Hildegard, die Kräuterhexe

Hildegard von Bingen ist eine Ikone für vieles und viele. Manches Rezept wird ihr jedenfalls zu Unrecht zugeschrieben. Eine Aufarbeitung mithilfe der Forschergruppe Klostermedizin.

Für Hildegard von Bingen interessieren sich Menschen, die sonst mitunter nicht so viel gemein haben. Für die Katholische Kirche ist sie eine der großen TheologInnen ihrer Geschichte, für die Frauenbewegung des 20. Jahrhunderts eine Ikone der Selbstbestimmtheit und der Durchsetzung in Männerdomänen, und für das, was heute unter »Naturheilkunde« zusammengefasst wird, Inspirations­quelle und posthume Cash-Cow.

Ihre Mystifizierung hat innerhalb und außerhalb der Kirche schon zu Lebzeiten (1098–1179) begonnen und ihre Popularität scheint – seit sie im 20 Jahrhundert von diversen Seiten wiederentdeckt wurde – ungebrochen. Wer war die Frau? »Über die ersten 40 Jahre des Lebens von Hildegard von Bingen ist kaum etwas bekannt», sagt Tobias Niedenthal von der Forschergruppe Klostermedizin in Würzburg. Er sagt aber auch: »Über fast keine Frau des Mittelalters weiß man so viel wie über Hildegard von Bingen.« Die erste Lebenshälfte ist insofern schnell zusammengefasst: 

Das 10. Kind kommt ins Kloster

Hildegard entstammt einer Adelsfamilie in Rheinland-Pfalz. Ab dem Alter von etwa acht Jahren wird sie gemeinsam mit der etwas älteren Jutta von Sponheim von der adeligen Witwe Uda von Göllheim erzogen und lebt auch bei dieser. Als zehntes Kind in ihrer Familie ist für sie – wie damals üblich – ein Leben im Kloster vorgesehen. Mit 14 zieht Hildegard mit Jutta – für die dieser Weg eigentlich nicht familiär vorgesehen war – in eine Klause beim Benediktinerkloster Disibodenberg.

Schon 1790 waren vom Kloster am Disibodenberg nur mehr Ruinen übrig.

Nach Juttas Tod im Jahr 1136, Hildegard war zu diesem Zeitpunkt 38 Jahre alt, übernimmt sie die Klause. Und schon um diese Position zu erreichen, musste sie über einiges Ansehen verfügen und »eine starke Person« gewesen sein, so der Medizinhistoriker Niedenthal. Etwa jetzt beginnen umfassendere Aufzeichnungen und Material von ihr und über sie zu existieren, um 1150 gründet sie ihr eigenes Kloster und im folgenden Jahrzehnt entstehen ihre zwei zentralen natur- und heilkundlichen Werke. 

Nachdem im frühen europäischen Mittelalter durch Seuchen und politische Wirren viele der zuvor bereits bestehenden Organisations­strukturen verschwunden waren, gab es kaum Ärzte oder vergleichbare medizinische Versorgung außerhalb der Volksheilkunde – Niedenthal bezeichnet die Volksheilkunde dieser Zeit vorsichtig als »magisch« – gab es meist nur Klosterheilkunde. Vor allem BenediktinerInnenklöster verfügten (und verfügen bis heute) über eine Krankenstation.

»Es gibt kein ›Fasten nach Hildegard‹.«

– Tobias Niedenthal, Forschergruppe Klostermedizin

Von Bingen hat viele ihrer Erfahrungen und Überlegungen  verschriftlicht und verschriftlichen lassen und dabei auch auf Laienverständlichkeit geachtet. Das Bild von Hildegard von Bingen als krankenpflegende Klostermutter hält Niedenthal allerdings nicht für plausibel – bei Betrachtung ihrer organisatorischen Aufgaben und ihres schriftlichen Outputs habe sie dafür wohl kaum sehr viel Zeit aufwenden können. Und überhaupt hat sich von Bingen nicht in erster 

Tobias Niedenthal beforscht die Geschichte der
Arzneipflanzen in Europa.

Linie mit Naturwissenschaft und dem, was ihre Zeit unter Medizin verstanden hat, beschäftigt, sondern nur auch. Hildegard hat in erster Linie ihre theologischen Visionen festgehalten, nebenbei hat sie aber auch noch Musik komponiert.

»Spannend macht die Frau, was sie Unterschiedliches konnte. Und unüblich war, dass sie als Frau versucht hat, bekannt zu werden, und dass sie es auch war – und zwar wegen ihrer Visionen. Die Natur- und Heilkunde hat auch nach außen keine besondere Bedeutung gehabt«, weiß Niedenthal. Heute kennen Hildegard von Bingen möglicherweise mehr Menschen für ihre natur- und heilkundlichen Überlegungen als für ihre theologischen. 

Woher hatte Hildegard die Medizin? 

Einerseits hat sie – wie alle ihre Zeitgenoss­Innen – auf griechischem Wissen, auf den hippokratischen Lehren, aufgebaut. Das werde an der Bezugnahme auf die vier Körpersäfte und deren Funktionszuschreibungen offensichtlich, so Niedenthal. Sehr medizinisch vorgebildet war sie aber nicht: Weder zitiert sie explizit noch stützt sie sich offensichtlich stark auf Wissen anderer: »Wenn wir nach Schriften und Stellen suchen, wo Hildegard abgeschrieben haben könnte, finden wir wenige Vorbilder.« Betrachtet man etwa die »Physica«, auch »Liber simplicis medicinae«, eines ihrer beiden Hauptwerke, und vergleicht es mit den Schulbüchern Hildegards, wird Niedenthal zufolge augenfällig: »Die Stichwörter und Begriffe hat von Bingen aus ihrem Schulbuch, aber die Texte stammen von ihr. Das unterstreicht schon ihre Originalität.«

Zur Terminologie: Hildegard hat sich mit »Natur- und Heilkunde« befasst. Die »Naturheilkunde« entstand erst im 19. Jahrhundert und zeichnete sich teils durch extreme Medizinfeindlichkeit aus.

Vielleicht gerade jene, die an die göttlichen Eingebungen von Hildegards Medizinwissen (der Arzt Hertzka hat sie posthum als »die Sekretärin des heiligen Geistes« bezeichnet) glauben, zeigen sich beeindruckt vom beachtlichen Umfang ihres Wissens über Pflanzen und die Indikationen für deren Verwendung. Niedenthal kann sich das in etwa so erklären: »Sie hatte eine Grundbildung und sie hat ihr eigenes Erfahrungswissen und das ihrer Umgebung zusammengefügt. Das würde auch erklären, warum sie Pflanzen teilweise ganz anders einsetzt als andere ihrer Zeit. Aber Definitives lässt sich hier nicht sagen.«

Nach einem Beispiel für Hildegards Pflanzenwissen gefragt, erwähnt Niedenthal den Ingwer. »Da war sie gut. Den hat sie damals schon wie zuvor schon die Römer aus Asien importiert. Sie schätzte ihn bei Erkältungskrankheiten oder bei Magenverstimmungen.«

Und wo hat Hildegard ordentlich danebengehaut? Niedenthal hat auch das parat. Sie habe das Johanniskraut als nutzlos bezeichnet, und es setzt dem entgegen: »Heute gibt es kaum eine anerkanntere Pflanze als das Johanniskraut.« Weißdorn war für von Bingen gar Unkraut.

Benediktinerinnenschriften über Sex

Auch ihre schriftliche Beschäftigung mit und ihr Detailwissen über die menschliche Sexualität und Lust war für Ihre Zeit – und für eine Ordensfrau – durchaus ungewöhnlich. 

Niedenthals 2019 verstorbener Kollege, der ehemalige Leiter der Forschergruppe Klostermedizin, Gottfried Mayer, hat sich 2010 gar in einem Interview mit dem »Spiegel« gewundert, warum die Heilige Hildegard für ihre Niederschriften zu Libido und weiblichen Körperfunktionen nicht als Ketzerin verbrannt wurde. 

»Vom Wacholder: Der Wacholder ist mehr warm als kalt und bezeichnet das Übermaß. Nimm daher von seiner Frucht und koche sie im Wasser, und seihe das Wasser durch ein Tuch, dann gib diesem Wasser Honig bei und etwas Essig und Süßholz und weniger Ingwer als Süßholz.«

– Der Beginn eines Rezepts zum Mildern von Brust-, und Lungen- und Leberbeschwerden in den Abschriften von »Physica«, einem der bekanntesten Werke von Hildegard von Bingen.

Niedenthal wiederum sieht hier ein Missverständnis, denn erstens habe es Hexenverbrennungen zu dieser Zeit keine gegeben: »Die Scheiterhaufen für Hexen gab es im 16. und 17 Jahrhundert und zwar aus anderen Gründen«, und zweitens sei sie von einer Ketzerin »weit entfernt« gewesen.

Eine Vorstellung davon, wie Hildegard von Bingen ausgesehen hat, bekommen wir laut Niedenthal am ehesten durch diese Abbildung, die sie zeigt, als sie eine göttliche Inspiration empfängt. Erhalten ist die Abbildung nur als Fotografie, das Original ist seit dem Zweiten Weltkrieg verschwunden.

Hildegard, die starke

Taugt Hildegard als feministisches Vorbild? Reicht es möglicherweise fürs dunkle Mittelalter schon, Bücher zu hinterlassen und bei anderen schriftlich erwähnt zu werden, um als Projektionsfläche für feministische Ikonensuche herhalten zu müssen? Womöglich zu Recht, denn allein das ist nur möglich durch ein Frauen damals eigentlich nicht zugestandenes und vor allem nicht zugeordnetes Verhalten. Die polnisch-französische Ärztin Mélanie Lipinska (1865–1933) war es jedenfalls, die auf ihrer Suche nach Frauen, die die Medizingeschichte geprägt haben, Hildegard zu einer Rolle in der Frauenbewegung des 20. Jahrhunderts verhalf. 

Niedenthal hält dazu trocken fest: »Wenn man mich nach der Frau fragen würde, die im Mittelalter lebend, die Medizin am stärksten und nachhaltigsten geprägt hat, würde ich Trota von Salerno nennen.« Die Ärztin war Mitte des 12. Jahrhunderts Mitglied der Medizinischen Fakultät – einer der ersten ihrer Art in Europa – des langobardischen Fürstentums Salerno. Ihre Werke waren bis ins 16. Jahrhundert die Standardwerke der Gynäkologie. »Wir kennen ihr einflussreiches Werk, nur über sie als Person wissen wir nichts. Da ist Hildegard im Vergleich leider geeigneter als Symbol.«

»Über fast keine Frau des Mittelalters weiß man so viel wie über Hildegard von Bingen.«

– Tobias Niedenthal, Forschergruppe Klostermedizin

An dieser Symbolwerdung wurde schon zu Hildegards Lebzeiten erfolgreich gearbeitet: »Noch vor Hildegards Tod hat ihre Mystifizierung begonnen, ihre Ordensschwestern wollten sie möglichst schnell heiligsprechen lassen. Hauptsächlich wegen der Visionen.« Denn für diese war von Bingen geachtet und verehrt. 

Die Beachtung der medizinischen Werke hingegen hat erst im 20 Jhdt. begonnen. Im 16. Jahrhundert seien auch die nicht-theologischen Schriften Hildegards neu aufgelegt worden, aber, so Niedenthal: »Damals wurde quasi alles gedruckt, was da war«, dieser Teil ihres Werks habe kaum LeserInnenschaft gefunden. 

Auch was Hildegards Bildungsstand angeht, ranken sich gegensätzliche Mythen um sie: Einerseits der der Adeligen, die hochgebildet war und ihr gesamtes Leben lang vor allem gelesen und geschrieben hat. Andererseits das der ungebildeten (in manche Quellen bezeichnen sie als Analphabetin) Autodidaktin, die tagein, tagaus Kranke durch Wissen, das sie durch göttliche Visionen erfahren hat, versorgte. 

Beides ist nicht nur unplausibel, sondern auch nachweislich falsch: Sie hat einerseits selbst Bücher und Briefe geschrieben und nebenbei auch noch Lieder komponiert, andererseits kann man ihren Werken laut Niedenthal entnehmen, dass sie mit der Standardliteratur ihrer Zeit nur sehr bedingt vertraut war. 

Niedenthal erinnert darüber hinaus daran, dass in den Klöstern grundsätzlich nur Adelige lebten, die dort eine recht gute Allgemeinbildung erhielten. »Sie war nicht hochgebildet, aber auch nicht ungebildet«, erklärt er, heute würde man sagen: »Sie hat schon ihre Matura gemacht.«

»Hildegard-Medizin«: Wer hat’s erfunden? 

Der Salzburger Arzt Gottfried Hertzka glaubte an die visionäre Herkunft der Erkenntnisse der Hildegard von Bingen und begann in den 1960er-Jahren gemeinsam mit dem Apotheker Max Breindl auf Basis von Bingens’ medizinischern Schriften Rezepturen zu entwickeln. In den 70ern warb er für deren Anwendung und prägte den Begriff »Hildegard-Medizin«. Er gilt insofern als Erfinder des vielfach als ausufernd kritisierten Marketings mit der Figur Hildegard von Bingen. Niedenthal ergänzt: »Sie wurde zwar schon vorher wiederentdeckt – nicht zuletzt durch die Frauenbewegung –, aber dass sie in der Heilkunde so populär geworden ist, ist maßgeblich Herztka zu verdanken.« 

Den Zenit des Booms der Hildegard-Produkte verortet der Forscher in den 1990ern: »Es hat ein bisschen nachgelassen, es ist vielleicht auch nicht mehr ganz so populär, weil es mit ›katholisch‹ und ›religiös‹ verbunden wird. Bei Veranstaltungen und Vorträgen haben wir jedenfalls ein recht gealtertes Publikum.«

»Wenn Produkte als Hildegard-Empfehlungen vermarktet werden, die mit ihr nichts zu tun haben, ist das KonsumentInnentäuschung und insofern moralisch verwerflich.«

– Tobias Niedenthal, Forschergruppe Klostermedizin

Etikettenschwindel

Hildegard-Fastenkur, Nahrungsergänzungsmittel, Hustensaft, Gewürzmischungen – unzählige Produkte werden mit ihrem Namen und stilisiertem Konterfei beworben. Und das oft, wenn gar keine entsprechenden Rezepte und Verhaltensempfehlungen in Hildegards überlieferten Schriften zu finden sind. Aber ist das denn ein Problem? 

Ja, sagt Niedenthal. »Wenn Rezepturen und Verhaltensratschläge zugeordnet werden, die nichts mit ihr zu tun haben, ist das VerbraucherInnentäuschung und allenfalls sogar Betrug.« Ein Extrembeispiel sind hier Rezepturen, die Pflanzen beinhalten, die in Europa nicht heimisch waren, sondern in Amerika und insofern frühestens 1492 – 300 Jahre nach dem Tod Hildegards von Bingen – nach Europa gelangt sein konnten. Doch das Werben mit Hildegard von Bingen unterliegt keinerlei Einschränkungen.

»Ich kann ja jederzeit hergehen und ein Nahrungsergänzungsmittel herstellen und sagen ›das ist original Hildegard‹. Es kann mich keiner verklagen.« Wer drauf Wert legt, dass Rezepturen und Verhaltensregeln den Eingebungen und dem Erfahrungswissen von Hildegard von Bingen entsprechen, dem wird zum Teil nichts anderes übrig bleiben, als das in den überlieferten Texten der Hildegard von Bingen zu überprüfen. 

Zwei Hinweise gibt Niedenthal aber noch mit. »Es gibt kein ›Fasten nach Hildegard‹! Sie habe als Nonne natürlich auch gefastet, es gebe aber überhaupt keinen Hinweis darauf, dass sie dem eine medizinische Bedeutung zugewiesen hätte. »Im Gegenteil, sie hat gesagt, man soll’s nicht übertreiben.« 

Traditionell europäisch

Ein wenig neuen Aufschwung erfährt die Hildegard-Medizin derzeit wieder im Fahrwasser der sogenannten Traditionellen Europäischen Medizin. Für die TEM gibt es Niedenthal zufolge  aber wiederum noch keine auch nur halbwegs klare Definition, was sie umschließt: »Gehört die Homöopathie rein, gehört Rudolf Steiners Anthroposophie rein? Eine Idee war, die Medizin vor der Jahrhundertwende 1800 reinzunehmen, in erster Linie die Säftelehre, die auch Hildegard als Grundlage verwendete, und daneben die eigentliche Naturheilkunde, die im 19. Jahrhundert als komplett arzneimittelfreie Medizin entstanden ist. Ein später Vertreter hierfür ist Kneipp, bei dem auch Heilpflanzen wieder eine Rolle spielen. Die Debatte dauert jedoch noch an.« 

VERWANDTE ARTIKEL