VeganTube: Konstruktiver Diskurs oder Schlachtfeld?

Friede, Freude, veganer Eierkuchen? (Foto: Flickr, Helen Alfvegren, CC BY 2.0)

Wer vegan lebt, muss sich viel Kritik gefallen lassen, wer vegan youtubt noch mehr – nicht nur von Außenstehenden. Seit Jahren zerfleischt sich die vegane YouTube-Community selbst. Manchmal um einander von gefährlichen Irrwegen abzuhalten, manchmal einfach nur, um sich gegenseitig Pseudoveganismus vorzuwerfen. 

Der Begriff Veganismus wurde in den 1940er Jahren geprägt, doch so richtig Fahrtwind hat die vegane Bewegung erst nach der Veröffentlichung von Peter Singers „Die Befreiung der Tiere“ 1975 aufgenommen. Vier Jahre später definierte die britische Vegan Society Veganismus als eine „Philosophie und Lebensart“, die versucht, „so weit wie möglich und praktisch durchführbar, alle Formen der Ausbeutung und Grausamkeiten an Tieren für Essen, Kleidung oder andere Zwecke zu vermeiden und darüber hinaus die Entwicklung tierfreier Alternativen zu fördern.“ Das soll nicht nur Tierleid reduzieren, sondern auch die Ausbreitung von chronischen Krankheiten eindämmen und zum Umweltschutz beitragen.

Das Internet ist ein Ort für Debatten über den einzig wahren Veganismus geworden. (Foto: Flickr, Anonymous9000, CC BY 2.0)

Seit damals ist viel Zeit vergangen. Es gibt heute viele verschiedenen Herangehensweisen an Veganismus und das Internet gibt Einzelpersonen die Möglichkeit ihre Moralvorstellungen und ihre Lebensweise im Alltag öffentlich zu machen. YouTube ist ein besonders beliebtes Tool, um seine ganz persönlichen Veganismus zu verbreiten. Doch mit vielen verschiedenen moralischen Positionen und Praktiken kommt auch viel gegenseitige Kritik zustande. Vor allem Veganer und Veganerinnen mit speziellen Ernährungsweisen, die Gewichtsverlust oder Muskelzunahme versprechen, haben große Anhängerschaften, aber auch viele Gegner und Gegnerinnen auf YouTube. Einige dieser Ansätze stehen hart in der Kritik, weil sie als Vorstufe zu Orthorexie gelten, also der Obsession, sich gesund ernähren zu wollen.

Ich habe mir ein paar Tage lang vegane YouTube-Channels angesehen und bin dabei auf skurrile, aber auch faszinierende Personen mit außergewöhnlichen Herangehensweisen an Veganismus gestoßen. Hier sind einige davon.

Freelee the Bananagirl und ihr Partner Durianrider aus Australien propagieren die sogenannte Raw Till 4-Diät. Das ist eine extrem kohlenhydratreiche Ernährungsweise, bei der man tagsüber nur Rohkost, vor allem in Form von Früchten und erst ab 4h nachmittags Gekochtes zu sich nehmen darf. Salz, Fett und Proteine sollen weitestgehend vermieden werden. Ihre Erklärung dafür: Das Hirn brauche Kohlenhydrate, was stimmt, aber sie ignorieren dabei völlig, dass der Körper nicht nur aus Hirn besteht. Ernährungsexpertin, Erika Lasser-Ginstl verrät mir, dass der Körper Eiweiße brauche, um Muskeln aufzubauen. Fettreduktion sei zwar sinnvoll, aber ungesättigte Fettsäuren seien wichtig für die Aufnahme bestimmter Vitamine. Es ist auch nicht ganz unrichtig, dass beim Kochen ein paar Nährstoffe verloren gehen, daher sollte man seine Diät zwischendurch mit rohen Paradeisern und dergleichen aufpeppen. Aber sich (fast) nur von Rohkost zu ernähren, kann auf die Verdauung schlagen und es bleiben einem viele Lebensmittel verwehrt, die durch das Erhitzen erst genießbar werden; Melanzani zum Beispiel.

Freelee und Durianrider versprechen, dass man mit ihrer Diät so viel essen kann, wie man will, ohne dick zu werden. Sie selbst essen jeweils bis zu 4.000 kcal am Tag, trinken mehr als 4 Liter Wasser und treiben sehr viel Sport, was wahrscheinlich der Grund sein dürfte, warum die beiden so schlank sind. Es ist ziemlich offensichtlich, dass das nicht für jeden so funktionieren kann. Dieser Lebensstil ist äußerst zeitaufwendig und kostenintensiv. Ungesalzene Rohkost wird auf die Dauer einfach fad und es kann nicht jeder so viel essen, ohne dabei zuzunehmen. 4000 kcal sind 4000 kcal, egal ob sie überwiegend aus Kohlenhydraten bestehen oder einer ausgewogenen Mischung aller Nährstoffe.

Die Regeln der Raw Till 4-Diät beruhen nicht auf wissenschaftlichen Daten, aber sie sind im Twitterschreibstil verfasst. Ihre Testimonials sind laut und sexy, sie machen sich über Celebrities mit Gewichtsproblemen lustig und propagieren ein ausgefallenes Wertesystem, wie beispielsweise, dass es unmoralisch sei noch mehr Kinder in die Welt zu setzen. Ihre Anhängerschaft ist relativ groß, aber auch die Anzahl ihrer Kritiker und Kritikerinnen.

Auch für Fully Raw Kristina steht Gewichtskontrolle und Gesundheit im Fokus, Tier- und Umweltschutz bespricht sie nur am Rande. Sie plädiert für Natürlichkeit und Bio. Ein Wort, das sie besonders gern verwendet ist „processed“, also behandelt oder verarbeitet. Sie ist der festen Überzeugung, dass Lebensmittel nur in ihrer natürlichen, unverarbeiteten Form gesund sein können. Man solle beispielsweise kein Mehl verwenden, sondern das unverarbeitete Getreide. Moment, nein, Getreide enthält Gluten und Gluten isst sie nicht. Sie isst auch keinen Zucker oder Salz oder Öl, weil diese Lebensmittel ihrer Meinung nach ungesund sind und chronische Krankheiten auslösen. Als Beweis dafür stellt sie ihren eigenen Körper, der seit über 10 Jahren nur mit Rohkost betrieben wird zur Verfügung. Ernährungsexpertin, Lasser-Ginstl würde sich wundern. Sie hat noch nie davon gehört, dass sich jemand jahrelang so einseitig und nur von Rohkost ernährt und auch der völlige Verzicht auf Salz erscheint ihr nicht sinnvoll. „Das wir in unserer Kultur unser Essen übersalzen ist eine Sache, aber gar kein Salz?“. Das Gedankenschema der Rohköstler und Rohköstlerinnen dürfte lauten: „Zuviel ist ungesund, also verzichten wir gleich ganz darauf.“

Kristinas Glaubenssystem wirkt auf mich ziemlich esoterisch, aber ich kann ihr dafür nicht wirklich böse sein. Sie wirkt so lieb wie ein Kätzchen und ich glaube ihr, dass sie anderen nur helfen will. Doch nach all den Videos, die ich mir im Zuge meiner Recherche ansehen musste, nehme ich ihr ihren Musikgeschmack wirklich übel. Die streichelweiche Happy-Happy-Musik, mit der fast jedes Video unterlegt ist macht einen wahnsinnig.

Vegan Gains geht es um Gesundheit, Fitness, insbesondere Bodybuilding und um den Tierschutz. Er wurde auf YouTube erfolgreich, indem er heftige Kritik an anderen Fitness- und Bodybuildingchannels, die eine sehr fleischlastige Ernährung empfehlen, übte. Der Kanadier bedient sich in seinen Angriffen auf fleischessende Fitnessgurus einer recht vulgären und aggressiven Sprache und manchmal ist nicht ganz klar, wie ernst er das meint. Er ist in seiner Herangehensweise so ziemlich genau das Gegenteil von Fully Raw Kristina, die einen nur sanft aufklären will. Vegan Gains wirkt dagegen regelrecht antagonistisch gegenüber allem, was seinem Wertesystem widerspricht. Doch seine Argumente gegen Fleischkonsum sind fast immer wissenschaftlich gedeckt und seine Tipps können für Menschen, die gern wie große Muskelberge aussehen würden, ohne Tieren damit Schaden zuzufügen, wahrscheinlich ganz nützlich sein.

Unnatural Vegan hat sich darauf spezialisiert andere Veganer und Veganerinnen auf YouTube zu kritisieren. Besonders stört sie die Pseudowissenschaftlichkeit und der Extremismus von High-Carb-Low-Fat- und Rohveganern und Veganerinnen. Sie wirft ihnen immer wieder vor, schädlich für den Veganismus als globale Bewegung zu sein. Den Namen Unnatural Vegan hat sie sich gegeben, weil sie Natürlichkeit für überbewertet hält. Sie hat kein moralisches oder gesundheitliches Problem mit künstlichen Zusatzstoffen oder gentechnisch veränderten Lebensmitteln, sofern diese nicht bewiesenermaßen schädlich für den eigenen Körper, die Umwelt oder Tiere sind. Sie propagiert eine ausbalancierte Diät auf Pflanzenbasis mit Nahrungsergänzungsmitteln für Nährstoffe, wie Vitamin B12 und Eisen, die vegane Diäten oft nur unzureichend bis gar nicht enthalten. Ihre Videos sind sehr wissenschaftlich und informativ, aber auch etwas trocken und sie neigt dazu, sich in akademischen Erläuterungen zu verzetteln und wird dafür in den Kommentarspalten gemobbt – aber wer wird das nicht?

https://youtu.be/Ns6iGc3n38c

A Privileged Vegan spricht oft über ein fehlendes Bewusstsein von YouTube-Veganern und Veganerinnen für ihre Privilegien und falsche Annahmen über Wertesysteme. In dem oben angezeigten Video kritisiert sie beispielsweise weiße Mittelschicht-Veganer und Veganerinnen, die Rassismus und Sexismus als eine Folge von Speziesismus sehen und glauben, dass man jede Form von Unterdrückung beseitigen könnte, wenn nur die ganze Welt vegan würde. Sie macht auch auf Schwierigkeiten für ökonomisch und sozial benachteiligte Menschen aufmerksam, die auf vielen verschiedenen Gründen, nicht so einfach vegan leben können, wie Privilegierte. Sie betreibt einen politischen und ich würde auch sagen philosophischen Veganismus, der sich nicht nur für Tier- und Umweltschutz, sondern auch Menschenrechte und ein erweitertes Bewusstsein für die Grauzonen zwischen Richtig und Falsch einsetzt. Ernährung und Fitness sind bei ihr eher Randthemen, weswegen sie meiner Meinung nach leider viel zu wenig Menschen erreicht.

Viele stellen auf YouTube Veganismus als Wunderdiät dar und behaupten sich von Krankheiten geheilt zu haben, die eigentlich nie bei ihnen diagnostiziert wurden. Andere malen ein nüchterneres Bild und wirken dabei seltsam resignierend. Einige erteilen Ernährungsratschläge, die von professionellen Ernährungswissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen niemals befürwortet würden, andere entlarven diese Ratschläge als aus der Luft gegriffen und pseudowissenschaftlich. Erfahrene Veganer und Veganerinnen wissen, wie sie sich zu ernähren haben, um gesund zu bleiben und welchen Ratschlägen sie vertrauen können, doch wie mögen wohl Außenstehende und Neuankömmlinge die starken Diskrepanzen wahrnehmen, wenn sie solche YouTube-Videos sehen? Sind sie vom Veganismus abgeschreckt? Hat dieser Diskurs auch etwas Positives, der am Ende zu einer veganen Weltrevolution führt? Wir werden sehen. Einstweilen holen wir uns mal das Popcorn mit dem umweltfreundlichen Pflanzenfett aus der Mikrowelle und sehen zu.

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