Gefundenes Fressen #5: Fragen zu Revolution und Innovation

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Hier schreiben Sonja Stummerer und Martin Hablesreiter über Essen als essentielles politisches und kulturelles Thema. Zum Fünften

Der deutsche Chemiker Justus von Liebig veränderte Europas Ernährung. Er entwickelt unter anderem den Kunstdünger und das Suppenextrakt und revolutionierte damit das bis dahin agrarisch geprägte Europa. Doch in seinem Umfeld entstand mehr als die ersten Schritte zur industriellen Nahrungsmittelproduktion. Seine Kollegen am für ihn gegründeten psychologischen Institut der Universität München begannen auch damit, die Nährstoffe selbst und deren Auswirkungen auf den menschlichen Körper zu erforschen. Theodor Bischoff, Carl Voit und Max von Pettenhofer versuchten ab 1857, den Stoffumsatz im menschlichen Körper zu quantifizieren. Vielleicht entwickelten sie damit so etwas wie die Frühform der heutigen Ernährungswissenschaften.

Am Vorabend der industriellen Revolution entdeckten diese Forscher unter anderem die Proteine und lösten damit eine Debatte über richtige oder falsche Ernährungsweisen für Europas Massen aus. So wurde zum Beispiel Fleisch zu wertvollsten Nahrung hochstilisiert und es entstanden erstmalig Nährstofftabellen, die die «richtige» Mischung an Proteinen (Eiweiss), Kohlehydraten, Früchten und Ähnlichem für Männer, Frauen und Kinder empfahlen. Die Auswahl des «täglich Brot» sollte bald keine individuelle, freie Entscheidung der Europäerinnen und Europäer mehr sein, sondern eine wissenschaftliche Empfehlung. Die Produktion, die Auswahl und der Verzehr von Essen wurden in ein gesellschaftlich verordnetes System eingegliedert.

Mitte des 19. Jahrhunderts begannen in Chicagos Fleischfabriken die ersten Fliessbänder der Welt zu rollen. In Europa sorgte Liebigs Kunstdünger für enorme Produktionssteigerungen in der Landwirtschaft, während Leute wie Henry Nestlé oder Julius Maggi die Verarbeitung von Nahrung industrialisierten. Faszinierend, dass zur selben Zeit Ernährungspläne und -empfehlungen für die arbeitenden Massen entstanden. Wissenschaft und Technik (Industrie) haben sich scheinbar ganz gut gegenseitig unter die Arme gegriffen.

Dass nach der 150-jährigen Uniformierung der westlichen Ernährung heute Marketing- und Innovationsleute von einer neuen Individualisierung des Marktes sprechen, nur weil «tailor made food» technisch möglich wird, klingt doch ein bisserl absurd. Auch 3D-Printer verarbeiten letztlich Industrieware. Eigens gemischtes «gesundes» «functional food» kommt immer noch vom Förderband. Von freien Konsumentenentscheidungen sind diese angeblichen Innovationen genauso weit entfernt wie vom Ritual des gemeinsamen Abendessens.


Über Gefundenes Fressen:

Jeder Bissen ist ein politischer Akt. Was wir wann wie und warum essen, kann unwürdige Arbeitbedingungen, Bodenerosion in Zentralafrika oder brennende Amazonasflächen auslösen. Die Frage des täglichen Essens hat nichts mit Diäten, Rezepten oder Gourmetkritiken zu tun sondern mit CO2 Emissionen, Fracking oder Gentechnologie. Jeder Biss ist Kultur. Jedes Schlucken ist Politik. Sonja Stummerer und Martin Hablesreiter wollen in ihrem Blog das Essen als essentielles politisches Thema in der Mitte der Gesellschaft positionieren, weil die Aufnahme der alltäglichen Kalorien nicht nur eine Frage von Genuss und Geschmack sondern auch der Lebenseinstellung und Denkweise einer Gesellschaft ist. Erst das Fressen, dann die Moral? Nein.

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