Die Zukunft am Reißbrett

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Einen Tag im Jahr geht es um unsere Zukunft – als Gesellschaft, als Individuen, als Konsumenten. Experten aus Wissenschaft und Wirtschaft zerlegten am Future Day 2016 den Mythos Disruption, erklärten, wann wir Roboter sympathisch finden und diskutierten, ob wir von Muhammad Ali lernen können. Was bleibt sind achtsame Fragen, vor allem über das nachhaltige Leben. 

Wie wir über Zukunft denken, sagt viel über uns aus. Wie stellen wir uns morgen vor? Nicht die Termine nächste Woche, die Karriereplanung der nächsten Jahre, sondern den Zeitrahmen, den wir als Gesellschaft kaum greifen können. Was begleitet uns in zwanzig Jahren noch? Was wird nach uns sein? Das Zukunftsinstitut erforscht solche Megatrends, die die Gesellschaft langfristig transformieren. Die Prognosen greifen weit, wirken manchmal überheblich. Und sie können Angst machen, zumindest erzeugen sie Unwohlsein, wenn sie mit Veränderungen und Verlust einhergehen.

Um ungehindert dieser Angst über Megatrends nachzudenken, muss man erst den Branchen-Bullshit überwinden, so Harry Gatterer und Matthias Horx, Geschäftsführer bzw. Gründer des Zukunftsinstituts. Gemeint ist: die flachen Debatten über Digitalisierung, Globalisierung und Vernetzung hinter sich zu lassen. Achtsamkeit zu entwickeln, die richtigen Fragen zu stellen und den Blick zu weiten. Zu erkennen, dass Trends nicht ewig linear verlaufen, die Komplexität der Welt zu akzeptieren und Vertrauen in das lebendige System zu fassen. Wer die Zukunft als Einladung sieht, ist frei sich zu entwickeln.

Zu diesem Gedankenexperiment lädt das Zukunftsinstitut jährlich am Future Day eine Gruppe Interessierter mit dem nötigen Budget ein. Ablauf durchdacht, Organisation perfekt, Moderation humorvoll. Von der Morgenmeditation bis zum regional-veganen Buffet haben sich auch dieses Jahr Entscheider und Gestalter aus Wirtschaft und Wissenschaft einen fruchtbaren Zukunftsdialog gegeben. BIORAMA war vor Ort.

 

Gelassenheit, Resilienz und Grazie im Boxkampf

Die Linien der Zukunftsskizze sind unsere Annahmen. Max Rosner illustriert, welche Fakten über langfristige Trends unserer Wahrnehmung widersprechen. Dass die Einkommensungleichheit sinkt oder das Bildungsniveau sich global verbessert, während die meisten Menschen davon ausgehen, dass alles schlechter wird. Von gewaltigen Prognosen darf sich nicht entmachten lassen, wer gestalten will. Eine Einführung in positives Denken und mentale Kontrastierung von der Universitätsprofessorin Gabriele Oettingen soll helfen. Die unterhaltsame Aufforderung zur Gelassenheit vom Philosophen Wilhelm Schmid – inklusive Ermutigungen zu schlechten Gewohnheiten und gutem Sex – entspannt die Gedanken. Wer gestalten will braucht schließlich Freude, Kreativität und die Kraft aus der Ruhe.

Was wir noch lernen? Es braucht Ent-Fokussierung. Die in den letzten Jahren modisch verbreitete Konzentration auf Disruption (Anm. der Punkt der radikalen Veränderung) macht hysterisch und unbeweglich. Wer ein Damoklesschwert nicht-greifbarer, unverstehbarer Veränderung über sich fühlt, dem fällt das Vertrauen in die Zukunft schwer. Der Soziologe und Philosoph Harald Katzmair spinnt den Faden weiter: Um Resilienz geht es eigentlich, ganzheitliche Anpassung als Antwort auf das System, das einen umgibt. So wie Lebewesen in ihrer Umwelt mutieren können, so wie Muhammad Alis seinen Kampfstil anpassen, neu erfinden konnte. Laut Katzmair sind dafür die nötige Kombination von Grazie und Robustheit nötig. Die braucht es nämlich über den gesamten Veränderungszyklus hinweg, nicht nur am Disruptionspunkt. (Siehe auch – Interview mit Katzmair)

Vegane Wurst und androide Doppelgänger

Greifbarer werden diese Theorien durch einen Blick auf erfolgreiche Unternehmen. Die Rügenwalder Mühle, Synonym für deutsche Teewurst seit man denken kann, hat einen vegetarischen Geschäftszweig erdacht. Das Unternehmen gilt als Paradebeispiel erfolgreicher Resilienz, da es relevante Megatrends – die notwendige Massenproduktion von Lebensmitteln, die Sorge über den Klimawandel und das Bedürfnis entwickelter Gesellschaften nach gesunder Ernährung – akzeptiert und die richtigen Fragen gestellt. Soja-Weizen-Bratwurst statt „Fleisch-bringt’s“-Werbung war die Antwort, eine Entwicklung mit den Trends, statt verzweifeltes Dagegenhalten. Der Erfolg spricht für sich. Markus Stelzmann ist bei TELE Haase eine ähnlich erfolgreiche Transformationsgeschichte gelungen. Eine partizipative und flexible Struktur gibt Mitarbeitern ein wesentlich größeres Wirkungsfeld und fördert den Einzelnen.

Eine häufige Kernfrage für Unternehmen, die unter dem Hagel der Digitalisierungs-Buzzwords resilient sein wollen, ist der Umgang mit Technologie. Horx und geladene Experten für Robo-Nannys, Zukunftsdesign und Individualmedizin sind sich einig: Technologien, die uns als Menschen stärken und unterstützen, werden prosperieren. Versucht ein Programm, ein androider Doppelgänger oder sonst eine Technik allerdings, uns das abzunehmen, was unsere Menschlichkeit ausmacht, so schwächt sie uns trotz praktischer Lebenserleichterungen. Will heißen: Einklang mit dem eigenen Körper wird auch die beste App fürs Schritte zählen, Puls messen und Schlaf dokumentieren nicht bringen. Fürsorge für einen alten Menschen kann auch der intelligenteste Pflegeroboter nicht ersetzen. Dafür braucht es Menschlichkeit.

Es gibt viele Ansätze die helfen können, einen zukunftsfähigen Organismus zu entwickeln. Bewusstseinserweiterung durch Selbsterkenntnis, Lernen von unorthodoxen Vorbildern – Außenseiter, Gangster und Hacker bitte nicht ausnehmen!  – und sich die „Weisheit der Vielen“ erschließen. In einer Welt ständigen Wandels und allgegenwärtiger Informationen kommt es auf die Qualität der Fragen an, die gestellt werden. Was aus ihnen geschaffen werden kann hängt letztlich davon ab, wie Menschen „Zukunft“ am gedanklichen Reißbrett zeichnen und akzeptieren können.


Mehr über die Resilienz, die wir brauchen, um eine nachhaltige Gesellschaft zu werden im Interview mit Harald Katzmair.

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