht. Lateinamerika gehört zu den artenreichsten Regionen der Welt. Auf dem Kontinent liegen acht der 17 Staaten, die 2002 die Gruppe der Megadiversen Länder gegründet haben. Vielfältige Klimazonen und Naturräume, die von Wäldern, Steppen, Wüsten, den Hochebenen der Anden, Küsten bis hin zu subarktischen Gebieten reichen, beherbergen unzählige Lebewesen und Mikroorganismen. Über die meisten Arten, die wir verlieren, wissen wir Menschen gar nichts, demnach auch nichts von ihrer Rolle im Ökosystem. Besonders reich an Biodiversität ist das tropische Amazonasbecken in Südamerika. Sieben Millionen Quadratkilometer umfasst es, jede zehnte Tier- und Pflanzenart lebt hier. Acht Anrainerstaaten haben am Amazonasregenwald einen Anteil, zu Brasilien gehört der größte. 

»Biodiversitot« von Vreni Häussermann und Michael Schrödl, 2017, Bod (Book on Demand).

Die NGO Survival International bietet unter survivalinternational.de/indigene/yanomami eine Übersicht zu Möglichkeiten, das Volk der Yanomami zu unterstützen.

Lektüretipps:
Das Onlinemagazin amerika21.de
Die Website des
Forschungs- und Dokumentationszentrums Chile-Lateinamerika und im Speziellen deren Factsheets unter »Publikationen«

BIORAMA #66

Dieser Artikel ist im BIORAMA #66 erschienen

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