Der Risiko-Instinkt ist nicht lawinentauglich.

Lawinen, wie auch die Eisbruchgefahr am Gletscher: unser Instinkt trügt uns. (Vallee Blanche, Mont Blanc Gruppe, Foto: Florian Grassl)

Niemand kommt auf die Idee mit 300 Sachen durchs Ortsgebiet zu brettern … … aber es gibt doch immer wieder Leute, die ein irrwitziges Lawinenrisiko eingehen. Kommentar eines Bergsportlers, der sich manchmal nur wundern kann.

Die menschliche Psyche ist komplex, vielen unverständlich und nicht jeder kann ein Psychologe sein. Es ist aber im Ergebnis schon erstaunlich, welche Risiken wir als Menschen bereit sind einzugehen und welche nicht. Noch erstaunlicher ist es, welche Aktivität wir mit welchem Risiko behaftet wahrnehmen oder einschätzen.
Natürlich ist jeder Tote, ganz egal ob durch Autounfall, Flugzeugabsturz, Sportunfall oder eben Lawinenverschüttung einer zu viel, eine für die Betroffenen unbeschreibliche Tragödie, die durch nichts rückgängig zu machen ist. Auch ist es unbestritten, dass viele unverschuldet zu Betroffenen werden. Schließlich gehen wir alle tagtäglich Risiken ein, egal ob wir mit dem Auto fahren, dem Flugzeug fliegen oder Sport betreiben.

Insbesondere das Risiko des Autofahrens scheint gesellschaftlich allgemein akzeptiert, selbst die bekannte Gefahr, die von Rasern ausgeht und daher nicht von einem selbst beeinflussbar ist, hält die meisten nicht davon ab, am Individualverkehr teilzunehmen.

Abfahren, wo man nicht aufgestiegen ist, birgt ein höheres Risiko. Besser, wenn man die Route zumindest von der Ferne beim Aufstieg begutachten kann, die Abfahrt gegenüber lässt natürlich die Herzen höher schlagen (Beim Aufstieg zur Kreuzspitze, Tuxer Alpen, Foto: Florian Grassl)

Sport birgt Risiken
Im Bereich des Sports gibt es eine ganze Reihe an Sportarten mit spezifischen Risiken. Sei es das Absturzrisiko beim Paragleiten, die Dekompressionskrankheit beim Tauchen, der gebrochene Fuss beim Skifahren, der Spaltensturz bei Hochtouren, etc. Manche dieser Sportarten gelten subjektiv wie objektiv als risikoärmer (z.B. Pistenskifahren) oder risikoreicher (z.B. Hochtouren). Allen ist aber gemein, dass wir typischerweise eine ‚Ausbildung‘ für den jeweiligen Sport machen. Egal ob Kinderskikurs oder Tauchschein als Erwachsener, letztendlich beschäftigen wir uns mit dem Sport, welche Gefahren bestehen und wie wir Risiken vermeiden oder auf ein erträgliches Maß reduzieren.
Natürlich kann es jedem passieren, und da nehme ich mich selbst gar nicht aus, dass man trotz Ausbildung mal Dinge falsch einschätzt, mal beim Skifahren einen für einen selbst zu steilen Hang erwischt, beim Tauchen voll Bewunderung des Riffes ein paar Meter tiefer geht als geplant oder auch trotz guter Tourenplanung am Berg vom Wetter überrascht wird. Oft geht das gut, manchmal passiert dann doch etwas und löst mitunter eine der Eingangs beschriebenen Tragödien aus. Letztendlich hat da jeder seine eigene Risikobereitschaft und muss damit umgehen.

Wo der Risiko-Instinkt trügt
Kein Mensch würde ohne Pilotenlizenz ein Flugzeug fliegen. Keiner würde mit 300 Sachen durchs Ortsgebiet fahren. In beiden Fällen haben die meisten Menschen instinktiv ein Gefühl für das zu hohe Risiko. Nicht so beim Einschätzen von Lawinenrisiko, dafür sind die Hänge zu schön, um sie nicht zu befahren, ist der notwendige Verzicht gefühlt zu groß, und das Skifahren selbst beherrscht man ja. Es muss genau daran liegen, dass es jedes Jahr aufs Neue Menschen gibt, die nicht nur Bedingungen falsch einschätzen (die gibt es auch, und da ist kaum einer davor gefeit), sondern objektiv gesehen ein signifikant höheres Risiko eingehen oder ein solches nicht wahrnehmen. Egal ob sie ohne Ausrüstung und Kenntnisse abseits der Piste fahren oder aber auch erfahrenere Tourengeher, die selbst die einfachsten Regeln der Lawinenkunde missachten.

Mit Lawinenrisiko lässt sich umgehen
Vielerorts wird die Lawine gefühlt noch mit einer Gott gegebenen Naturgewalt gleichgesetzt. Historisch ist diese Wahrnehmung begründbar, denn bevor es Wintersport im heutigen Sinne gab, war die primäre Schnee-Gefahr die sogenannte Katastrophenlawine, zuletzt auch durch den Jahrestag der Katastrophe in Galtür wieder in aller Munde. Man konnte sie in der Vergangenheit auch nicht gut einschätzen. Heute lassen sich solche Lawinen gut abschätzen, mit entsprechender Lawinenschutzverbauung, respektive Nicht-Bebauung von gefährdeten Bereichen ist die dadurch begründete Opferzahl auf nahezu Null reduziert. Anders sieht dies bei sogenannten Skifahrer-Lawinen aus, die häufig durch Wintersportler selbst ausgelöst werden.

Dank Werner Munter, dem Begründer der modernen Lawinenkunde und sogenannten Lawinenpapst, steht uns allerdings eine regelbasierte Methodik zur Verfügung, wie wir selbst als Hobbysportler mit entsprechender Ausbildung und etwas Erfahrung das Lawinenrisiko ganz gut einschätzen und damit unser eigenes Risikomanagement am Berg betreiben können. Aus Munters Arbeit haben einige Lawinenexperten unterschiedliche Entscheidungsstrategien weiterentwickelt. Ganz egal in welcher von diesen man die Ausbildung macht, entsprechende Kurse findet man überall in den Alpen und um zumindest die Basics zu verstehen ist das weder ein teures, noch ein wahnsinnig zeitintensives Unterfangen.

Kleine gemischte Lockerschnee-Steinlawine (Beim Aufstieg zum Col du Tour Noir, Mont Blanc Gruppe, Foto: Florian Grassl)

Für den Laien mag Lawinenkunde wie eine Buch mit sieben Siegeln erscheinen. Das Thema würde auch den Rahmen dieses Beitrags sprengen, aber ich möchte ein wie ich denke leicht verständliches Beispiel geben: Die „Elementare Reduktionsmethode“ von Werner Munter beschreibt sehr einfach, ab welcher Hangneigung es bei welcher Lawinengefahren jedenfalls zu gefährlich wird. Konkret, bei z.B.  erheblicher Lawinengefahr (Lawinenwarnstufe 3) geht man jedenfalls ab 35° Steilheit ein signifikant größeres Risiko ein als – vereinfacht gesagt – beim Autofahren. Ob man auf flacheren Hängen gehen/fahren kann, hängt noch von vielen anderen Faktoren ab, die hier zu weit führen würden, der Umkehrschluss, bei flacher als 35° wäre das Risiko vertretbar, ist unzulässig. Aber die Anwendung dieser Regel kann jeder Laie verstehen: die Lawinenwarnstufe checkt man einfach im Internet, die ungefähre Hangneigung lässt sich mit einem Böschungsmaßstab aus der Karte ablesen oder im Gelände leicht feststellen (z.B. haben die meisten Wintersportler 2 Skistecken dabei und damit ein „Neigungsmessgerät“). Man kann also sehr leicht und sehr schnell feststellen, was man keinesfalls tun sollte: z.B. bei einem Dreier in Gelände steiler als 35° gehen oder einfahren.

Bei Gleitschneelawinen geht die komplette Schneedeck ab, sie hat temperaturbedingt keinen Halt mehr am Boden (Beim Aufstieg zum Tiroler Heuberg, Zahmer Kaiser, Foto: Florian Grassl)

Ausrüstung verhindert keine Lawine – Mitdenken schon
In den Medien wird Landauf Landab beinahe täglich davor gewarnt. Die Lawinenwarndienste werden jedes Jahr besser (man schaue sich mal die neue und seit dieser Saison nochmal deutlich verbesserte und erweiterte Arbeit des Lawinenwarndienstes Tirol an). Trotzdem gibt es Leute, die zum Beispiel meinen, bei Lawinenwarnstufe 3 nach extrem starken Schneefall bei viel Wind einen 40° steilen Hang befahren zu müssen. 5° mehr sind 5° zu viel, insbesondere da das Lawinenrisiko nicht linear sondern exponentiell steigt. Und bei den beschriebenen Bedingungen ist es ohnehin nochmal gefährlicher.

Für diese Abfahrt braucht es stabile Bedingungen, aber dann ist sie wunderschön, so man noch einen risikoarmen Einstieg über die Wechte findet (Lämpersberg, Mangfallgebirge, Foto: Florian Grassl)

Dann gibt es noch Medien, die eine Lawinenverschüttung bei derartigen Bedingungen trotzdem wie ein unbeeinflussbares Naturereignis darstellen und noch dazu betonen, dass die Skifahrer „trotz vollständiger Lawinenausrüstung“ ums Leben kamen. Nun, das zeugt primär von Ignoranz der Journalisten dem Thema gegenüber. Denn es gibt keine Ausrüstung, die das Auslösen einer Lawine verhindert. Diese „Ausrüstung“ wäre wenn, dann Hirn, Augen und Ohren. Die Lawinennotfallausrüstung ist keine Präventivausrüstung, sondern hilft nur im Falle des Falles möglichst schnell reagieren und retten zu können.

Mal verschätzen ok – aber grob übertreiben?
Es gibt sehr viele Menschen, sowohl Hobbysportler wie auch professionelle Bergführer, die ein Leben lang mit keinem Lawinenunglück konfrontiert sind. Die haben vermutlich auch ein bisschen Glück, aber insbesondere wenden sie konsequent, wachsam und systematisch die Lawinenkunde und damit ein eigenes Risikomanagement an. Man kann mal Triebschnee oder Durchfeuchtung falsch einschätzen, auch ich selbst war schon in Hängen, wo ich dann dachte, da hätte ich nicht hin sollen. Man erwischt sich selbst mal mit 60 oder vielleicht auch 70 km/h im Ortsgebiet, aber mit 300 Sachen, wirklich? Und danach möglicherweise noch sagen, die Bremsen waren überprüft und ich war ohnehin angeschnallt?

Manchen Bergsportlern fehlt als "Lawinen-Ausrüstung" schlicht das Hirn. Ein Kommentar von Florian Grassl
Über den Autor: Florian Grassl, Skitouren-Instruktor, leidenschaftlicher Bergsportler und Skitourengeher mit Erfahrung in vielen Varianten dieses Sports: klassische Touren, Skihochtouren, Skitourenmarathon, Skidurchquerungen  – das Bergerlebnis steht im Vordergrund, nicht die Schwierigkeit der Tour oder das „I did it“ von schweren, riskanten Hängen oder Rinnen (Foto: Rupert Englmaier)


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