Passt „Ein ganzes Leben“ zwischen zwei Buchdeckel?

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Robert Seethaler und viele andere Autoren würden auf oben genannte Frage mit „Ja“ antworten. Und Robert Seethaler hat es mit seinem 2014 erschienenen Roman „Ein ganzes Leben“ auch anschaulich unter Beweis gestellt.

Andreas Egger kennt sein genaues Geburtsdatum nicht. 1902 kommt er als etwa vierjähriger Bub in ein nicht näher bezeichnetes Dorf und wächst am Hof von Hubert Kranzstocker auf. Seine Kindheit und Jugend sind geprägt von harter Arbeit und häufiger Züchtigung, die er stoisch erträgt. Durch eine schlecht verheilte Verletzung am Bein hinkt Egger, wie er im Text zumeist genannt wird. Aber: Er ist stark, stärker als so manch anderer und so stellt er sich als Achtzehnjähriger seinem Ziehvater in den Weg, der ihn mit einem knappen „Schleich dich jetzt“ ins Leben entlässt. Fortan lebt und arbeitet Egger für sich alleine, bis er auf Marie trifft. Schweigsam wie er selbst ist sie. Langsam tasten sich die beiden aneinander heran, bis es der Protagonist nicht länger aushält, Marie küsst und ihr einen einprägsamen Heiratsantrag macht. Das Paar lebt in einem einfachen Haus, abseits des Dorfes und so etwas wie ruhiges Glück stellt sich ein. Das ist jedoch nicht von Dauer: Egger verliert Marie und steht wieder alleine da. Er ist mittlerweile Arbeiter der Firma Bittermann & Söhne und verbringt seine Tage schwebend zwischen Himmel und Erde. Er verliert sein Gefühl für die Zeit und wo er schläft ist ihm egal. Er lebt und aus, er erträgt.

Robert Seethaler erzählt behutsam. Sein Stil ist klar und reduziert. Der deutsch-österreichische Schriftsteller lässt seine Figur durch ein einfaches Leben gehen, das Liebe und Leid kennt. Angst wiederum kennt der Protagonist kaum. Erstaunt über das, was um ihn herum und mit ihm passiert, lässt er dem Leben seinen Lauf. Egger geht in den Krieg und kehrt wieder daraus zurück. Er arbeitet weiter, er hinkt durch sein Leben. Fast erschrocken über das Vergehen der Zeit blickt er schlussendlich auf sein Dasein zurück und ist beinahe so etwas wie zufrieden:

Wie alle Menschen hatte auch er während seines Lebens Vorstellungen und Träume in sich getragen. Manches davon hatte er sich selbst erfüllt, manches war ihm geschenkt worden. Vieles war unerreichbar geblieben oder war ihm, kaum erreicht, wieder aus den Händen gerissen worden. Aber er war immer noch da. Und wenn er in den Tagen nach der ersten Schneeschmelze morgens über die taunasse Wiese vor seiner Hütte ging und sich auf einen der verstreuten Flachfelsen legte […], dann hatte er das Gefühl, dass vieles doch gar nicht so schlecht gelaufen war.

Das Ende des Textes gliedert sich wie der Anfang in einen ruhigen Verlauf. So ist es passiert, so und nicht anders.

Robert Seethaler: Ein ganzes Leben
Roman
Hanser Berlin
ISBN 978-3-446-24645-4

www.hanser-literaturverlage.de

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