Buch-Tipp – Das Alphabet der Kindheit (Helge-Ulrike Hyams)

© Hyams: Das Alphabet der Kindheit, Berenberg 2017.

„Das Alphabet der Kindheit“ sei allen Erwachsenen ans Herz gelegt, die keine Ratgeber zur Hand nehmen, trotzdem etwas über Kinder lesen und zudem über ihre eigene Kindheit nachdenken wollen.

Es ist ein Band mit hochwertigem Einband und wunderschönem Cover, dessen Layout ebenfalls gefällt. Die Pädagogin Helge-Ulrike Hyams hat darin Begriffe gesammelt, die sie und vermutlich auch viele Leser mit Kindheit assoziieren, hat diese sorgfältig mit subjektiv-literarischen Inhalten aufgefüllt und nach dem Alphabet geordnet. Die unakademischen Ausführungen sind höchst kurzweilig zu lesen, manchmal vielleicht auch etwas oberflächlich, aber das liegt in der Natur der Sache – ein paar Absätze reichen für eine tiefergehende Abhandlung zu einem Thema nicht aus. Das macht aber nichts, denn laut Hyams ist das Buchprojekt bewusst abseits vom akademischen Diskurs angeseidelt, sie fühle sich vielmehr „einem fließenden Denken verpflichtet, einem Denken, das Wissenschaft und Kunst, Alltagsbeobachtungen und philosophische Erkenntnis beweglich verbindet.“

© Hyams: Das Alphabet der Kindheit, Berenberg 2017.

In der Einleitung schreibt Hyams weiter: „In Wahrheit ist Kindheit niemals ganz gut und nur selten ganz schlecht. Die eigentliche Existenz der Kinder spielt sich in Zwischentönen ab. Sie machen die Musik. Sie durchdringen die Widersprüche des kindlichen Lebens generell. Ja, ich kann Mama und Papa lieben und zugleich auch hassen. Ich kann die Schule mögen und trotzdem lieber schwänzen. Und ja, ich möchte wachsen – aber gleichzeitig doch ganz klein bleiben. Das ist Kinderleben und das ist der Stoff, aus dem Kindheit gestrickt ist: aus Zwischentönen und Widersprüchen. Das macht ihren Zauber aus und das ist der Inhalt des Alphabet der Kindheit.“

So schlage ich als Mutter von Zwillingen zuerst unter dem Buchstaben Z nach und finde auch den gesuchten Begriff. Lese über eineiige Zwillinge, über Kulturen, in denen sie als gutes Omen galten, aber auch über jene, in denen Zwillinge als Boten des Unheimlichen wahrgenommen und manchmal auch getötet wurden. Interessiert lese ich über die besondere Bindung dieser Geschwister. Dann blättere ich ganz nach vorne zum Kapitel übers ABC-Lernen. Da ich beruflich damit konfrontiert bin, interessiert mich auch das, was Hyams über Autismus schreibt, sehr. Und dann blättere ich weiter zu L, und auch über Lehrer hat die Pädagogin einige Seiten geschrieben. Unter anderem zitiert sie Albert Camus‚ berührenden Brief an dessen Volksschullehrer, den der Schriftsteller nach Erhalt des Literaturnobelpreises 1957 verfasst hatte. Der Lehrer hatte sich dafür eingesetzt, dass der im Armenviertel von Algier aufgewachsene Camus in eine höhere Schule wechseln durfte.

© Hyams: Das Alphabet der Kindheit, Berenberg 2017.

Dann stoße ich auf den Begriff Honig. Meine drei Kinder lieben ihr Honigbrot am Morgen. Was könnte es Besseres geben? „Honig: Lieblingsspeise der Bären, der Götter – und der Kinder. Summ! Summ! Summ! Ich frage mich: warum. Das schönste Loblied über Honig hat der englische Dichter Alan Alexander Milne geschieben. Er verstand nicht nur die Sprache der Tiere, sondern auch die wirklichen Sehnsüchte und Begierden der Kinder. Denn der honigsüchtige Pu – ist er nicht ein wirkliches Kind?“

Nach diesen gelungenen Texten beschließe ich, den Band von vorne zu lesen, mir jeden Begriff der Reihe nach vorzunehmen und später bei Bedarf wieder nachzuschlagen. Wenn die Kinder Pippi Langstrumpf lesen, Heimweh fühlen, Schule schwänzen oder in der Pubertät einer Clique angehören wollen. Hyams schreibt über Schokolade, über Tanzen und sich drehen, Luftballons und Kuscheltiere, aber auch über Lügen, Einsamkeit, Quälen und Stehlen. Jedes Kapitel fügt sich perfekt in dieses gesamte Bild von Kindheit, und es ist ein wunderbares Gefühl, anhand dieser gelungenen Texte zurückzublicken. Oder auch an die eigenen Kinder zu denken und zu überlegen, ob sie anders heranwachsen als wir es getan haben – oder in vielen Belangen doch auf ganz ähnliche Art und Weise.

© Hyams: Das Alphabet der Kindheit, Berenberg 2017.

Helge-Ulrike Hyams, geboren 1942 in Neuruppin, war von 1974 bis 2005 Professorin für Erziehungswissenschaften an der Universität Bremen. Sie leitete das Marburger Kindheitsmuseum und begründete eine Sammlung deutsch-jüdischer Kinderbücher (Hyams Collection, Bibliothek des Leo Baeck College in London). Sie ist Psychoanalytikerin und Mutter von vier Kindern, lebt in Marburg/Lahn und im französischen Sainte Marie du Mont.

„Das Alphabet der Kindheit“ von Helge-Ulrike Hyams (Berenberg), 448 S.. Gedruckt in Deutschland (CPI – Clausen & Bosse, Leck). Keine Angabe zur Herkunft des Papiers.

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