Orthorexia Nervosa – Wenn gesunde Ernährung krank macht

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Glutenfrei, Lactosefrei, Clean Eating, Regional, Biologisch … Das sind nur ein paar Dinge, auf die Orthorektiker achten. Wenn die Liste der Dinge, die man nicht essen, darf immer Länger und der Teller immer Leerer wird.

„Mein Sohn, 30 Jahre, war ein muskulöser, getrimmter und fitter 1,80 m großer und 90 kg schwerer Mann. Er hat immer gesund und ausgeglichen gegessen, bis vor einem Jahr als er geradezu besessen von ‚reinem’ Essen wurde. Er verlor viele seiner Freunde wegen dieser Zwangsstörung, dieser puristischen Einstellung und isolierte sich zunehmend,“ schreibt Helen, eine besorgte Mutter, auf der Seite von Steven Bratman. Der US-amerikanische Arzt ist der Erfinder des Begriffs Orthorexia („Ortho“ griechisch für „richtig“ und „Begierde“ bzw. „Sucht“) Nervosa, dem Zwang, sich gesund zu ernähren. Helen schreibt, dass ihr Sohn lange Zeit nicht verstanden hat, dass alle Leute ihn für krank hielten. Seiner Meinung nach machte er alles richtig. Zum Ende hin wog ihr Sohn nur noch 49kg. Da konnte er vor Müdigkeit kaum noch aufrecht sitzen oder einen Arm heben. Dabei empfand er sich nie als zu dünn, gratulierte sich zu seinen Erfolgen. Er war im Begriff, zu sterben.

Das  Orthorexia Essay 1997

Steven Bratman erwähnte „Orthorexia Nervosa“ das erste Mal 1997 in einem Artikel über seine Erfahrungen aus seiner Vergangenheit mit extremen Essensformen im Yoga Journal. Damals, in den 1970er Jahren, lebte er in einer Kommune und war Gemeinschaftskoch. „Jede Kommune hatte ihre Ideale. Unser Ideal war das gesunde Essen“, schreibt Steve Bratman in seinem Essay. Als Koch musste er dafür Sorge tragen, dass Rücksicht auf die Bedürfnisse der einzelnen Mitglieder genommen wurde und bereitete deren Speisen dementsprechend separat zu. Bratman selbst fing an, seine Ernährung zu glorifizieren, aß nur noch absolut hochwertiges Gemüse, biologisch angebaut und höchstens fünfzehn Minuten vor der Zubereitung geerntet. Jeder Bissen wurde sorgfältig fünfzig Mal gekaut, wobei er immer alleine war und sich nie satt essen durfte. Drei zentrale Ereignisse, so berichtet Bratman in seinem Essay, sollten seine spirituelle Reise der Selbstkasteiung beenden. Einer dieser Vorfälle ereignete sich mit seinem Guru, einem lacto-ovo-Vegetarier auf dem besten Wege zum Frutarier, der urplötzlich wieder normale Speisen zu sich nahm. Eine Eingebung hätte ihn in der Nacht davor ereilt. „Anstatt alleine Sprossen zu essen, wäre es besser für mich, ein Stück Pizza mit meinen Freunden zu teilen“, erklärte der Guru dem völlig verdutzten Bratman.

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Orthorexia Nervosa: Krankheit oder nicht?

Steven Bratman isst heute wieder einigermaßen normal, betreibt eine Website auf der er vor Orthorexia Nervosa warnt und verarbeitete seine Erlebnisse mit der Alternativmedizin in der Comic Novelle Holistic Harry. Deswegen erntet er auch regelmäßig Kritik. Nicht nur von Vertretern alternativer Ernährungsformen, sondern auch von der Schulmedizin. Denn Orthorexia Nervosa ist als Essstörung nicht anerkannt. „Orthorexia Nervosa ist keine klinisch klassifizierte Essstörung. Sie ist manchmal aber eine Vorstufe“, erklärt Dr. Lisa Tomaschek-Habrina, Psychotherapeutin und Leitung des medizinischen Ernährungs-Beratungszentrum Sowhat im persönlichen Gespräch. Fälle wie Bratman oder Helens Sohn, der sich übrigens wieder auf dem Weg der Besserung befinden soll, sind eher die Ausnahme. Meistens entwickeln anorektische Personen orthorektisches Verhalten vor, während oder nach Ausbruch der Zwangsstörung. Experten gehen derzeit davon aus, dass ein bis zwei Prozent der deutschen Bevölkerung orthorektische Verhaltensmuster aufweisen.

Neben der Uneinigkeit in Fachkreisen, ob es sich bei Orthorexia Nervosa um eine Krankheit handelt, stellen auch die Patienten selbst ein Teil des Problems dar. „Diese Menschen würden sich nicht krank fühlen. Sie essen doch gesund und würden also überhaupt nicht verstehen, wenn man sie behandeln wollen würde. Ergo haben sie keine Einsicht und auch keinen Leidensdruck.“, antwortet Tomasek-Habrina auf die Frage warum sich kaum reine Orthorektiker in Behandlung befinden.

Dr. Bratman hat im Zuge seiner Arbeit einen Selbsttest entwickelt. Dieser ist nicht nur an Betroffenen sondern auch an besorgte Familienmitglieder gerichtet:

Der Bratman Test für Orthorexie
  • Denken Sie mehr als 3 Stunden am Tag über Ihre Ernährung nach?
  • Planen Sie Ihre Mahlzeiten mehrere Tage im Voraus?
  • Ist Ihnen der ernährungsphysiologische Wert Ihrer Mahlzeit wichtiger als die Freude an deren Verzehr?
  • Hat die Steigerung der angenommenen Lebensmittelqualität zu einer Minderung Ihrer Lebensqualität geführt?
  • Sind Sie in letzter Zeit mit sich strenger geworden?
  • Steigert sich Ihr Selbstwertgefühl durch gesunde Ernährung?
  • Verzichten Sie auf Lebensmittel, die Sie früher gerne gegessen haben, um nun “richtige” Lebensmittel zu essen?
  • Haben Sie durch Ihre Essensgewohnheiten Probleme auszugehen und distanzieren Sie sich dadurch von Freunden und Familie?
  • Fühlen Sie sich schuldig wenn Sie von Ihrer Diät abweichen?
  • Fühlen Sie sich glücklich und unter Kontrolle wenn Sie sich gesund ernähren?

Wenn Sie 4 oder 5 dieser Fragen bejahen, ist es Zeit mehr Gelassenheit in Bezug auf Ihre Ernährung zu zeigen. Wenn Sie alle Fragen bejahen haben Sie bereits eine Besessenheit für gesunde Lebensmittel entwickelt

Quelle: EUFIC – European Food Information Council


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