Warum es Flüchtlinge in Städte zieht

Bild: Flickr, Josh Zakary, CC BY-SA 2.0

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Flüchtlingslager bleiben leer weil es Flüchtende vor allem in Großstädte zieht. Dafür gibt es gute Gründe. Städte sollten sich darauf einstellen.

Banu Sultan* kam im Herbst gemeinsam mit Tausenden anderen syrischen Flüchtlingen in Österreich an. In Wien, hat sie sich registrieren lassen. Wie die meisten anderen syrischen Flüchtlinge, entschloss sie sich, die großen Flüchtlingslager der UNHCR zu meiden und in einer europäischen Stadt ihr Glück zu versuchen. Alleine, ohne Mann, Kind oder andere Familienmitglieder. Von der Flucht erschöpft, hat sich nach kurzem Zögern und obwohl das eigentlich nicht geplant war für Wien entschieden und ihren Asylantrag in Österreich gestellt. Dabei begegnete sie unterschiedlichsten Menschen, die sich bemüht zeigten, ihr neue Perspektiven in der Stadt an der Donau zu eröffnen.

Städte sind Orte mit verdichteten sozialen Strukturen. Hier laufen auch die Dienste und Aufgaben unterschiedlicher Einrichtungen zusammen; alle Tätigkeiten die für den Grenzübertritt an Grenzposten vorgesehen sind, können auch auf städtischem Boden durchgeführt werden. Im Fall großer Zahlen an Flüchtlingen wird der Erkennungsdienst durch Erstversorgung, Registrierung, sowie Organisation von Weiterreise und Organisation von Schlafunterkünfte ergänzt. Dabei sind in der jüngeren Vergangenheit einige europäische Städte an die Grenzen ihrer Handlungsfähigkeit gestoßen. Wenig überraschend haben die gestiegenen Flüchtlingszahlen, vor allem in Kleinstädten entlang der Hauptrouten, bei Rückstau teilweise zu einer Verdopplung der Einwohner in Kleinstädten geführt. Was im Jahr 2014 für die sizilianische Stadt Agrigent galt, wurde im Sommer 2015 zum Beispiel Mytilini, die Hauptstadt Lesbos‘ ungeahnte Realität. Wegen der verdichteten Strukturen und der Unterstützung aus der Zivilbevölkerung hat sich dort eine gewisse Routine bei der Bewältigung des Flüchtlingsandrangs ergeben. Griechische, italienische und spanische Seefahrer und ihre Familien in den Küstenstädten wurden so zu bedeutenden Akteuren in der Flüchtlingsdebatte. Genau so wie wie junge deutsche und österreichische Menschen mit Migrationshintergrund, die ihre Arabischkenntnisse nutzen, um in Aufnahmezentren und andernorts zu dolmetschen.

Bild: Flickr, Takver, CC BY-SA 2.0

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Diversität zieht an

In allen Regionen dieser Erde – und nicht erst seit den Unruhen und Kriegen in der arabischen Welt – bestätigt sich der Trend, dass Flüchtlinge ihr Glück in Städten suchen. Sechzig Prozent aller sich auf der Flucht befindenden Menschen halten sich aktuell in Städten auf – Tendenz steigend. Städte sind das attraktivste Ziel für Flüchtlinge und die Situation in Flüchtlingscamps spiegelt das wieder: Im neu errichteten jordanischen Azraq Camp lebten Anfang 2015 nur 15.000 Menschen. Die Zeltstadt ist eigentlich für über 80.000 Personen ausgelegt. Gleichzeitig halten sich auch weiterhin Millionen Flüchtlinge insbesondere in Syriens nördlichen Nachbarstaaten auf; aber eben nicht in den teuer finanzierten Flüchtlingslagern der UNHCR. Wer im Azraq Camp ankommt, will alsbald möglich weiter in eine Großstadt.

Das britische Overseas Development Institute, eine Denkfabrik für Migration und Flucht, nennt neben ökonomischen Perspektiven andere Beweggründe, eine Großstadt als Fluchtziel zu wählen. Städte bieten ein größeres und besser gestricktes soziales Auffangnetz. Städte gewähren mehr Anonymität und erhöhen so das Schutzempfinden. Außerdem gilt: Wer in die Stadt flüchtet, profitiert von einem vergleichsweise besseren Zugang zu bürokratischen und sozialen Diensten. Das Asylverfahren wird hier abgewickelt, es gibt Sprachkurse, Kindergärten und Schulen. Durch die höheren absoluten Aufnahmezahlen in Städten und die meist hohe Diversität der Gemeinschaften vor Ort lassen sich schnell wichtige Kontakte zu anderen Mitgliedern der Exil-Community knüpfen.

Europäische Städte müssen sich nun neu beweisen

Tatsächlich werden die meisten Dienstleistungen für Flüchtende auch in Flüchtlingslagern angeboten – aber eben verbunden mit Untätigkeit und Abhängigkeit. Für Personen, die darauf erpicht sind, ihrem Leben und ihren Familien eine zweite Chance zu geben, ein oft mühsames Konstrukt. Vielleicht sollten wir daher unseren Umgang mit Flüchtlingen und unsere humanitären Grundsätze neu überdenken. Macht es Sinn, perspektivlose Flüchtlingslager fern der urbanen Realitäten zu errichten? Weltweit leben derzeit Millionen Menschen in Flüchtlings- und Aufnahmezentren in- und außerhalb Europas. Abgeschottet von der Außenwelt stehen sie in den großen zentralasiatischen Ebenen als Satelliten im nirgendwo oder ausgestattet mit Hochsicherheitstechnik in den städtischen Randbezirken Europas. Viele dieser Camps funktionieren bereits heute als Städte; sie haben ihre eigene Dynamik, ihr eigenes Netzwerk, und ihre eigene Wirtschaft. Der Unterschied liegt in der Abwesenheit von Perspektive.

UNHCR Azraq refugee camp, Jordan at dusk showing the solar powered street lamps in Village 3.

UNHCR Azraq Flüchtlingslager, Jordanien.

Stadtentwicklung als Flüchtlingspolitik

Es kommt einem Paradigmenwechsel, vielleicht einer Utopie gleich, finanzielle Beiträge für Flüchtlingshilfe in den nachhaltigen und langfristigen Ausbau, die Weiterentwicklung und Vergrößerung der ohnehin vorhandenen städtischen Strukturen zu investieren. In einer idealisierten Vorstellung werden Flüchtlinge von Bittstellern zu Entwicklungsmotoren für die weitgehend flexiblen und dynamisch agierenden Städten. Sie alle haben in den vergangenen Jahren bewiesen, wie rasch sie auf schnell wachsende Bevölkerungszahlen reagieren können und vermitteln dabei eine Normalität, die den Menschen eine Perspektive gibt. Eine Normalität, die Flüchtlingslager und Aufnahmezentren nie haben können.

Unmittelbar nach ihrer Ankunft in Wien haben wir Banu unter hunderttausenden Menschen am Wiener Heldenplatz getroffen. Banu, die in Syrien ein Restaurant mit über 20 Mitarbeitern geleitet hat, beginnt nun ihr neues Umfeld kennen zu lernen, träumt bereits von einem Neuanfang als Gastronomin. Wien, die Stadt an der Donau wird ihr neuer Referenzpunkt werden und dabei helfen, das Erlebte zu verarbeiten. Hier wird sie voraussichtlich für die nächsten Jahre ihr Leben leben und für eine Zukunft mit Perspektive kämpfen. Wer könnte das in einem Flüchtlingscamp?

*Der Name wurde von der Redaktion geändert.

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