Straße 816: Ein sentimentaler Fußmarsch

Zu Fuß erkundet Michał Książek den Osten Polens. Seine Wanderung verläuft auf der »Straße 816“ und am Grenzfluss Bug entlang. Seine Wanderreportage schildert das einstige Kommen und Gehen »am Rande der Euro­päischen Union, die von alldem keine Ahnung hat«.

On the road: Unterwegs begegnen Michał Książek ukrainische Zigarettenschmuggler, hinterhältige Denkmäler und die mehrere Meter tiefen Nisthöhlen des Bienenfressers. (Foto: Michał Książek)

Kann man wachen Auges durch die Welt gehen, ohne dabei auch in die Vergangenheit zu blicken? Zumindest nicht, wenn man sich wie Michał Książek als Kulturwissenschafter, Dichter und Ornithologe durchs Leben schlägt, und sich auf eine Wanderung entlang der polnischen Grenze zu Weißrussland und der Ukraine macht – dorthin, wo früher das Großfürstentum Litauen begann. Menschen trifft er dabei nur wenige. Und wenn doch, dann begegnen sie ihm mit Befremden. »Sie können nicht glauben, dass jemand zu Fuß geht«, notiert er irgendwo am Weg in seiner essayistisch ausgefallenen Reisereportage. Wo es keinen Tourismus gibt, nur billige Nächtigungsmöglichkeiten für Handlungsreisende, versteht man nicht, warum dieser Sonderling nicht bei der Arbeit ist und Geld verdient.

Seine sentimental journey führt Książek in einen Landstrich, auf dem gerade die Holzepoche zu Ende geht. Menschen beginnen ihre Häuser, Vögel ihre Nester mit Kunststoff zu bauen. (Foto: Michał Książek)

Wahrscheinlich darf man sich Książek wirklich als einen schrägen Vogel vorstellen. Sollte man über ein solches Unterfangen heute nicht in einem Blog Buch führen? Der Beifall der Daheimgebliebenen wäre gewiss, die Wirkung weitreichender. Nein, der Enddreißiger biedert sich nicht an. Stattdessen setzt er sich der erkundeten Welt voll aus. Unzeitgemäß-unabgelenkt erzeugt sein romantischer Expressionismus so einen poetischen Sog.

Nichts ist dem Wanderer unterwegs nicht Denkmal. Objekte werden zu Wesen, die Geschichten zuflüstern, welche der Autor gleichsam als Oral History einfängt. (Foto: Michał Książek)

Auf göttlichem Schutt gebaut
Die Straße 816, welche die wilde Flusslandschaft des Bugs berührt, führt entlang einer alten Grenze, die Völker und Religionen trennte. »Niemand hat mich jemals darüber unterrichtet in den sieben Schulen und vier Universitäten, die ich besucht habe«, stellt Książek fest als er herausfindet, dass die Straße, auf der er geht, mit dem Schutt von einhundert orthodoxen Gotteshäusern befestigt wurde, welche die katholischen Polen binnen einen Jahres schliffen. Er dekodiert hinterhältige Denkmäler, bewusst aus schnell verwitterndem Sandstein gebaut, um die Gewürdigten bald aus dem Gedächtnis zu löschen. Auch lagen hier die deutschen Vernichtungslager des äußersten Ostens, Sobibór beispielsweise. Solche Wegmarken verhindern, dass der Autor sich ganz in der Gegenwart verliert. Ob Steinhaufen oder Sumpflandschaft – nichts ist hier nicht Denkmal; alles auch Oral History, aufgezeichnet, weil sie der Wald, die Häuser, Kirchen und Weggabelungen eingeflüstert haben. Sie werden handelnde Wesen: Die Dunkelheit säuft den Tag, während es das letzte Licht gerade noch hinter den Horizont schafft. Der Himmel bricht nicht über dem Wald zusammen, weil ihn die Kiefern stützen.

Der Grenzfluss Bug prägte das Leben der Menschen hier ebenso wie die »Straße 816« (Foto: Michał Książek).

Die Welt als Wüstung und Vorstellung
Bei aller Andacht: Vor Verklärung bewahrt den Wanderer sein feines Sensorium. Der Verlust entgeht ihm freilich nicht. Etwa als er beim Anblick eines Pferds meint, dass »vielleicht das Ende der Epoche, die mit der Domestizierung des Pferdes begonnen hatte«, ansteht. Ein paar Tagesmärsche früher vermerkt er: »Im Dorf Uchańka geht gerade die Holzepoche zu Ende«. Was sich wirklich auf alle seine Bewohner auswirkt. Ein Pirol etwa hat sein Nest aus Müll gebaut, »aus Plastikflaschen, Schnüren, Fäden und Lappen. Denn in Zeiten, da sich die Häuser der Menschen ändern, ändern sich auch die Nester der Vögel«.

Abseits der »Straße 816«: Vögel, die letzten Pferde und das Ende der Holzepoche; fotografiert von Michał Książek.

Überhaupt ist die Tierwelt Książek poetisches Referenzuniversum, besonders jene der Vögel. Da herrscht eine »Finsternis wie im Baumloch des Spechts«. Grenzschützer berichten von großen Eulen (»Nachtadler sozusagen, leise wie Geister«). Und in der Luft liegt nicht nur »die schwer zu erklärende Überzeugung, dass hier früher Menschen gelebt hatten«, nein: »Hinter Slawatycze ging man in dieser besonderen Art von Stille, wie sie einige Wochen nach dem Herbsttod der Insekten und Blüten einkehrt«. Andernorts empfindet der Autor »jene Art Stille, die aus der Abwesenheit von Zuchttieren und Menschen resultiert. Man hört das Fehlen von Pferden, Kühen, Schweinen und Hühnern«.
Wo wir an den Texten eines Karl-Markus Gauß den leidenschaftlichen Blick des Ethnologen und Menschenfreund schätzen, da überzeugt uns Michał Książek als beseelter Biologe und Menschenkenner, mit einer rohen, dem Leben abgerungenen schnörkellosen Sprache.

»Straße 816. Eine Wanderung in Polen« von Michał Książek ist im S.Fischer Verlag erschienen, famos übersetzt von Renate Schmidgall. Das polnische Original (»Droga 816«) wurde 2016 mit dem Gdynia Literaturpreis ausgezeichnet.

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