Umstrittene Straße

Der Kampf um den Ausbau der S8 in den Osten Niederösterreichs bietet alte Gräben und laufend neue Wendungen – eine Bestandsaufnahme.

Der Altarm der March in Markthof mit grüner Umgebung und einem Holzboot.
Der Altarm der March in Markthof, nahe dem Auenreservat Marchegg und dem geplanten Verlauf der S8. Bild: Gerhard Egger/WWF

Wird in Ostösterreich in den letzten Jahren über Umweltschutz und Verkehr gesprochen, sind es wiederholt drei Projekte, die exemplarisch genannt werden: Die dritte Piste am Flughafen Schwechat, der Lobautunnel und der (Aus-)Bau der S8. Wobei mindestens die letzten beiden auch zusammenhängen. Die aktuelle B8 ist Wiens Verbindungsstraße in den Osten und führt aus der Stadt über Gänserndorf bis nach Angern an der March, nahe der slowakischen Grenze. Die S8 würde südlich davon in einem ersten Abschnitt, »S8 West« genannt, bis zur Anschlussstelle Gänserndorf-Obersiebenbrunn verlaufen und anschließend nach Marchegg und zur Staatsgrenze weitergeführt werden. Der Plan des Landes Niederösterreich und der Asfinag lässt sie bei Wien an der ebenfalls nicht finalisierten S1, der Wiener Außenring-Schnellstraße, enden. Der Ausbau der S1, um die 19 Kilometer zwischen Schwechat und Süßenbrunn zu schließen, würde den 8,2 Kilometer langen Lobautunnel benötigen – und offiziell 1,9 Milliarden Euro kosten. KritikerInnen schätzen diese Zahl als zu niedrig ein. Und ohne Ausbau der S1 wäre der Bau der S8 sinnlos.

Unattraktiver öffentlicher Zubringerverkehr

Wolfgang Rehm von Virus – Verein Projektwerkstatt für Umwelt und Soziales ist einer der UmweltschützerInnen, die gegen den Ausbau auftreten. Gemeinsam ist den GegnerInnen neben einer kritischen Hinterfragung der Argumente, die für denDer Ausbau angeführt werden, eine allgemeine Einschätzung: Ist es 2020 wirklich noch wünschenswert, den Autoverkehr durch den Ausbau von Schnellstraßen zu stärken, statt umweltfreundlichere Alternativen anzubieten? Das Marchfeld, um das es hier in erster Linie geht, hat grundsätzlich attraktive Zug- und S-Bahnverbindungen entlang der Hauptrouten. Das Problem ist unter anderem der Zubringerverkehr, der mit einem wenig ausgebauten Busnetz und dessen unattraktiven Fahr- und Intervallzeiten bestritten wird. Gegen den Ausbau der S8 spricht allen voran die solide These, dass ein Ausbau des Straßennetzes grundsätzlich mehr Verkehr auf die Straße bringt statt weniger. Eine solche Entwicklung würde weiter dazu führen, dass das vorhandene öffentliche Verkehrsnetz weniger genutzt und deswegen dann noch weniger gepflegt oder ausgebaut wird.

Der vom Aussterben bedrohte Triel ist im Europaschutzgebiet zuhause und dort einer der letzten seiner Art. Bild: G. Paldan 4nature

Darüber hinaus gibt es im Marchfeld weitere konkrete Gründe, die gegen den Bau der S8 sprechen, wie das Vogelschutzgebiet für den vom Aussterben bedrohten Triel. »Die S8 steht im Konflikt zum vorwiegend für die Vogelart Triel eingerichteten Europaschutzgebiet. Das Bundesverwaltungsgericht hat nach negativer Begutachtung als weiteren Meilenstein den Fachbereich Naturschutz für entscheidungsreif erklärt und das Ermittlungsverfahren geschlossen. Aus jetziger Sicht ist das Einreichprojekt dem Untergang geweiht«, konnte Rehm im Februar 2020 verlautbaren. Mittlerweile ist bekannt, dass das Land Niederösterreich, um diesem Urteil zu begegnen, das Vogelschutzgebiet kurzerhand vergrößert hat, um die S8 eventuell doch bauen zu können. Ein weiteres Naturschutzgebiet ist das WWF-Auenreservat Marchegg, das heuer sein 50-Jahr-Jubiläum feiert und neben vielen anderen Pflanzen- und Tierarten Europas größte auf Bäumen nistende Storchenkolonie beheimatet. Die angedachte Verlängerung der S8 in die Slowakei würde nach derzeitigen Plänen nicht direkt durch das Reservat gehen, die Marchauen – in ihrer Gesamtheit ein Europaschutzgebiet – aber wohl beeinflussen.

Weniger Verkehr offenbar keine Option

Erhoben werden Zahlen für Untersuchungen zu Verkehr und Pendlerinnen unter anderem von Christian Rittler und seinem Ingenieurbüro für Verkehrswesen. Er sieht viele Aussagen zum Verkehr differenziert, kann der These, dass mehr Straßen zu mehr Autoverkehr führen, aber etwas abgewinnen: »Bei einem Ausbau gibt es die gewünschte Verlagerung von niederrangigen zu höherrangigen Verkehrswegen und eine Entlastung der Ortschaften durch weniger Durchzugsverkehr. Die neuen Straßen werden angenommen und der Bedarf an und der Ausbau des öffentlichen Verkehrs könnte sich verlangsamen.«

Zu Neuverkehr kommt es seiner Ansicht nach in erster Linie durch die Ansiedelung von Unternehmen oder auch das Wachstum von Ortschaften. Dass der Ausbau bestimmter Verkehrswege auch bei der Bahn zu mehr Verkehr führt, habe man beim Schnellzug TGV zwischen Paris und Lyon gesehen: »Ein Ausbau hochrangiger Verkehrssysteme in und aus Zentren führt zu einer Stärkung der größeren Zentren und damit zu mehr Verkehr in diese«, erklärt er diesen Effekt. Der Ausbau der Westbahn habe dazu geführt, dass mehr Studierende nicht nach Wien zogen oder auch aus Wien nach St. Pölten und dann pendelten – Verkehr, den es vor dem Ausbau nicht gab. Andere Beispiele sind der Wohnbau im Tullnerfeld (»In zwölf Minuten mit der Bahn ins Zentrum«) oder auch die Verbesserung der Bahnverbindung zwischen Wien und Linz, die zu mehr PendlerInnen und mehr Verkehr führten und führen. Allgemein kommt es zu einem Mehr an Verkehr. Der Ausbau von öffentlichem Verkehr oder Straßen kann aber entscheidend dafür sein, wie umweltschädlich dieser ist. Rittler erwartet in den nächste zehn Jahren durch den geplanten Ausbau des Öffentlichen Verkehrs in Nord- und Ost-Niederösterreich eine (Rück-)Verlagerung hin zu diesem.

Der Ausbau von Verkehrsnetzen kann zu einem höheren Verkehrsaufkommen führen. Die Grafik veranschaulicht die Veränderung der Verkehrsnutzung stadteinwärts nach Wien. Quelle: Ritter Christian (s.Grafik), Bild: istock.com (s.Grafik)

Umstrittene Verkehrsverlagerung

Geplant ist der Ausbau der S8 konkret seit 2007, den Anstoß dazu gab für Wolfgang Rehm eine Gesetzesänderung aus dem Jahr 2002, die Bundesstraßen in die Verwaltung der Länder übergab. Damit muss für die B8 das Land Niederösterreich aufkommen, für die S8 müsste dies der Bund. Rehm unterstützt mit seinem Verein Virus mehrere Bürgerinitiativen, die sich gegen den Ausbau engagieren. Eine davon, die von Rehm selbst mitgegründete Bürgerinitiative Marchfeld hat bereits 2005 viele und massive Mängel am Konzept zum Ausbau der S8 und dessen Überprüfung nicht nur unter Umweltschutzgesichtspunkten festgestellt und eingebracht. Darin geht es unter anderem um das Argument der BaubefürworterInnen, dass die S8 den Verkehr, der nun durch viele Ortschaften direkt geht, verringern und diese Ortschaften entlasten würde. Eine Grafik des WWF auf Basis von Daten der Asfinag zeigt, dass diese Verringerung nur für sechs Orte entlang der jetzigen B8 zu erwarten wäre, während der Autoverkehr in quasi allen umliegenden Ortschaften steigen würde. Rehm: »Untersuchungen des Landes Niederösterreich haben weiters ergeben, dass Umfahrungen zu stärkeren Entlastungen führen würden als der Bau der S8.«

Eine Alternative: Fahrräder und E-Bikes

Auch Jurrien Westerhof, WWF-Programmbereichsleiter March-Thaya-Auen, spricht sich in erster Linie aus allgemeinen Umwelt- und Vogelschutzgründen gegen den Ausbau der S8 aus – konkret betroffen ist der WWF durch sein Naturschutzgebiet. »Ich selbst weiß, wie schwer es derzeit oft ist, öffentlich nach Marchegg zu kommen«, berichtet er. »Die Bahnverbindung zum Bahnhof ist gut, aber danach gibt es zu vielen Uhrzeiten keine oder unattraktive Busverbindungen, die extrem viel Zeit kosten. Wer etwa um 11 Uhr vormittags in Marchegg einen Termin hat und öffentlich anreisen will, muss vier Stunden vorher in Wien aufbrechen.« Als gebürtiger Niederländer bringt er lächelnd das Fahrrad ins Spiel. Die Lösung sieht er unter anderem in der Förderung und dem Ausbau eines Radwegnetzes für Fahrräder und E-Bikes – das einen Bruchteil einer Schnellstraße kostet. Er kalkuliert mit rund 100.000 Euro pro Kilometer beim Radweg, gegenüber mehr als 310 Millionen Euro, die die Asfinag allein für die ersten 14,4 Kilometer der S8 veranschlagt – 21,5 Millionen Euro pro Kilometer und „genug für 3.000 Kilometer Radwege“, so Westerhof.
Das Radfahren ist aktuell in NÖ auch deswegen unattraktiv, weil es gefährlich ist, auf den Landes- und Bundesstraßen zu fahren. Ideal wäre für ihn das Marchfeld in dieser Hinsicht aber auch deswegen, »weil es völlig flach ist«. Das Land Niederösterreich plakatiert sich aktuell an Bahnhöfen als Radland (radland.at) und hat mehr als 30 Rad-Servicestellen eingerichtet. Anfang Juli veröffentlichten Mobilitätslandesrat Ludwig Schleritzko und Tourismuslandesrat Jochen Danninger eine Meldung, in der sie die Stärkung des Radtourismus durch neue Angebote im öffentlichen Verkehr ankündigen. Eine willkommene Entwicklung, die den sanften Tourismus fördern kann. Dass Radfahren eine Möglichkeit wäre, alltägliche Wege zurückzulegen, scheint in dem Bundesland in dem selbst Wege, die in Städten zu Fuß gegangen werden, mit dem Auto gefahren werden, keine Option zu sein.

Als unerwünschtes Szenario bringt Jurrien Westerhof außerdem ins Gespräch, dass ein Ausbau der S8 letztlich eine neue Transitroute bedeuten könnte und mehr LKW aus dem Norden Europas künftig auf dem Weg in den Süden diese ausgebauten Wege nehmen könnten, wenn sie eine entsprechende Zeitersparnis bringen. Auch Rehm sieht diese Möglichkeit, allerdings fehlen dazu, wie er sagt, sowohl auf der slowakischen Seite, die mögliche Verlängerung der S8, als auch nördlich der A5 in Tschechien die entsprechenden konkreten Bauvorhaben. Und er attestiert dem Land Niederösterreich hier wenig Willen zu Austausch und Abstimmung mit etwaigen PartnerInnen, weswegen dieses Bild aktuell eher eine theoretische Möglichkeit ist, als ein Plan, der bald umgesetzt werden könnte.

Wildwuchs beim Wachstum

Ein Hauptproblem ganz allgemein sieht Rehm auch nicht nur in Verkehrswegeentscheidungen, sondern in der fehlenden Planung und Steuerung des Wachstums von Orten wie Gänserndorf oder Deutsch-Wagram. Dieses Wachstum ohne entsprechende Raumplanung und ein umweltfreundliches Verkehrskonzept führt automatisch zu mehr Verkehr. Es steckt die klassische Frage dahinter, ob das Rausziehen aus der Stadt umweltpolitisch erwünscht sein kann. Erst im April hat das Land Niederösterreich eine Studie in Auftrag gegeben, welche Auswirkungen Corona und die Gewöhnung an eine Arbeit im Homeoffice auf den PendlerInnenverkehr haben kann. Ergebnisse sind noch keine bekannt.

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