Unser tägliches Brot – Luxus oder Menschenrecht?

Maria Alejandra Morena, FIAN International, im Gespräch mit Elisa Ludwig. Bild: Christopher Glanzl

Maria Alejandra Morena, FIAN International, im Gespräch mit Elisa Ludwig.
Bild: Christopher Glanzl

Die internationale Menschenrechtsorganisation FIAN bringt alljährlich den „Right to Food and Nutrition Watch“ heraus. Projekt-Koordinatorin Maria Alejandra Morena im Interview.

Vor 69 Jahren, am 16. Oktober 1945, wurde die Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation (FAO) als Sonderorganisation der Vereinten Nationen (UN) gegründet. Ihre Kernaufgabe ist es nach wie vor, die Sicherstellung der weltweiten Ernährung zu gewährleisten. Im Jahr 1948 wurde außerdem das Recht auf Nahrung als Teil der Allgemeinen Deklaration der Menschenrechte festgelegt. Fast ein Dreiviertel-Jahrhundert später gibt es laut FAO-Statistiken immer noch 805 Millionen Menschen auf der Erde, die chronisch unterernährt sind. Die FAO-Statistiken besagen auch, dass die Welternte schon jetzt problemlos dafür ausreicht, 12 bis 14 Milliarden Menschen zu ernähren. Jeder einzelne Mensch auf dieser Welt könnte mit der heute zur Verfügung stehenden Nahrung täglich 2700 kcal zu sich nehmen. Unterernährung fordert aber immer noch 2,9 Millionen Kinderleben im Jahr.

Als internationale Menschenrechtsorganisation engagiert sich FIAN International seit 1986 für die weltweite Durchsetzung des Rechts auf Nahrung. Mittlerweile ist die NGO zu beachtlicher Größe herangewachsen, zählt Mitglieder und Sektionen in über 50 Staaten und besitzt Beraterstatus bei der UN. Anlässlich des Welternährungstages am 16. Oktober und ihrer Teilnahme an der VHS Wien-Veranstaltung „Genug für 9 Milliarden? Nahrung im 21. Jahrhundert“, traf ich Maria Alejandra Morena, Mitarbeiterin von FIAN International, zum Interview.

BIORAMA: Das Recht auf Nahrung ist Teil der Menschenrechtsdeklaration und des UN-Sozialpakts. Was aber bedeutet das eigentlich, Recht auf Nahrung?

Maria Alejandra Morena: Das Recht auf Nahrung ist ein universelles Menschenrecht, das bedeutet, dass alle Menschen mit diesem Recht geboren werden. Dieses Recht legt fest, dass alle Individuen und Gruppen Zugang zu ausreichender, adäquater und nährstoffreicher Nahrung haben müssen. Entweder direkt, durch den Zugang zu Ressourcen, um ihre eigene Nahrung zu produzieren, oder indirekt, durch adäquates Einkommen, um sich Lebensmittel kaufen zu können. Es ist wichtig zu betonen, dass es beim Recht auf Nahrung nicht um Wohltätigkeit geht. Es handelt vordergründig nicht davon, Menschen einfach nur Essen zu geben. Wenngleich dies unter bestimmten Umständen, wie zum Beispiel bei Naturkatastrophen, notwendig sein kann. Vielmehr geht es beim Recht auf Nahrung um die Bereitstellung der richtigen Rahmenbedingungen, damit Menschen sich selbstständig und in Würde ernähren können. Darüber hinaus geht ein Menschenrecht mit Verpflichtungen einher, die zu aller erst die Staaten betreffen. Es ist an ihnen, das Recht auf Nahrung zu achten, zu gewährleisten und zu schützen. Zusätzlich dürften Konzerne und andere mächtige Akteure das Recht auf Nahrung auch nicht straffrei verletzen.

Warum leiden heutzutage über 800 Millionen Menschen an Hunger, obwohl sie das Recht auf Nahrung hätten? Ist das Menschenrecht unwirksam?

Es ist wahr, dass Millionen von Menschen jeden Tag Hunger leiden. Wir können mit Bestimmtheit sagen, dass das Recht auf Nahrung weltweit systematisch verletzt wird. Öfter als jedes andere Menschenrecht. Das passiert, obwohl genug Nahrung produziert wird, um die Welt zu ernähren. Das ist der verstörendste Aspekt daran. Es geht also gar nicht um die Menge der Nahrung, die produziert wird und damit zur Verfügung stünde. Hunger ist das Ergebnis gegenwärtiger Machtverhältnisse, defekter Nahrungssysteme und Resultat unseres vorherrschenden industriellen Landwirtschaftsmodells. Dieses Modell ist marktabhängig, führt u.a. zu Enteignungen, Landkonzentration und marginalisiert beispielsweise Kleinbauern und andere kleine Produzenten, obwohl diese 80% der weltweiten Nahrung produzieren. Die Menschen sind nicht in jene Entscheidungen einbezogen, die auf den Zugang zu Ressourcen und damit auf ihre Leben Auswirkungen haben. Das sind einige der Schlüsselprobleme, die Hunger eklären. Das Recht auf Nahrung und die Menschenrechte hingegen sind maßgebliche Instrumente, um Hunger ein Ende zu bereiten.

Bild: Christopher Glanzl

Bild: Christopher Glanzl

Welche Rolle spielt die Weltpolitik?

Viele politische Maßnahmen werden durchgesetzt, ohne die verpflichtenden Menschenrechte zu berücksichtigen. Das bezeichnen wir als Maßnahmen-Inkohärenz. Obwohl die Menschenrechte Vorrang vor allen anderen Regelwerken haben, werden zum Beispiel in den Bereichen Handel und Ernährung Maßnahmen durch mächtige Akteure wie Staaten oder die G8 hinter verschlossenen Türen beschlossen. Ohne Partizipationsmöglichkeiten durch die Bevölkerung. Auch das erklärt, warum es Hunger auf der Welt gibt. Außerdem verfolgt man kaum einen ganzheitlichen politischen Ansatz, um Hunger zu bewältigen. Staaten bevorzugen leider einen Wohlfahrts-Ansatz. Das läuft darauf hinaus, dass sie nicht die Wurzel des Hungers beseitigen, sondern bloß an der Oberfläche kratzen. Ein Beispiel wäre die Nahrungsmittelhilfe. Im gleichen Atemzug aber befördern sie die vorher erwähnten Maßnahmen, die Hunger erst möglich machen. Es gibt also eine fatale Maßnahmen-Inkohärenz.

Was kann man dagegen machen?

Es ist wichtig, mit äußerster Dringlichkeit einen menschenrechtsbasierten Ansatz zu fordern, um Hunger entgegen treten zu können. Nur so kann u.a. der Zugang zu Ressourcen sichergestellt werden. Regierungen, Konzerne und andere mächtige Akteure müssen für ihre Handlungen verantwortlich gemacht werden können. Diese Rechenschaftspflicht ist ausschlaggebend für die Wirksamkeit der Menschenrechte. Doch der einzige Weg um das zu erreichen, ist soziale Mobilisierung. Damit meinen wir das Aktiv-Werden gesellschaftlicher Kräfte. Jedes Mal, wenn Fortschritte erzielt werden, gibt es Menschen im Hintergrund die auf verschiedenste Arten und Weisen dafür kämpfen. Es braucht sozialen Widerstand gegen die vorherrschenden Verhältnisse und eine aktive soziale Bewegung für die Forderung nach einem menschenrechtsbasierten Ansatz, um Hunger zu beenden. Diese Bewegungen gibt es schon, sie wachsen, aber sie müssen um die gesamte Gesellschaft erweitert werden. Um alle Rechteinhaber.

Wie passieren Verletzungen des Menschenrechts auf Nahrung in der Praxis? Wer sind die Verantwortlichen, wer die Betroffenen?

Das Recht auf Nahrung wird auf viele verschiedene Arten jeden Tag verletzt. Ein steigender Trend ist die Land- und Ressourcen-Enteignung. Landenteignung bedeutet, dass Kleinbauern, Landarbeiter oder Indigene von ihren Ländern und Territorien vertrieben werden, auch wenn sie seit Jahrunderten auf diesem Land gelebt haben. Sie sind die Betroffenen, da sie ihre Existenzgrundlage verlieren. Dadurch können sie sich selbst nicht mehr ernähren, was eine ganz klare Verletzung ihres Rechts auf Nahrung ist. Auf der anderen Seite stehen große Agrarkonzerne oder Finanzinverstoren, die sich das Land aneignen. Das wird durch Regierungen sehr oft gefördert. Die betroffenen Staaten hätten eigentlich die Verpflichtung, ihre Bevölkerung zu stärken und keinesfalls zu erlauben, dass dritte Parteien in das Recht der Menschen auf Nahrung oder in andere Menschenrechte eingreifen. Andere Akteure, die für derartige Menschenrechtsverletzungen mitverantwortlich sind, sind jene Staaten, in denen multinationale Konzerne ihre Hauptsitze haben. Das sind meist westliche Staaten, zunehmend aber auch Schwellenländer wie zum Beispiel China oder Indien. Menschenrechte sind keine ausschließlich nationale Verantwortung, die völkerrechtliche Pflicht der Staaten geht über die eigenen Landesgrenzen hinaus.

Bild: Christopher Glanzl

Bild: Christopher Glanzl

Die Veranstaltung bei der Sie vor kurzem in Wien vorgetragen haben, lautete „Genug für 9 Milliarden? Nahrung für das 21. Jahrhundert“. Können wir die kontinuierlich wachsende Weltbevölkerung überhaupt noch ernähren?

Mit der wachsenden Bevölkerung ändert sich auch das Konsumverhalten, was sich beispielsweise in einer größeren Nachfrage nach Fleisch und damit auch nach Futtermitteln für Nutztiere niederschlägt. Diese Nachfrage entsteht nicht von selbst, sondern auch aufgrund gezielter Marketingstrategien des Wirtschaftssektors, der zugleich politische Maßnahmen beeinflusst. Die Folge daraus ist die extreme Beanspruchung natürlicher Ressourcen und enorme Auswirkungen auf Menschen und Umwelt. Die Zahl der Hungernden wird nicht sinken, wenn wir im Rahmen des vorherrschenden Landwirtschaftsmodells so fortfahren. Soziale Bewegungen, Kleinbauern und andere kleine Produzenten weltweit rufen nach einem Modell, das sowohl auf nachhaltige Art und Weise die Welt ernährt, als auch das Recht auf Nahrung und Ernährungssouveränität sichern kann. Das könnte die agroökologische Landwirtschaft. Wir unterstützen dieses Modell, da sich auf Basis wissenschaftlicher Untersuchungen gezeigt hat, dass es der einzige Weg ist, um die ganze Welt nachhaltig zu ernähren. 2008 wurde diese Einschätzung auch durch den Bericht* des Umweltprogramms der UNO oder auch durch den damaligen Sonderberichterstatter für das Recht auf Nahrung immer wieder bestätigt.

Kurz umrissen: Worin unterscheidet sich das agroökoloigsche Landwirtschaftsmodell von unserem herkömmlichen Modell?

Im agroökologische Modell werden kleinere Produzenten und Familienbetriebe nicht länger diskriminiert. Sie rücken weiter in den Fokus, erhalten notwendige Unterstützung, Beratungen und werden in alle wirtschaftlichen wie politischen Maßnahmen miteinbezogen. Diesem Modell nach kann kleinen Nahrungsproduzenten nicht länger verboten werden, ihr traditionelles Wissen oder ihr eigenes Saatgut zu nützen. Sie müssen einen sicheren und gerechten Marktzugang haben und für ihre Produkte fair entlohnt werden. Im agroökologischen Modell wird außerdem ökologisch nachhaltig gewirtschaftet und die Artenvielfalt geschützt.

Welche Rolle spielt unser Fleischkonsum?

Tatsächlich steigt in den Entwicklungsländern die Produktion von Futtermitteln für Nutztiere als Folge der weltweiten Fleischnachfrage. Das hat massive Auswirkungen auf die Existenz von Hunger und auf die Ernährungssicherheit von Menschen im globalen Süden. Die Entwicklungsländer bestellen mehr und mehr Land für die Exportproduktion von Futtermitteln und von Biokraftstoffen, um die Nachfrage in Europa zu decken. Meist werden dafür Monokulturen angelegt. Den Ländern steht infolge dessen oft nicht mehr genügend Raum zur Verfügung, um ihre eigenen Märkte mit Nahrung zu versorgen. Das ist ein Problem. Der Sonderberichterstatter für das Recht auf Nahrung fordert die wohlhabenden Länder daher auf, ihre Nachfrage an die Entwicklungsländer nach Futtermittel für Nutztiere und Biokraftstoffe zu senken. Entwicklungsländer stecken in einem Kreislauf aus Abhängigkeiten, an dem wir beteiligt sind. Diese Länder müssen von der exportorientierten Landwirtschaft unabhängig werden, damit sie Felder haben, um für die Ernährung ihrer eigenen Bevölkerung zu sorgen. Das wäre Ernährungssouveränität, das heißt genau das anzupflanzen, was eigens gebraucht wird. Damit könnten die Entwicklungsländer den Kreislauf durchbrechen, weil sie auch von den Importen unabhängig werden würden, die bislang noch die fehlenden Felder ersetzen.

Bild: Christopher Glanzl

Bild: Christopher Glanzl

Hunger in der Welt mag für viele von uns als sehr weit entferntes Problem erscheinen. Was können wir als Einzelne in unserem Alltag unternehmen, um uns an einer Verbesserung dieses Problems zu beteiligen?

Es gibt viele verschiedene Handlungsmöglichkeiten. Das Problem ist jedenfalls gar nicht so weit entfernt, wie es scheint. Wir sollten nicht vergessen, dass Hunger auch in Europa, auch in unseren eigenen Ländern, ein Problem darstellt – wenngleich in einem anderen Ausmaß. Zudem ist Hunger auch das Ergebnis politischer Maßnahmen von Regierungen und Unternehmen der westlichen Staaten. Was wir also tun können ist uns über den Einfluss der Aktivitäten unserer Regierungen und Unternehmen zu informieren. Sie spielen eine wichtige Rolle im Erschaffen von Hunger in den Entwicklungsländern. Wir haben die Möglichkeit in unterschiedlichen Ausprägungen politisch aktiv zu werden, um unsere Regierungen und Unternehmen zur Verantwortung zu ziehen. Alltäglich haben wir daneben die Möglichkeit, unsere Konsumgewohnheiten zu hinterfragen und bewusster zu konsumieren. Wir können zum Beispiel den Verzehr von Fleisch und anderen Nahrungsmitteln limitieren. Wir können gemeinschaftsbasierte Nahrungsmittelproduktionen unterstützen. Wir können lokale, saisonale und biologische Nahrungsmittel kaufen. Organisationen wie FIAN bieten darüber hinaus auch immer wieder verschiedene Beteiligungsmöglichkeiten.

*International Assessment of Agricultural Knowledge, Science and Technology for Development (IAASTD)

Das Interview entstand im Rahmen des Diskussionsabends zum Thema „Genug für 9 Milliarden? Nahrung für das 21. Jahrhundert“ an der VHS Wiener Urania. Das Interview führte Elisa Ludwig. Ludwig, geboren 1986 in Rumänien, entschied sich im Alter von 14 Jahren kein Fleisch mehr zu essen und lebt nunmehr seit zehn Jahren vegan. Auf ihrem Blog veganlife.at schreibt sie aus der „veganen Perspektive“.

VERWANDTE ARTIKEL