Rezension »Gebrauchsanweisung fürs Zugreisen«

Martin Zellhofers Rezension von Jaroslav Rudiš »Gebrauchsanweisung fürs Zugreisen«.

Bild: unsplash/austin smart
Bild: unsplash/austin smart

Jaroslav Rudiš ist die Liebe zur Eisenbahn in die Wiege gelegt worden. Beeinflusst von den Eisenbahnern der Familie, wollte schon Klein-Jaroslav Lokführer werden. Die zu tragende Brille machte früh klar, dass das nichts wird. Seitdem tröstet er sich mit einer Modelleisenbahn, einschlägigen Fachzeitschriften, dem Fotografieren von Zügen, dem Studium von Fahrplänen, einer Wohnung mit direktem Blick auf eine Eisenbahnstrecke – und Bahn fahren, fahren, fahren. Derart gerüstet fällt es ihm leicht, eine Hommage an »die Eisenbahn« zu verfassen.

Rudiš nimmt uns in seinem Buch unter anderem auf die Strecke Prag – Dresden, nach Belgien und Finnland und auf einen 2600 Kilometer langen 40-Stunden-Marathon mit 14 Zügen durch Deutschland mit. Er folgt den Spuren des Soldaten Svejk auf seinem Weg in den Ersten Weltkrieg über Prag, Tábor, Bruck an der Leitha und Sanok per Bahn, bereist die Gebirgseisenbahnen durch das Semmeringgebiet und das Gotthardmassiv, versorgt uns mit Infos über Tunnellängen, Kehren und Streckensteigungen und kommentiert die Gotthardfahrt anhand eines Baedekerreiseführer aus 1920. Er erzählt über Lokführer, beobachtet Reisende, beschreibt Strecken und Landschaften vorm Fenster, erläutert Kultur und Geschichte der durchfahrenen Gegenden und gibt Tipps, wo man vom Zug aus was sehen kann. Wer etwa an der Italienischen Riviera unterwegs ist, sollte Richtung Süden für den perfekten Blick aufs Meer in Fahrtrichtung rechts sitzen. Und wenn möglich mögen zumindest müßige Reisende moderne Hochleistungsstrecken meiden. Da kommt man zwar rasch voran, sieht aber wenig. Immer wieder lenkt der Autor den Blick auf Details, die der moderne Mensch wohl nicht für wichtig hält, wie alte Bahnhofsuhren oder Kursbücher. Kursbücher? Das sind meist dicke Bücher mit dünnem Papier, in denen alle Züge und Strecken eines Landes inklusive internationaler Verbindungen verzeichnet sind. 

»So viele Züge. So viele Möglichkeiten.«

Rudiš beschreibt die Lockungen, die Abfahrtstafeln auf ihn ausüben, erwähnt Romane, Lieder und Filme, die sich um die Eisenbahn drehen, widmet sich den Nebenbahnen und erzählt von Brillenschlangen und Taucherbrillen, Adlern und Krokodilen, Ludmillas und Taigatrommeln. Was das sein soll? Die Spitznamen von Lokomotiven. Ein eigenes Kapitel widmet sich dem Speisewagen (wobei der zwischen Wien und Ljubljana pendelnde in der Gunst des Autors einen besonderen Stellenwert einnimmt) und den dortigen kulinarischen Genüssen. Ein anderes beschreibt die Bahnhofsbuffets und -restaurants, mit etlichen Empfehlungen europaweit. Immer wieder schwingt in Rudiš‘ Texten Melancholie mit, wenn er zum Beispiel feststellt, dass sich Strecken früher der Natur anpassten, heutige Neubaustrecken das aber nicht tun. Oder dass die Züge, bei denen man die Fenster öffnen kann, um den Kopf (mit Bedacht!) in den Fahrtwind halten zu können, immer seltener werden und junge Menschen das heute kaum noch erleben können. 

Jaroslav Rudiš gelingt ein beeindruckendes Plädoyer für das Fahren mit dem Zug, eine großartige Aufforderung, »die Bahn« mit allen Sinnen zu nutzen. In einem sympathischen Plauderton entfächert er seine Geschichten und Berichte, gespickt mit historischen, kulturellen und geographischen Fakten und persönlichen Anekdoten. Nie überfordernd, immer abwechslungsreich, vielfältig wie die Welt der Eisenbahn. Wer die Seele der Eisenbahn ergründen will, wird hier fündig. Was allerdings fehlt, ist eine Gebrauchsanweisung, was zu tun wäre, wenn wieder einmal ein Zug ausfällt, der Fahrpreis steigt oder eine Strecke eingestellt wird. Aber das ist eine andere Geschichte …