Mit den Ohren lesen

(c) Komm mit in den Wald, Ravensburger Verlag

(c) Komm mit in den Wald, Ravensburger

Kann das gute alte Buch für sich allein denn nicht mehr bestehen? Der Inhalt bereits zahlreicher Bilderbücher wurde vertont, und LeYo!, TING und tiptoi® sind jene Tools, die interaktives Lesen – ein neues Lesevergnügen – ermöglichen sollen. Es ist nicht zu bestreiten, dass sich das Mediennutzungsverhalten kontinuierlich verändert, aber benötigen unsere Kinder infolgedessen wirklich zusätzliche Werkzeuge, um Bilderbücher anzuschauen? Werden die erwachsenen VorleserInnen bald überflüssig sein?

Fragen über Fragen stehen im Raum, wenn einer der Audiostifte aktiviert oder die kostenlose LeYo!-App auf das Smartphone oder Tablet geladen wird. Zuerst einmal staunt man, wie das alles überhaupt funktionieren kann. Man tippt mit einer Stiftspitze auf ein Bild oder hält eine Kamera über einen beliebigen Seitenausschnitt – und schon erzählt eine Stimme die passenden Inhalte. Das Buch alleine ist plötzlich zu wenig. Hier die technische Erklärung: Auf den Buchseiten befinden sich Codes, die mithilfe eines Scanners erfasst werden müssen, damit anschließend dazugehörige Audiodateien abgespielt werden können. Und die vielen Fragen zur Notwendigkeit solcher Technologien? Brauchen Kinder diese Stimmen aus dem Off tatsächlich, damit das Lesen von Büchern zum Vergnügen wird?

Tessloff Verlag

Tessloff Verlag

Der TING-Hörstift ist einer der verfügbaren digitalen Lesestifte. Er hat den Vorteil, verlagsübergreifend einsetzbar zu sein, über zwei Dutzend Verlage machen bereits bei TING mit. Auch für Erwachsene gibt es zahlreiche Titel, hier überwiegt das Sortiment für das Sprachenlernen. Für diese Rezension habe ich zwei Bücher für Kinder ausgewählt: „Mein tierisch tolles Bildwörterbuch Englisch“ und das Sachbuch „Was ist was Junior – Erlebe die Natur!“. Die Aktivierung des Stiftes ist keine große Sache. Sind die Dateien eines Buches noch nicht auf dem Hörstift gespeichert, so muss man ihn mittels Mini-USB-Anschluss mit dem PC verbinden. Das Programm, mit dem die Dateien geladen werden, öffnet sich automatisch. Im jeweiligen Buch werden nach dem Berühren eines Aktivierungscodes die richtigen Audiodateien abgespielt.

(c) Langenscheidt

(c) Langenscheidt

„Mein tierisch tolles Bildwörterbuch Englisch“ begeistert mich nicht nur aufgrund der wundervollen Illustrationen. Hier macht auch der Einsatz eines Audiostiftes Sinn. Das Buch ist in unterschiedliche Themenkomplexe gegliedert. Anstatt langweiliger Bilder sind bunte Szenen abgebildet, die interssante Gespräche anleiten können und erzählt werden wollen, obendrein haben sie klingende Titel wie „Concert at the zoo“, „Who’s playing on the Nile?“, „Cloud pictures“ oder „Night time at the edge of the woods“. Im Gegensatz zu herkömmlichen Bildwörterbüchern, die bei bloßer Betrachtung wenig Lerneffekt erzielen können, macht der TING-Stift die Wörter hörbar: auf Englisch, auf Deutsch oder in beiden Sprachen nacheinander gesprochen. Auch interaktive Spiele bietet dieses Buch. Das gefällt!

(c) Tessloff Verlag

(c) Tessloff Verlag

„Was ist was Junior – Erlebe die Natur!“ ist ein Sachbuch mit kurzen, informativen Texten und Entdeckerklappen, das auch ohne TING-Stift gut zu verwenden ist. Die Mitmachtipps laden zum Aktivwerden ein, so erfährt man etwa, wie man Wassertiere bestimmen, ein Herbarium anlegen oder einen Abdruck von Borkenkäfergängen machen kann. In Kombination mit dem Hörstift wird das Erlebnis mit echten Naturgeräuschen und Erklärungen zu Wald, Wiese und Teich bereichert. Positiv hervorzuheben ist, dass es Kinder sind, die die Texte sprechen. Ein schönes Buch, das Lust macht, die Vielfalt der Natur zu entdecken.

„TING smart – Der Hörstift“ kann über den Tessloff-Verlag bezogen werden.

„Was ist was Junior – Erlebe die Natur“ von Sabine Stauber, Claudia Kaiser und Martin Lickleder ist im Tessloff-Verlag erschienen. 26 Seiten. Für Kinder ab 5 Jahren.

„Mein tierisch tolles Bildwörterbuch Englisch“ von Gila Hoppenstedt und Ina Worms ist im Langenscheidt-Verlag erschienen. 64 Seiten. Für Kinder ab 3 Jahren.

(c) Tessloff Verlag

(c) Was ist was Junior – Erlebe die Natur, Tessloff Verlag

Der tiptoi®-Stift funktioniert ausschließlich mit Ravensburger-Produkten, die für Kinder – vorwiegend im Vorschul- und Grundschulalter – konzipiert sind. Der Verlag bezeichnet die Reihe als innovatives Lernsystem, mithilfe dessen die Kinder die Welt spielerisch entdecken können. Die beiden Bücher, die ich getestet habe, lassen den Willen zur Innovation erkennen. Ohne tiptoi®-Stift hat man eher fade Bilderbücher mit kurzen Textpassagen vor sich, mit dem Audiostift eröffnen sich aber völlig neue Perspektiven: Es ertönen zu den Bildern passende Geräusche, Erklärungen oder Musik, auch Spielanleitungen werden geboten. Jeder kann seine Erlebnisse mit dem Thema selbst steuern, jedes Mal wird der Ablauf ein anderer sein.

(c) Ravensburger

(c) Ravensburger

Im Buch „Komm mit in den Wald“ gibt es einen Waldspaziergang und eine Nachtwanderung mitzuerleben – Kindern soll vermittelt werden, wie aufregend es sein kann, Zeit im Wald zu verbringen. Entdeckt werden die Tiere, die im Wald leben, und die Geräusche, die aus dem Audiostift kommen, wirken ziemlich echt. Man kann den verschiedenen Vögeln beim Singen zuhören und auch gleich die passenden Kinderlieder zum Thema anhören, die erfreulicherweise ein Kind vorsingt. Auch über Laub- und Nadelbäume und die Waldarbeit wird Wissenswertes vermittelt. Um das Gelernte festigen zu können, gibt es zahlreiche Spielmöglichkeiten.

(c) Ravensburger

(c) Ravensburger

Das Buch „Entdecke die Eisenbahn“ ist ähnlich aufgebaut. Es zeigt den Kindern, was am Bahnhof los ist, wie der Lokführer den Zug steuert, wer den Zugverkehr kontrolliert und wo Züge gewartet werden – wiederum werden unglaublich detailliertes, kindgerechtes Sachwissen, Geschichten und Spiele geboten. Mit den abgebildeten DB-Bahnhöfen und ICEs ist dieser Titel stark deutschlandbezogen. Die tiptoi®-Bücher sind vielseitig und machen Spaß, und Kinder können sich nach der gelungenen Anleitung durch Erwachsene selbst damit beschäftigen. Und das sollen sie auch, die Anwesenheit mehrerer Personen ist absolut nicht notwendig, wäre sogar zu viel des Guten: Hier wird ständig gesprochen und erklärt. Obendrein sind die Erzählstimmen für Außenstehende mit der Zeit ohnehin mühsam mitzuhören. Es gibt übrigens die Möglichkeit, Kopfhörer an den tiptoi®-Stift anzustecken.

(c) Entdecke die Eisenbahn, Ravensburger

(c) Entdecke die Eisenbahn, Ravensburger

„tiptoi® – Der Stift“ kann über den Ravensburger Verlag bezogen werden.

„Wieso? Weshalb? Warum? Komm mit in den Wald“ ist im Ravensburger Verlag erschienen. 16 Seiten. Für Kinder ab 4 Jahren.

„Wieso? Weshalb? Warum? Entdecke die Eisenbahn“ ist im Ravensburger Verlag erschienen. 16 Seiten. Für Kinder ab 4 Jahren.

(c) Carlsen Verlag

(c) Carlsen Verlag

Bei der LeYo!-Reihe handelt es sich um eine Auswahl an Kinderbüchern aus dem Carlsen Verlag, die auch ohne zusätzliches Werkzeug angeschaut und gelesen werden können. Lädt man allerdings die Gratis-App auf Smartphone oder Tablet und hält man die Kamera über die Buchseiten, so wird eine zweite Folie der Seite auf dem Bildschirm eingeblendet. Man schaut ab diesem Zeitpunkt nicht mehr direkt ins Buch, sondern auf das Display. Anhand des Titels „Mein Atlas“ bin ich Sinn und Zweck von LeYo! nachgegangen. Das Buch ist ansprechend gestaltet: Auf großen, bunten Seiten sind die Kontinente mit ihren Sehenswürdigkeiten und Besonderheiten in Flora und Fauna dargestellt. Es gibt vieles zu entdecken, doch ohne Beschriftungen bleiben die Bilder inhaltsleer. Erst mit den Erklärungen, die man mittels Smartphone als Sprechorgan erhält, füllt sich die Welt mit Geschichten, Geräuschen, Musik, Erzählungen und sogar Spielen. Probleme gibt es einige, hier seien nur zwei davon genannt, die recht schnell auftreten können: Hält man etwa die Hand nicht still über ein Bild, spricht die Stimme in unsinnigen Zusammenhängen. Und sind die Lichtverhältnisse nicht optimal, funktioniert die Erkennung am Smartphone nicht. Es mag vielleicht ein gut gemeintes Konzept sein, doch eine große Frage, die jeder für sich selbst beantworten muss, bleibt: Möchte ich meinem Kind bereits mit 4 Jahren mein Smartphone in die Hand geben, nur damit ein Buch mit Inhalt gefüllt werden kann?

(c) Mein Atlas, Carlsen Verlag

(c) Mein Atlas, Carlsen Verlag

„Mein Atlas“ von Volker Präkelt und Yayo Kawamura ist im Carlsen Verlag erschienen. 16 Seiten. Für Kinder ab 4 Jahren.

Mein Fazit: Von den vorgestellten Produkten überzeugt mich am ehesten das Konzept von „Mein tierisch tolles Bildwörterbuch Englisch“ und die unterstützende Funktion der Native Speaker beim Sprachenlernen. Bei allen anderen Titeln, die hier Erwähnung fanden, sollte man die Intention der AutorInnen, Sachwissen auf vielfältige Weise zu vermitteln, loben. Die beiden Hörstifte überlässt man einem Kind mit Sicherheit lieber als das teure Smartphone oder Tablet, das bei Gebrauchsschwierigkeiten sogar gefährdet ist, von frustrierten Kindern in eine Ecke geschleudert zu werden. Ohne Frage sind die vorgestellten Produkte für Kinder äußerst attraktiv und gegen eine Benützung der Tools ist im Großen und Ganzen auch nichts einzuwenden. Man sollte den Kleinen allerdings früh klar machen, dass derartige Spielsituationen nicht mit der Technik des Lesens zu vergleichen sind – und dass das Lesen von Büchern nicht durch TING, tiptoi® oder LeYo! ersetzt werden kann. Ich möchte in diesem Zusammenhang kein ausführliches Plädoyer für das gute alte Buch halten, andererseits aber auch kein Geheimnis daraus machen, dass ich persönlich das „stumme“ Betrachten und Lesen von Büchern und die gemeinsamen Vorlesesituationen, in denen man ohne die Verwendung elektronischer Geräte auskommt, klar bevorzuge.

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