Das Internet der Natur

Nicht Pflanze, nicht Tier: Pilze sind eine eigene Gruppe im Gefüge aller Lebewesen. Ohne sie und ihr Netz aus feinsten Wurzeln wäre unser Ökosystem nicht lebensfähig. Der amerikanische Mykologe Paul Stamets glaubt an eine Lösung von unten für einige der wichtigsten Anforderungen des 21. Jahrhunderts.

Das größte bekannte Lebewesen der Welt ist ein Hallimasch-Pilz, der seit 2.400 Jahren in der Erde des Malheur National Forest in Oregon wächst. Sein unterirdisches Geflecht erstreckt sich über neun km2, das entspricht der Fläche von etwa 1.200 Fußballfeldern. Gen-Analysen belegen, dass das Myzel zu ein- und demselben Pilz gehört. Gerade einmal 500 km nordwestlich davon, in Olympia, der Hauptstadt des Bundesstaates Washington, erforscht der Mykologe Paul Stamets seit mehr als 30 Jahren mit ansteckender Leidenschaft das Leben dieser Organismen. Er hält Myzelien für so etwas wie das neurologische Netzwerk des Planeten und nennt sie »das Internet der Natur«. Vier neue Pilzsorten hat er inzwischen entdeckt und über 20 Patente angemeldet: Neben Präparaten zur Speisepilz-Zucht und medizinischen Heilmitteln auch so visionäre Produkte wie das Sporen-Öl für Kettensägen, das beim Bäumefällen gleich den Waldboden mit Pilzsporen befruchtet oder die »Life Box«, ein Verpackungskarton, in dessen Wellpappe Baumsamen  und wachstumsfördernde Pilz-Myzelien eingeschlossen sind und der statt im Altpapier lieber unter einer Erdschicht im Blumentopf aufgehoben ist.

Entgiftung der Umwelt

Das, was wir gemeinhin als Pilze essen, ist nur die Frucht eines geheimnisvollen Organismus. Der eigentliche Pilz wächst unter der Erde und besteht aus einem Geflecht feiner wurzelähnlicher Fäden, dem Myzel. Dieses Verästelung breitet sich unterirdisch oft über weite Flächen aus, einige Arten werden über 100 Jahre alt. Das Myzel ernährt sich von abgestorbenen organischen Substanzen: Laub, Nadelstreu, Holz und Tierkadavern. Damit erfüllen Pilze eine wichtige Funktion: Sie recyceln das organische Material für den Kreislauf der Natur. Zur Wiederherstellung des weltweiten ökologischen Gleichgewichts propagiert Paul Stamets die Permakultur und ist der Auffassung, dass der Pilzanbau dabei ein bisher viel zu wenig genutzter Aspekt sei. Sein wichtigstes Anliegen ist der Einsatz von Pilzen zur biologischen Sanierung der Erde, z.B. bei der Beseitigung von chemischen Schadstoffen und dem Herausfiltern von biologischen Krankheitserregern durch Myzelien; diese Prozesse nennt Stamets »Mycoremediation« und »Mycofiltration«. In einer seiner Versuchsreihen hat er etwa gezeigt, dass der gemeine Austernseitling zur Beseitigung von Erdölabfällen fähig ist. Das Myzel dieses Pilzes baut nicht nur das Öl selbst ab, sondern produziert Enzyme, die auch dessen krebserregende Kohlenwasserstoff-Verbindungen zerstören. Neben Erdölprodukten können Pilze bei der Sanierung von Böden und Sedimenten eingesetzt werden, die mit Pestiziden, Alkaloiden, Quecksilber und sogar Kolibakterien verseucht sind. »Myzelien stehen in ständiger biomolekularer Kommunikation mit ihrem Ökosystem. Bei Giftvorkommen erzeugt das Myzelium eine Art Antibiotikum und überträgt dieses auf das gesamte Netzwerk«, schreibt Stamets in seinem Buch »Mycelium Running – How Mushrooms Can Help Save the World«. Darin sagt er eine große Entwicklung der Mykotechnologie und ihrer ökologischen Anwendung im 21. Jahrhundert voraus. Seine Vision: Verseuchte Böden werden durch Pilzmyzelien gereinigt und deren Anbau in großem Stil heilt nicht nur Krankheiten, sondern schützt die Menschheit auch vor Ansteckung. Durch eine Verbindung von Pilzzucht, Permakultur, ökologischer Forstwirtschaft, biologischer Sanierung und Verbesserung des Bodens beschreibt Stamets, wie Pilzfarmen weltweit als Zentren der Heilung aufgebaut werden können.

Heilpilzgärten

Tatsächlich nimmt der pharmakologische Anteil an Heilmitteln auf Pilzbasis in Nordamerika und Asien beständig zu. »Die riesigen unterirdischen Pilzgeflechte produzieren antibakterielle und antivirale Verbindungen, welche Pflanzen und Tiere im Ökosystem gesund erhalten«, erklärt Stamets. »Warum sollte also nicht auch der Mensch mehr davon profitieren, wie es in der Vergangenheit schon mit Penicillin und Antibiotika geschehen ist, die ebenfalls auf Pilzen basieren?« Als Wissenschaftler ist er bei der Erforschung der medizinischen Eigenschaften von Pilzen tätig und war an zwei erfolgreichen klinischen Studien zu Krebs- und HIV-Behandlungen mit Pilzen als Zusatztherapie beteiligt. Dabei wurde auch der Agaricon-Pilz getestet, eine äußerst alte und seltene Art, die in Europa bereits als ausgestorben gilt und nur mehr in den Sequoia-Urwäldern von Oregon, Washington und British-Columbia anzutreffen ist. Die Aktivität des Pilzes gegen Pocken- und Grippe-Erreger im Labor war so signifikant, dass der umtriebige Forscher die Produktion einer Serie von natürlichen Pilz-Extrakten zur Stärkung der Immunabwehr (»Host Defense«) startete. Menschen mit einem mangelhaften Immunsystem rät er überdies, sich ihren eigenen »medicinal mushroom garden« anzulegen.

In seinem Vortrag bei der »TedMed«-Konferenz letzten Herbst in San Diego wies Paul Stamets auf die große Bedeutung der mykologisch reichen Wälder des pazifischen Nordwestens hin. Sie könnten in Zukunft pharmakologisch ebenso wichtig werden wie das Amazonasgebiet. Die uralten Riesenbäume leben dort in einer derart engen Symbiose mit ihren Myzelien, dass pro cm3 Erdboden mehr als zehn Kilometer hauchdünne Pilzfäden enthalten sein können. Das Genom der Fungi im alten Wald sei entscheidend für die Medizin der Zukunft. Dieses »Hirn der Vegetation« zu erhalten, ist für den 57-Jährigen, der mit Vorliebe einen aus einem Riesen-Pilz gefilzten Hut trägt, ein zwingendes Anliegen, aber nicht nur für die Erde. Er denkt nämlich längst darüber nach, wie man mithilfe von Pilz-Myzelien die Entwicklung von organischem Leben auch auf anderen Planeten unterstützen könnte.

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